Der Kirschgarten – Nurkan Erpulat liest in seiner Eröffnungsinszenierung am Berliner Maxim Gorki Theater Tschechow mit Migrationshintergrund
Die Untergangsgesellschaft
von Sophie Diesselhorst
Berlin, 15. November 2013. Für einen kurzen Moment wirkt es so, als werde hier doch an ein Wir geglaubt, also dieses völlig utopische Theater-Wir, das Bühne und Saal vereint. Im "Kirschgarten"-Text passiert gerade einer dieser Tschechow-Momente, wo jemand in den dunklen Garten guckt und Geister sieht. Bei Nurkan Erpulat ergreift es die ganze Gruppe, alle schauen versonnen ins Leere und fangen gleichzeitig an zu reden. Sie sagen Dinge wie "Meine Heimat", "meine Liebe". Das Saallicht wird ein bisschen nach oben gedimmt; fast scheint es, als sei das Publikum dazu aufgefordert, einzustimmen.
Nicht, dass das ein besonders kunstvoller Moment wäre. Trotzdem hebt er sich wohltuend ab vom Großteil dieses Abends, der daherkommt wie so ein "mission statement" eines großen Unternehmens, wo sich die Floskelmacher austoben dürfen. Wo es um "branding" geht, also darum, eine Marke zu stärken. Der "Kirschgarten" wird, nur leicht gekürzt, vom Anfang bis zum Ende durchgespielt. Bühnenbild und Kostüme sind Boulevard, einmal durch die Trashtonne gezogen. Zwei kleine Exkurse entführen in die Lebensgeschichten zweier Darsteller (ja, das sind Menschen, die auch Geschichten zu erzählen hätten, vielleicht sogar interessantere als diese bescheuerten Tschechow-Langweiler!).
Tschechow nennt das Stück ja eine Komödie, also wird ein Gagfeuerwerk gezündet, und wenn einer richtig gut funktioniert – wie: Anja küsst Trofimov, und der redet einfach weiter in ihren an ihm herumschnabelnden Mund hinein –, dann wird er auch mal wiederholt.
Machtwechsel statt Paradigmenwechsel
Alle Figuren bis auf Gajew (Falilou Seck) und Warja (Sesede Terziyan) bleiben Hülsen. Die Inszenierung interessiert sich auch keinen Deut für sie. Erpulats Deutung des Tschechow-Stoffs wird von Lopachin (Taner Şahintürk) zusammengefasst, nachdem er, der Emporkömmling, das Gut der Ranjewskaja bei der Zwangsversteigerung erworben hat. Da schraubt er sich in einen wütenden von Tschechow startenden, bei Deutschlands Umgang mit seinen (türkischen) Gastarbeitern landenden Monolog hinein, dessen Essenz ist: Eine Gesellschaft, die das Fremde so ausklammert wie die Familie der Ranjewskaja, eine Gesellschaft, deren Identität gestiftet wird von einem Kirschgarten, dessen Kirschen sie schon lange nicht mehr erntet, solch eine Gesellschaft wird zugrunde gehen.
Allein: Der Dialog, der vorher nicht möglich war – sie haben ihm, der versucht hat ihnen guten Rat zu geben, nicht zugehört, ihn nicht ernstgenommen – ist auch jetzt nicht möglich. Es hat kein Paradigmen-, sondern lediglich ein Machtwechsel stattgefunden. Jetzt ist Lopachin derjenige, der bestimmt über den Kirschgarten und auch darüber, welche Musik gespielt wird. Und die laute, orientalische Musik, die seine Musiker machen (vorher ist vorwiegend Chopin geklimpert worden), übertönt dann für ein paar Minuten alles, was auf der Bühne gesprochen wird.
Kuss der Vergebung
Bis dahin hatte die Deutungshoheit bei Ranjewskajas Bruder Gajew gelegen, bei Tschechow der Trottel vom Dienst. Hier wird er von einem Haufen gackernder Frauenfiguren übertrieben ernst genommen – als Chefideologe der Dekadenz schenkt Falilou Seck ihm tatsächlich eine gewisse Würde, was dann auch wieder paradox ist.
