Stages of Crisis - HAU Hebbel am Ufer
Verwoben ins laute Weltgewühle
von Esther Boldt
Berlin / online, 14. Mai 2021. Ganz kurz scheint alles gut zu werden. Da sind die Tänzer:innen in Outfits mit Leopardenprints geschlüpft, haben sich auf der waldgrünen Bühne in Vogelartige, in Krabbeltiere, Tippelwesen und Gehörnte verwandelt. Da ist der Mensch wieder ganz zum Tier geworden, sich einfügend in den Lauf der Natur, oder gar: sich hingebend. Doch dann kommt ein Tänzer in gelber Hose daher und knallt gemächlich alle ab, "Bäng!" sagt er, deutet mit dem Zeigefinger, und die Wesenartigen sinken nieder. Eines ums andere.
Krise als komplexer Dauerzustand
"Stages of Crisis", das auf der digitalen Bühne HAU4 des Berliner Hebbel am Ufer Premiere hatte, ist eine Bühnenversion von Forest: The Nature of Crisis. Hier luden Constanza Macras und ihr Tänzer:innen 2013 das Publikum zu einem Spaziergang in den Müggelwald, der die Untiefen zwischen Märchenhaftem und Kapitalistischem auslotete. "Stages of Crisis" sollte bereits im Mai 2020 Premiere haben und wurde, wie so vieles, verschoben. Jetzt aber kommen Mär und Kapital, kommen Wald und Krise auf die (virtuelle) Bühne, in aller Doppeldeutigkeit: Lässt sich das englische "stages" doch auch mit "Phasen" übersetzen, womit hier entweder "Phasen der Krise" verhandelt werden oder aber der Krise Bühnen bereitet.
Märchenhafte Krisenstimmung © Thomas Aurin
Macras und ihre Tänzer:innen durchstreifen die Bühnen des Zeitgeistes, launig, kritisch und bildstark, elegisch und engagiert. 'Krise' ist hier längst nicht mehr eine vorübergehende Zeit der Gefährdung, des Gefährdetseins, sondern vielmehr ein komplexer Dauerzustand. Ein Dauerzustand, in dem Ökologie, Kapitalismus und Menschsein an ihre Grenzen geraten, und in dem Pandemie, Klimawandel, Artensterben und digitale Revolution zusammenkommen. So weit die philosophischen Analysen von u.a. Donna Haraway und Rosi Braidotti. Bei Macras kommt auch noch die Krise des Theaters hinzu, dieser archaischen, altertümlichen Form der Zusammenkunft, deren hochkultureller Anspruch dank einer Institution namens "theatre meeting" aka Theatertreffen leidlich am Leben gehalten wird.
Eine Arche, die zur Titanic werden kann
"Hong Kong Supermarket" steht über dem leeren, verlassenen Ladenlokal auf der Bühne des HAU1. Darin: zwei weitgehend leere Getränkekühlschränke, leere Coca Cola-Kisten, gelbe Schalensitze. Zugleich Relikt des Konsums und Wartesaal, mitten im Wald, wie eine Tänzerin später erzählen wird. Eine Arche, die zur Titanic werden kann. Und, natürlich: eine Bühne. Auf, in und um diese Bühne tippen die Tänzer:innen von Dorky Park elegant die Diskurse und Debatten an, die unsere Gegenwart prägen. Im lauten Weltgewühle werfen sie sich in spielerische Kämpfe und in kämpferische Tänze, sie erklären, wie man mithilfe von Social Media Nudelmarken viral gehen lässt, wieviel Energie Streaming in der Sahel-Zone frisst, und sie singen 1980er/90er-Jahre-Hits von Cher, Sade und Massive Attack: Abgesänge auf die gute alte Zeit, die weniger Komplexität zu bergen schien und mehr Vergnügen.
Tippen Diskurse und Debatten an: die Tänzer:innen und Co-Kreateur:innen von Constanza Macras © Thomas Aurin
Seitenhiebe über den Theaterbetrieb, vom just gestarteten Berliner Theatertreffen bis zu Nachhaltigkeits-Debatten und Jérôme-Bel-Persiflage dürfen auch nicht fehlen (der französische Choreograph verkündete 2019, fortan auf Flugreisen zu verzichten, um seinen CO2-Abdruck zu reduzieren – was ihm innerhalb der Tanz- und Theaterszene auch den Vorwurf einbrachte, von einer sehr privilegierten Position aus zu handeln).
Elegant verweben Macras und die Tänzer:innen die diskursiven Minenfelder der Gegenwart, zitieren aber auch kapitalistische Gespenster der Vergangenheit herbei wie Grimm‘sche Märchen oder das Rheingold. Das ist vergnüglich, klug, interessant und sieht meist auch noch sehr gut aus. Einziger Haken: Irritierend oder gar verstörend ist dieser Trip durch die monströse, unbegreifliche Verfasstheit der Gegenwart nicht. Viel zu vertraut scheint er, viel zu verständlich. Denkt die Autorin, während Tracey Thorn zu schleppenden, schleifenden Trip-Hop-Beats "Protection" säuselt.
Stages of Crisis
von Constanza Macras | Dorky Park
Konzept, Text und Choreographie: Constanza Macras, Dramaturgie: Carmen Mehnert, Live-Musik von und mit: Kristina Lösche-Löwensen, Almut Lustig, Bühne: Nina Peller, Licht: Sergio de Carvalho Pessanha, Ton: Stephan Wöhrmann, Kostüme: Constanza Macras.
Von und mit: Candaş Bas, Alexandra Bódi, Emil Bordás, Chia-Ying Chiang, Rob Fordeyn, Yuya Fujinami, Johanna Lemke, Sonya Levin, Thulani Lord Mgidi, Miki Shoji .
Premiere am 14. Mai 2021
Dauer: 1 Stunden 30 Minuten, keine Pause
www.hebbel-am-ufer.de
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Der kurze Abend zerfasert, es geht um alles und nichts, die tänzerische Energie und Leidenschaft, die Macras-Abende wie zuletzt „The West“ kurz vor dem ersten Lockdown an der Volksbühne auszeichnen, lassen sich in dieser Live-Stream-Choreographie nicht transportieren.
Komplette Kritik: daskulturblog.com/2021/05/15/stages-of-crisis-constanza-macras-kritik/