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Sind wir nicht alle ein bisschen NK?

von Sophie Diesselhorst

Berlin, 24. Juni 2011. Seit wann gibt es eigentlich diese "I love Neukölln"-T-Shirts? Also: Neukölln = "NK"? Das große Herz, das man als New Köllner für so unterschiedliche Menschen, Tiere und Sensationen wie sonnenbebrillte Kreatoren, Mütter, die nur noch Babysprache können, und vermuskelte Halbstarke/Kampfhunde hat, kann man auf jeden Fall mittels so eines T-Shirts nach außen in die Welt schlagen lassen.

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Felicia Zeller, die als Theaterautorin bekannt geworden ist, ist mittlerweile eine Art Alt-Neuköllnerin. Vor fast drei Jahren ist ihr Prosaband "Einsam lehnen am Bekannten" herausgekommen. Sie lässt das Leben (in Neukölln) darin so an sich vorbei passieren und füttert ihre Beobachtungen mit abgründigem Sprachwitz.

© Marcus Ebener
© Marcus Ebener

Mit der Klischeefeile

Regina Gyr hat im Neuköllner Heimathafen aus einer Auswahl dieser Texte einen "performativen Großstadt Tingel Tangel" gemacht. In glänzenden Ganzkörperradlerhosen hechten die Spieler aufgeregt über die Bühne, tauschen virtuos alle halbe Minute die Rollen und erweisen Zellers situationskomischen Texten als Humus für den Großstadt-Mythos alle Ehre, indem sie sie abwechselnd vortragen und performen. Das Publikum sitzt drumherum wie um eine Zirkusmanege.

Gyr hat die Klischeefeile von Zeller übernommen und geschmackssicher ein paar schrille Figuren aus der Prosa herausemanzipiert. Während die einen versuchen, Kunst aus Matratzen zu brüten, schütteln die anderen beim Joggen die liebestolle Jugend ab oder sitzen in der Kneipe "mit den ganzen 40- bis 60-Jährigen, die irgendwann als angehende Künstler nach Neukölln gekommen sind und jetzt nach dem zehnten Bier denken, sie seien Revolutionäre" – wenigstens, so Zeller ganz pragmatisch, hätten sie ja dann eine Fahne, die sie auf dem Nachhauseweg durch die Straßen tragen könnten.

Jetzt neu: Seifenblasen pupsen

In den stummen Rollen: die Kopftuchfrau, die dafür mit Petersiliensträußen jonglieren darf, die Halbstarken, die dafür besondern schöne Muskelarm-Attrappen tragen dürfen und der Hund, der dafür Seifenblasen pupsen darf. Und spätestens, wenn die Damen des Turn- und Sportvereins Neukölln die Fahnen der Kneipenrevolutionäre rhythmisch-sportgymnastisch schwenken, hat sie den Raum erobert, die rhetorische Frage: Sind wir nicht alle ein bisschen NK? Ob wir wollen oder nicht?

 

Einsam lehnen am Bekannten
Ein performativer Großstadt Tingel Tangel nach Prosa Texten von Felicia Zeller
Regie: Regina Gyr, Produktionsleitung: Katharina Siemann, Bühne und Objekte: Katrin Connan, Kostüm und Objekte: Muriel Nestler, Figuren und Objekte: Alexander Szallies, Ton: Robert Fuhrmann und Jack Rath, Licht: Christian Gierden.
Mit: David Bredin, Grégoire Gros, Regina Gyr, Luzia Schelling, Britta Steffenhagen, Alexander Szallies und Mitgliedern des TuS Neukölln

www.heimathafen-neukoelln.de

 

Mehr zum Heimathafen Neukölln? Hier geht's zu einem Blogeintrag zu Arab Queen & Thilo Sarrazin, zu einer Nachtkritik über Arab Queen und zu einem Hausporträt.

 

Kritikenrundschau

In der Berliner Morgenpost (27.6.2011) schreibt Anne Peter darüber, wie Regina Gyr Felicia Zellers "virtuos-witzigen Prosa-Stückchen" zur "kunterbunten Uraufführung" gebracht hat, die für sie zu den "vielen sympathischen Image-Aufpäppelungsaktionen" gehört, mit denen der Heimathafen "den berüchtigten Stadtteil aufmischt". Man sehe "aufs Grellste überzeichnete Klischee-Figuren" und Schauspieler, die zwischen den gesprochenen Texten "eine Menge Zusatz-Schabernack" trieben; obendrein habe Gyr "ein paar requisitorisch hinreißende Ideen". An lustigen Einfällen sei in dieser "Zirkus-Revue" also kein Mangel, nur blieben Zellers Texte leider "in ihrem kunstvollen Sprachwitz und ihrer Musikalität nicht zuletzt ob der suboptimalen Akustik des Öfteren auf der Strecke".

