Blood Moon Blues - Maxim Gorki Theater Berlin
Ich bin eine verfluchte Sinkhöhle!
21. November 2022. Von Regisseurin Yael Ronen gibt’s nicht nur eindringliche politische Stückentwicklungen, sondern auch lupenreine Well-made-Plays und Boulevard. Gemeinsam mit Co-Autorin Orit Nahmias zeigt sie jetzt am Gorki Theater ein hipstereskes Konversationsstück über eine schreckliche Mutter auf Selbstfindungstrip.
Von Christian Rakow
21. November 2022. In der nachtkritik-Redaktion hatten wir gerade letzte Woche eine schöne Diskussion: Wie viel dürfen wir in Rezensionen von der Handlung eines Stückes verraten? Oder auch von pfiffigen Wendungen einer Inszenierung? Ist "spoilern" in Theaterkritiken erlaubt? (In Game-Zeitschriften wäre es wohl ein Kündigungsgrund…)
Offenbarungen
Der Anlass solcher Diskussionen ist natürlich freudig. Wir stoßen auf den Bühnen wieder vermehrt auf Stücke, die ihr Publikum mit Spannung bei der Stange halten wollen, die auf Geheimnisse setzen und auf Plot-Twists. Zumal im Maxim Gorki Theater, wo Autorinnen wie Nora Abdel-Maksoud (zuletzt mit Rabatt) dramatische Finessen pflegen.
Und so komme ich also wieder aus dem Gorki, aus dem von Orit Nahmias gemeinsam mit Regisseurin Yael Ronen verfassten "Blood Moon Blues", und schon geht es los: Soll ich ausplaudern, was die Hauptfigur Ellinor, eine Schriftstellerin um die 50, etwa auf Hälfte des Stückes auf den Tisch packt? Gerade hat sie ihre Tochter Luna (Medizinstudentin) und ihre Lebenspartnerin Gabriella (zugleich ihre Psychotherapeutin) in der israelischen Wüste empfangen; ihr neuer Lover oder "Soulmate" Greg ist auch zugegen. Ellinor sucht in der steinigen Abgeschiedenheit die Meditation (Ashram) und schreibt auch an einem neuen Buch. Und nun, da alle Lieben eingetroffen sind, offenbart sie ihnen …, na lassen wir das.
Gebremste Konservationskunst
Es wäre auch unfair, weil außer einer gewissen Plotspannung an diesem Abend nicht gar so viel dran ist. Eine gute Weile schauen wir anfangs – ganz auf Komödie gepolt – der genervten Reisegesellschaft um die dauernd gereizte Luna (Aysima Ergün) und die dominant stiefmütterliche Gabriella (Vidina Popov) zu. Greg (Doğa Gürer) sammelt die beiden unterwegs ein und besticht mit launiger Jungs-Naivität und extraheißem Look im Kimono, der nur knapp unterhalb der Lenden endet.
Ein boulevardeskes Ein-Wort-gibt-das-andere-Spiel hebt an, souverän selbstironisch, ein bisschen hipsteresk ("Wir machen alle digital detox"), ein bisschen keck (Greg: "Haben wir was vergessen?" – Luna: "Eine Hose vielleicht?"). Aber im Ganzen fällt die Konversationskunst doch deutlich gebremster und schaler aus, als man es von Ronen und Nahmias (die ja oft zusammenarbeiten, wenn auch hier erstmals als ausgewiesenes Autorinnen-Duo) gewohnt ist.
Digital blüht die Wüste
Und dann sind alle in der Wüste. Mutter Ellinor (Orit Nahmias höchstselbst) hat Überraschungen parat und anschließend wendet sich das dramaturgische Blatt und wir bekommen noch eine gute halbe Stunde Schlaglichter aus dem Vorleben der Figuren: mit Mutter und Tochter im Zentrum. Sie tippen kurz an, wie Luna im breiten Schatten dieser durch und durch narzisstischen, an einer bipolaren Störung laborierenden Persönlichkeit Ellinors aufwuchs. Der Humor weicht aus den Gesprächen, der Grundton wird sentimentaler. Aber man kriegt den Eindruck nicht weg, dass es sich hier allenfalls um Skizzen für ein zu vertiefendes Konversationsstück handelt, dass dieses Drama eigentlich noch seiner Ausarbeitung harrt.