Die schönste Szene des Abends passiert gegen Ende und fällt in ihrer Innigkeit total raus. Wie Sesede Terziyan als Warja ihre letzte Chance auf einen Heiratsantrag des gefühlsverwirrten Lopachin verpasst und ihm dann einen äußerst souveränen Kuss der Vergebung aufdrückt, das ist herzzerreißend und weist ganz weit über das hinaus, was dieser Abend ansonsten ist: eine erstarrte Protestpose.
Der Kirschgarten
Eine Komödie von Anton Tschechow
Deutsch von Angela Schanelec nach einer Übersetzung von Arina Nestieva
Regie: Nurkan Erpulat, Bühne: Magda Willi, Kostüme: Ulrike Gutbrod, Musik: Sinem Altan / Tobias Schwencke, Licht: Norman Plathe, Dramaturgie: Daniel Richter.
Mit: Tamer Arslan, Mareike Beykirch, Çetin İpekkaya, Marleen Lohse, Ruth Reinecke, Taner Şahintürk, Falilou Seck, Aram Tafreshian, Sesede Terziyan, Mehmet Yılmaz, Fatma Souad, Özgür Ersoy, Sinem Altan.
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause
www.gorki.de
Mehr lesen? Hier der Bericht von der Pressekonferenz, auf der das neue Leitungsteam des Maxim Gorki Theaters um Shermin Langhoff und Jens Hillje seine Pläne präsentierte.
Einen "Migrantenstadl", lustiges "Boulevard mit 'postmigrantischen' Schauspielern" hat Eberhard Spreng beim "Kirschgarten" erlebt. Er schreibt auf der Website des Deutschlandfunks (17.11.2013): An einer detaillierteren Figurenzeichnung habe Erpulat kein Interesse, ihm gehe es um "grelle Kulturkontraste". Erpulat habe es nicht mit "den soziokulturellen Details" sondern eher mit dem "grellkomischen Kampf der Kulturen". Die interessanteste Figur sei Lopachin, hier der aufgestiegene Vertreter eines neuen türkischen Bürgertums in einem müden Deutschland. In der Verkörperung durch Taner Þahintürk sei eine gebrochene Figur zu erkennen, die wenig Spaß am Erfolg zu haben scheint.
"Was ist das überhaupt, Heimat, Identität? Das spielt der Abend an den unterschiedlichsten inhaltlichen Fronten durch", schreibt Esther Slevogt in der taz (19.11.2013). Taner Sahintürk lege in den ungelenken Charme, den er seinem Lopachin verleiht, einmal auch die ganze Verbitterung der türkischen 'Gastarbeiter' und ihrer Nachkommen über die Missachtung, die ihnen hier zuteil geworden ist." Gleich die erste Szene könnte aus einem Traum von Thilo Sarrazin stammen, denn eine Frau in der schwarzen Ganzkörperverhüllung Hidschab ist zu sehen. "Ein kleiner, frecher Wink mit dem Zaunpfahl in Richtung der Deutschland-schafft-sich-selber-ab-Krakeeler?" "Doch dieses Deutschland - das ist die Botschaft von Nurkan Erpulats Lesart - gleicht dem titelgebenden Kirschgarten, der gar keine Kirschen mehr trägt, aber seinen lethargischen Bewohnern immer noch als Folie für ihre Identität dient."
"Nurkan Erpulat hat Tschechows 'Kirschgarten' als Manifest inszeniert, das nichts an Eindeutigkeit zu wünschen übrig lässt", findet Dirk Pilz in der Neuen Zürcher Zeitung (19.11.2013). "Alles ist zur Parabel auf eine deutsche Gegenwart zurechtgebogen, in der Deutsche mit nichtdeutschen Herkünften noch immer Bürger zweiter Klasse sind." Tschechow als Textlieferant für ein Problemstück also. Man könne diese Ebene in der vor knapp 100 Jahren uraufgeführten Komödie entdecken, allerdings nur unter Verzicht auf viele Nuancen, unter Einebnung der Vieldeutigkeit, die Tschechows Figuren mitbringen. "Die Inszenierung wirkt, als habe sie Not, sich selbst von ihrer grobschlächtigen Deutung zu überzeugen."