Dass manchmal Kasperlepuppen mitspielen und auf der Empore die Szenen wiederholen, die eben unten liefen, sei "ein schönes Mittel, um die Verkürzung und Verknappung der Skizzenstriche, mit denen hier Milieus und Kleinstbiotope von Trinkern und Künstlern gezeichnet werden, noch einmal zu potenzieren", schreibt Katrin Bettina Müller (taz, 29.6.2011). Denn darum gehe es, "das Signifikante des Lebens rund um die Hasenheide auf möglichst kurzer Strecke herauszupräparieren, ohne dabei nur ein Klischee zu produzieren". Die Regisseurin und ihr Ensemble versuchten, einen "zusätzlichen Dreh reinzubringen - durch den Modus des Sprechens, etwa durchs Mikrofon, als ob es um die Ankündigung einer sensationellen Zirkusnummer gehe, obwohl doch nur von sehr kleinen und banalen Dingen die Rede ist". Aber das funktioniere nicht immer, "teils ist die Akustik so schlecht, das viel Textverständlichkeit verloren geht, teils rutscht das aus leicht abgedrehter Perspektive Gesehene zurück ins Klischee: Die Prolls und Billigkäufer stehen dann vor uns wie schon seit Jahrzehnten gesehen." Und "warum muss hier nur alles so lustig sein", fragt die Kritikerin, "und dann erwischt sie einen doch, die Albernheit, und man ergibt sich ihr. Anders kommt man hier nicht durch."

Felicia Zeller kenne sich aus, nicht nur mit Neukölln, sondern vor allem mit Menschen, findet Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (30.6.2011). Regina Gyr habe "ein Panoptikum über den Artgenossen entworfen, keineswegs ausschließlich in seiner Neuköllner Machart. Der Zuschauer darf sich entsprechend als Menschenzoobesucher fühlen, er sitzt im Quadrat um die Vorspielfläche." Die sechs Darsteller "ziehen sich sich viel um, treten beherzt auf die Situationskomikspaßtube, überzeichnen und verzerren. Nie soll man auf die Idee kommen, man habe es mit naturalistischer Abschilderung zu tun. In einer Lidl-Tüte wird Kopfstand gemacht, aus den Boxen wird ein Spuck-Konzert eingespielt." Der hektische Szenensport dieses Abends aber raube den Texten ihren zart-garstigen, komisch-grotesken Biss, "als würden die Prosateile spazieren geführt, als würden sie wie Sammeltassen in die Inszenierungsvitrine gestellt. Sie sehen plötzlich wie bloße Glossenschnörkel aus. Wie Neukölln-Ausstellungstheaterware."

Kommentare  
Einsam lehnen, Berlin: zu kurz gegriffen
Felicia Zeller ist eine tolle Autorin. Ihre Texte, ob dramatisch oder Prosa, auf die Bühne zu bringen erweist sich immer wieder als schwierige Regieaufgabe. Der gestrige Abend hatte ein paar treffende Momente, in denen Zellersche Beobachtung und Gyrsche Umsetzung aufs feinste korrespondieren. Das "Weissbieropfer" oder die "Muskelgrunzer" schaffen die notwendige Überhöhung, die den Vorgang erst deutlich zeichnet. Ansonsten viel planloses Herumlaufen (ok, auch eine Metapher für NK), die Hälfte des Textes wird durch am Rand der Bühne Standmikrofone vorgetragen, alles hat ein Tempo, die Darstellung schwankt zwischen Performancepantomime und kreuzbraver Deklamation, lustig wirds, wenn der Hund Seifenblasen furzt. Schade. Wer Kaspar Häuser Meer in der Inszenierung von Marcus Lobbes am Gorki gesehen hat, weiss wie man die Zellerschen Textgebirge bezwingt - Illustrative Bebilderung greift zu kurz und ist gleichzeitig schon viel zu viel. Die Sprache ist doch der Kern - die Getriebenheit und Skurrilität jeder einzelnen Figur liegt schon in der Beschreibung selbst, der Schauspieler macht den Kopf des Betrachters auf, indem er die Sprache behandelt - Zeller ist Sprechoper.
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