Optisch fahren Yael Ronen und Bühnenbildner Wolfgang Menardi mächtig auf. Sieht fast aus wie bei Susanne Kennedy/Markus Selg: mit einem New-Age-Setting voller Videos, in denen digitale Zeichnungen von Eulen und Adlern vor dem titelgebenden Blutmond (Blood Moon) hereinflattern. Die Landschaft der Wüste ist geprägt von "Sinkhöhlen", erfahren wir: Das sind plötzliche Abgründe, die sich unter der Oberfläche auftun. Gefährliches Terrain. "Ich bin eine verfluchte Sinkhöhle", schleudert Ellinor einmal ihrem Lover Greg entgegen. Aber um diese Wahrheit einzulösen, müsste schon noch ein gutes Stück weiter unter der Oberfläche gebohrt werden.
Blood Moon Blues
von Yael Ronen und Orit Nahmias
Regie: Yael Ronen, Bühne: Wolfgang Menardi, Kostüme: Amit Epstein, Musik: Yaniv Fridel, Ofer Shabi, Video: Stefano di Buduo, Dramaturgie: Yunus Ersoy, Irina Szodruch, Licht: Arndt Sellentin.
Mit: Aysima Ergün, Doğa Gürer, Orit Nahmias, Vidina Popov.
Premiere am 20. November 2022
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.gorki.de
Mehr dazu: Im Rahmen der Video-Gesprächsreihe Streitfall Drama sprachen wir mit Yael Ronen über ihr Werk.
Kritikenrundschau
"So bissig und auf den Punkt wie einige von Ronens früheren Arbeiten am Gorki ist 'Blood Moon Blues' nicht", schreibt Fabian Wallmeier bei rbb24 (21.11.2022). "Vor allem in der letzten halben Stunde nimmt er sich und sein Thema zu ernst. Da kommt es zu tiefsinnig gemeinten Aussprachen und er droht mehrfach ins allzu Gefühlige, in tränengetränkte Plattitüden abzufallen. Zwar kommt dann meist doch noch eine gut gesetzte rettende Punchline zur Abkühlung, aber eben nicht immer."
"Yael Ronen weiß, was sie tut", schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (21.11.2022), und zwar: "Sie spannt eine Grundsituation auf, entwickelt in diesem Fall zwölf knappe Szenen, mit denen sie, an den Leitplanken des neurotischen Boulevards entlangschrammend, angstlustig und dynamisch in den Abgrund der menschlichen Tragödie steuert." Das erinnere an die unerschrockenen Seelengrabungen von Strindberg – "nur mit einem sichereren Gespür für den Trost von Klischees und Ironie, mit denen sie das Gleichgewicht zwischen Zugewandtheit und Distanz zu den Figuren hält", so Seidler. "Die Screwball-Pointen sitzen, aber umso besser knallen auch die Absturzmomente der Rührung, die von den vier Schauspielern aus dem Stand gesprungen werden."
"Eigentlich macht der Autorin und Regisseurin Yael Ronen in dieser Disziplin niemand etwas vor: Stereotype als Startrampe zu nutzen, um sich dann mit scharfem Witz in jene Abgründe vorzuarbeiten, in denen die Widersprüche, blinden Flecken und Schmerzpunkte lauern. Und auch Orit Nahmias hat - als Schauspielerin - diese Fähigkeit in unzähligen Ronen-Abenden bewiesen", schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (21.11.2022). Jedoch: Der Abend plätschere von einem kurz angetippten Thema zum nächsten, von einem angerissenen Dialog zu anderen. Vieles bleibe erstaunlich hartnäckig im Klischee stecken.
Das als Screwball-Komödie angelegte Stück versande alsbald in den Sinkhöhlen der melodramatischen Befindlichkeitsdramatik. "Recht viel mehr als die boulevardeske Porträt-Skizze einer aufgrund ihrer Krankheit egomanischen, schwer manipulativen Frau und Mutter gibt dieses Stück dann doch nicht her", schreibt Christine Dössel von der Süddeutschen Zeitung (22.11.2022).
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Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2022/11/20/blood-moon-blues-yael-ronen-gorki-kritik/