Vor lauter angestrengten Provokationen und demonstrativ aufgetürmten Klischees vergesse Nurkan Erpulat, was Tschechow erzählen wollte, schreibt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (18.11.2013). "Er kümmert sich lediglich um das, was er selbst erzählen will." Das habe wenig mit Tschechows russischer Gesellschaft zu tun. Erpulat suche sich alle möglichen und unmöglichen Assoziationspünktchen, an denen er sein politisches Mütchen kühlen könne. "Mit der Last der aufgepfropften Integrationsdebatte freilich kämpfen zumal die jungen Darsteller wie Sesede Terziyan als Warja und Marleen Lohse als Anja, die Töchter, die mehr könnten als gutmenschelnden Agitprop in der Sache ihres Regisseurs." Schließlich werde à la Aretha Franklin noch laut "Respect" eingefordert – "ohne ihn auch nur im Geringsten Anton Tschechow und seinem Stück entgegenzubringen, von den geprellten Zuschauern ganz zu schweigen."
"Die schrille 'Kirschgarten'-Inszenierung von Nurkan Erpulat fand nicht ins Spiel, sondern verharrte zwischen kabarettistisch-literarischem Liederabend, multikulturellem Medleyprogramm und ironisch übers Klischeeknie gebrochener Protestveranstaltung", schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (18.11.2013). "Man durfte völlig unirritiert einer so trompetenhaften wie harmlosen Stadttheaterbeschlagnahmung beiwohnen." Trotz des vor Energie vibrierenden jungen Ensembles sei an diesem ersten Langhoff-Gorki-Premierenabend zu befürchten gewesen, "dass die respektable Penetranz, mit der die neue Intendantin ihrer politisch sinnvollen und überfälligen Sache erfolgreich Gehör im Betrieb und in der Politik verschafft hat, nun einfach auf die Bühne verlängert wird: als Theaterkunst im Dienst einer Sache, also als Debattenillustrationsveranstaltung."
"Um Unmündigkeit geht es, und um Heimat", schreibt Volker Corsten in der FAZ Sonntagszeitung (17.11.2013). Es werde oft gesungen, von dem Brunnen vor dem Tore oder - auf Türkisch - bei der Siegesfeier Lopachins. Alle dürfen ihre Ängste und Kränkungen einmal rauslassen (auch mal salbungsvolle Integrationssätze sagen im Stile Christian Wulffs). "Die grundsätzlich gute Laune aber darüber, dass die Welt sich dreht, Chancen bietet und jedes Ende auch einen Anfang bedeutet, die lässt sich in diesem unglaublich optimistischen 'Kirschgarten' und im Gorki von Shermin Langhoff niemand nehmen."
Von einer "mutigen Eröffnung" schreibt Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (17.11.2013). "Angriffslust und Lebensfreude will dieses Theater verkörpern – mit einem Dramatiker, dessen Figuren genau das abgeht, die herumsitzen und die Liebe und das Leben verpassen." Subtil könne man Erpulats Regie nicht nennen, es gehe direkt zur Sache. "Er hat einen Zug zum Boulevard, aber das passt zum Gorki und seiner Lage." Die Menschen dieses "Kirschgartens" seien Getriebene. "Auf der Bühne stehen eine Menge Biografien nebeneinander, westliche, östliche, nördliche, südliche. Tschechow als Weltbürgermikrokosmos." Es gebe Löcher in der Inszenierung, weil Erpulat noch mehr wolle und mächtig holze und sich nicht auf Tschechow und seine Schauspieler verlasse. Aber klar werde auf jeden Fall: "Mit diesem Ensemble werden wir noch Freude haben."
Erpulat deute die Vertreibung der bankrotten Ranjewskaja und ihrer bräsigen Familie aus dem Wohlstandsparadies in eine Aufsteigergeschichte eines Migranten um, schreibt Jenny Hoch in der Welt (19.11.2013). "Damit seine Botschaft – die Mehrheitsgesellschaft hat ausgedient – auch wirklich ankommt, umrahmt der Regisseur sie mit grellen programmatischen Einschüben." Die seien mal mehr, mal weniger gelungen.
Peter Laudenbach schreibt in der Süddeutschen Zeitung (20.11.2013): "Selbstverliebt dröhnend, reichlich konfus und nicht weiter an Figuren, Stückvorlage oder Inhalten interessiert", führe der Hausregisseur Nurkan Erpulat eine "eitle, folkloristisch bunt aufgedonnerte 'Kirschgarten'-Variation" vor, halb schwerfällige Revue, halb Typenkabarett". Seine Inszenierung beweise vor allem, dass es keine gute Idee sei, jedes Stück zur "Postmigrantenparabel verbiegen zu wollen", und dass "Posen kein guter Ersatz für Kunst sind".
"Die Aufführung ist überstürzt, unfertig, laut: ein Schwank im Millowitsch-Rhythmus, gespielt von türkischstämmigen Deutschen. Es gibt hier keinen Sieger, es gibt aber auch kein wirkliches Opfer", schreibt Peter Kümmel im Neustart-Porträt (Gesamtfazit: ein "guter Anfang") für die Zeit (28.11.2013). Es wirke, als sei der ganze "Kirschgarten" um der zentralen Lopachin-Szene willen gemacht worden: also mit Fokus auf die Übernahme des abgewirtschafteten Guts durch den Sohn des – in Erpulats Adaption – türkischen Gemüsehändlers. Anders als in den Zeitungen und im nachtkritik.de-Forum kritisch diskutiert, liegt hier für Kümmel keine einfache Drohgeste vor. Die Kritik übersehe, "dass Lopachin in Erpulats Inszenierung nicht als Sieger, sondern als ein Aggressor in einer langen Kette von Unterdrückern erscheint: Die Ausbeutung verfeinert nur ihre Methoden und ihre Tanzmusik. Am Ende ist Lopachin ernüchtert; Investoren aus China, so erfährt man, werden sich als Nächste über das Land hermachen."
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Aber auch das sogenannte Politische kommt verdammt naiv daher. Was soll z.B. eine solche Szene wie im dritten Akt: Die Kirschgarten-Gesellschaft zuckt neurotisch tanzend an der Gorki-Wand, kann noch nichtmal feiern, dann kommt der Schnauzbart-Lopachim, hat den Kirschgarten gekauft, wirft die Wand um - und die Bühne wird von Stadttheater-Statisten bevölkert, die ein türkisches Fest simulieren. Was soll uns das in seiner Schlichtheit sagen? Ich wage es kaum hinzuschreiben: Dass Türken mit ihrer Lebensfreude besser feiern können? Wenn das ab jetzt im Gorki-Theater der gedankliche Horizont ist: Oje.
Wenn Lopachin den Kirschgarten abholzen lässt, um Sommerhäuser zu bauen, dann um diese Zustände für seine Enkel und Urenkel zu verändern. Das hat nichts mit Gentrifizierung, Arisierung und erst gar nichts damit zu tun, das Migranten einer dekadenten Gesellschaft ihre Güter abnehmen.
Die einzig wirklich Fremde in diesem Stück ist Sarlotta, die über sich sagt: „Ich habe keinen gültigen Pass, ich weiß nicht, wie alt ich bin, und mir kommt es immer so vor, als sei ich noch jung.“ Im Folgenden erzählt sie über ihr Jahrmarkts-leben und ihre völlige Unkenntnis ihrer Herkunft. Hier könnte man einen Aufhänger für einen Migranten Hintergrund finden, aber wozu?!
Denn, wie gesagt, das ganze Stück handelt von einem Konflikt innerhalb einer homogenen Gesellschaft, die an ihren sozialen Konflikten auseinanderbricht und nicht an ihren multikulturellen.
Was für ein Missverständniss.
Ich wünsche dem Gorki-Team für die nächsten beiden Abende mehr Glück. Toi toi toi. Ganz besonders gespannt bin ich auf Sybille Berg.
"multikulturelle" Konflikte sind immer soziale Konflikte und immer Klassenkonflikte - es geht um Teilhabe und Verteilung. Und meistens geht es um enorme finanzielle Unterschiede, Zugang zu Bildung und die Frage, wer darf die Gesellschaft gestalten, und wer bleibt am Rand und wird abgestellt. Die Inszenierung war für mich deshalb sehr schlüssig - der Moment, an dem Taner Sahintürk den Kirschgarten (in diesem Fall den Zugang zum Theater und zwar den gleichberechtigten Zugang zum Theater - zu großen Rollen, zu einer gleichberechtigten Teilhabe auf Augenhöhe) bekommt, entspricht genau dem, was Tschechow in seiner Zeit für seine Zeit gemeint haben könnte: Diejenigen, denen man bislang niemals Entscheidungspositionen, Führungspositionen, Selbstbestimmung zugestanden hat, bekommen jetzt genau diese Posten und können selbst über sich entscheiden und bekommen endlich eine Stellung in der Gesellschaft, die sie aus der reinen Unterschichtsrolle raushebt. Dh. Die Kinder jener Fließbandarbeiter, die man damals als Gastarbeiter nach Deutschland geholt hat, und die man dann als die Arbeit erledigt war, wieder loswerden wollte und die man nie als Menschen, sondern immer nur als billige Arbeitskräfte Im Dienste des deutschen Wohlfahrststaats gesehen hat, erkämpfen sich jetzt Zugang zu Positionen, an denen sie die Möglichkeit und die Macht haben, Entscheidungen für sich selbst zu fällen, anstatt dass sie immer nur ausführen müssen, was andere für sie entscheiden. Bezogen auf die inszenierungsmetapher Kirschgarten = deutsches Stadttheater heisst das einfach, die Schauspieler mit migrantischem Hintergrund spielen nicht mehr irgend nen "Prolltürken mit Akzent", der zur Belustigung der deutschen Zuschauer beiträgt, sondern sie spielen große, komplexe Rollen, sie erzählen aus ihrer eigenen Perspektive - sie können sich selbst darstellen - als Menschen - und nicht unentwegt als der Drogendieler, der Ehrenmordbruder, der Schulhofproll, der nette Gemüsemann usw usw
Ich fand die Inszenierung in diesem Zusammenhang absolut schlüssig und ehrlich gesagt habe ich die Rolle des Lopachin noch nie so kraftvoll und glaubwürdig verkörpert gesehen - hier steht jemand auf der Bühne, der wirklich etwas zu sagen hat, der spielt mit einem Anliegen, das weiter geht, als "den Ton zu treffen". Das fand ich sehr stark.
Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2013/11/16/alles-drin/#more-2761
"Doch dieses Deutschland – das ist die Botschaft von Nurkan Erpulats Lesart von Anton Tschechows berühmtem Stück über einen Epochenwechsel, "Der Kirschgarten" – gleicht dem titelgebenden Kirschgarten der bankrotten Gutsherrin Ranewskaja, der gar keine Kirschen mehr trägt, aber seinen lethargischen Bewohnern immer noch als Folie für ihre Identität dient. Doch was kann die noch sein? Am Ende, man kennt die Geschichte, kauft der zu Geld gekommene Sohn eines einstigen Leibeigenen, Lopachin, das verschuldete Gut, holzt die nutzlos gewordene Pracht ab, weil er etwas Neues bauen will. Das ist natürlich auch eine wunderbare Metapher für eine Theaterneueröffnung, für die des Maxim Gorki Theaters erst recht, wo nun Shermin Langhoff und Jens Hillje angetreten sind, den Stadttheaterbegriff zu erweitern und auch all jene miteinzubeziehen, die den Kirschgarten der deutschen Hochkultur bislang nicht betreten durften."
"Der Türke an sich tanzt und singt ja auch besser als der Deutsche", möchte man noch hinzufügen, um an den Kanon 'positiver Vorurteile' noch eine hitverdächtige Behauptung anzuhängen.
Lopachin, der ja im Original auch nur ein Russe ist, wie die Ranewskaja, holzt also die nutzlos gewordene Pracht Deutschlands ab, deren Bewohner nur noch lethargisch und bankrott rumhängen, um endlich etwas Neues zu bauen.
Bizarr, wie hier die ehemaligen Vorurteile gegen Gastarbeiter, Fremde und Ausländer nun gegen die Deutschen angewandt werden. Faul, lethargisch, bankrott und nutzlos. Dagegen, der gesunde, gut tanzende und singende Türke, welcher der "nutzlosen deutschen Pracht" seine kulturelle und wirtschaftliche Welt entgegenstellt. - Man kann es sich kaum verkneifen und möchte fragen: Waren es nicht immer, neben dem politischen Asyl, auch wirtschaftliche Erwägungen, die einige Migranten nach Deutschland kommen ließen?
Das Wort "Wirtschaftsflüchtling" ist mir ein Grauen und doch verstehe ich, warum Menschen nach Lampedusa fliehen, um in die "Festung Europa" einzudringen, wo sie hoffen, im Gegensatz zu ihren Herkunftsländern, eben keine nutzlose Pracht vorzufinden, sondern, gemessen an den Chancen in ihrer Heimat, bessere Existenzmöglichkeiten. Dies mag für einige Länder Europas schon lange nicht mehr gelten und man empfängt sie häufig recht unsanft dort, wovor mir ebenso graut. Aber so sehr ich mit diesem Deutschland nie ganz warm werden konnte, sehe ich doch den enormen Wohlstand dieses Landes im europäischen Vergleich. Und auch eine gewisse Rastlosigkeit einer Kanzlerin, die mir alles andere als verschlafen und lethargisch erscheint, um diesen wirtschaftlichen Wohlstand auch für die Zukunft mit allen Mitteln zu erhalten. Ein Wohlstand, in dem sich auch viele Postmigranten mittlerweile heimisch fühlen und vollkommen zu recht in alle möglichen Positionen dieser Gesellschaft vordringen. Bis vor Kurzem hatten wir noch einen Vizekanzler mit asiatischem Hintergrund. Wahrscheinlich ist das nicht die Form der Wachheit und Vitalität, die sich Langhoff und Hilje wünschen, gemeint ist wohl eher eine politisch kulturelle Vitalität, die den Deutschen abgehen soll, aber von einer „bankrotten Pracht“, die zwingend von Postmigranten abgelöst werden muss, kann nun wirklich nicht die Rede sein.
Da fällt die taz in alte, linke Muster zurück, weil ihr die politische Ausrichtung der deutschen Aktivitäten in Europa nicht gefällt, aber deshalb sind die Deutschen noch lange kein verpenntes, unnützes Volk, dass ein jeder Ausländer leicht, mit samt seinem Grund und Boden ersteigern kann.
Werden wir demnächst einen „Kleinen Muck“ nur für Türken sehen? Wohl kaum.
Zugleich behauptet die taz, dass nun auch all jene in den Kirschgarten der deutschen Hochkultur einbezogen werden, die ihn bisher nicht betreten durften, zugleich aber beschreibt die Zeitschrift akribisch, wie schon zu Peter Steins Zeit sich ein erstes türkisches Theater bildete. - Während meiner Ausbildung an der Folkwanghochschule tanzten wie selbstverständlich alle denkbaren Nationalitäten im Ensemble von Pina Bausch mit und das hat mich sehr geprägt. In der Schauspielabteilung war diese Multinationalität nicht so deutlich zu spüren, es sprachen aber auch stets nur eine handvoll Menschen anderer Herkunft vor. Trotzdem war immer deutlich zu spüren, dass die Verhältnisse im Tanztheater sich nicht so leicht freiwillig auf das Sprechtheater ausdehnen wollten. Als ich nach Berlin kam, wehte gleich ein ganz anderer Wind. Es war schwer und letztendlich unmöglich für mich eine farbige, recht bekannte Schauspielerin an das DT zu engagieren, was mich sehr verärgerte und zu tiefst verletzte, diese fast schon preußische Abwehr alles Fremden, obwohl die Stadt doch nur so vor Multinationalität brummte. Heute spielt Samuel Finzi dort, ein Bulgare jüdischer Herkunft, dessen Status mir nicht wirklich bekannt ist, aber ich nehme an, er besitzt die deutsche Staatsbürgerschaft, wissen tu ich es nicht. Das ist nicht viel, aber ein Anfang. Und von daher ist die Entwicklung am Gorki natürlich begrüßenswert. Für einen Epochenwechsel halte ich sie ebenso wenig, wie die Ersteigerung eines Gutes gleich zum Umsturz einer ganzen Gesellschaft führt.
Shermin Langhoff steht nun in der Verantwortung für ein multinationales Publikum Theater zu machen und sollte sich hierbei keinesfalls an den Rattenschwanz einer alten Denkungsart, wie die der taz anhängen. Es gibt, so hoffe ich keine türkische Kultur, die sich anschickt die deutsche Kultur abzulösen zu wollen. Eine solche Vorstellung wäre fatal und schickte uns zurück in die Vergangenheit der Siebziger Jahre, die ich als Kind im Ruhrgebiet in einem Bergarbeiterviertel erlebt, wo wirklich der entsetzlichste Ausländerhass grassieren konnte, aber ebenso auch eine übertriebene Fremdenfreundlichkeit, die auf einem schlechten Gewissen der Deutschen beruhte. Die Situation, glaubte man der taz, soll sich bis heute nicht verändert haben (?). Ich denke schon. Sicherlich, ich bin weiß, männlich und heterosexuell. Meinen sonstigen Hintergrund sieht man mir nicht gleich an der Nasenspitze an. Aber ich hoffe doch sehr, dass ich im Gorki nicht gleich abgeholzt und als lethargischer Deutscher aussortiert werde, denn an sich wollte ich das Haus unter seiner neuen Leitung ganz gerne einmal besuchen. - Man spürt eben zu sehr, wie leicht es das Haus den Besuchern durch solch plakative Aufführungen macht, sich innerlich abzuwenden, und das ist sehr Schade.
ich glaube Sie überinterpretieren da die Eingangssätze von Esther Slevogts Kritik in der taz. Die Metapher der nutzlos gewordenen Pracht und der lethargischen Kirschgartenbewohner bezog sich doch allein auf den Anspruch der bisher in weiten Teilen rein deutsch besetzten Hochkultur. Dass Hochkulturen zur Dekadenz und Fäulnis neigen, wenn sie sich allzu lang um sich selbst gedreht haben, dafür gibt es genügend Beispiele in der Geschichte. Ein neuer Pfropf wirkt da mitunter Wunder. In der Beziehung funktioniert die Metapher des alten Kirschgartens, dessen Früchte niemand mehr erntet, doch sehr gut. Dass sich das deutsche Stadttheatersystem totgelaufen hat, haben Sie selbst oft genug betont. Auf Deutschland als Nationalstaat, darauf zielten die vielen Gründungen der Theater in Deutschland ab, kann man diesen Kirschgarten ebenfalls gut als Gleichnis verwenden. Was die Wirtschaftskraft und das politische System betrifft, da wird es dann natürlich komplexer. Was bei Tschechow und übrigens auch bei Gorki (Erpulats Wiener Inszenierung von "Kinder der Sonne" kommt ja noch nach Berlin) noch eine Transformation von unten nach oben innerhalb einer Gesellschaft mit ihren verrottenden Eliten (Intelligenzija) war, ist bei Erpulat jetzt eine Frage der kulturellen Unterschiede über europäische Grenzen hinaus. Verschiedene Gruppen von langjährig in Deutschland lebenden Migranten emanzipieren sich von politischer und kultureller Bevormundung und verlangen nach Selbstbestimmung. Das haben sie zumindest hier am Gorki auch erstmals erreicht. Es geht um künstlerische Eigenständigkeit und Diversität. Das schafft wiederum neue Probleme, die sich kaum besser als am Kirschgarten darstellen lassen. Und es geht um Identität, wer man eigentlich ist. Das erfordert Selbstreflexion. Я = Ich. Ich habe die Inszenierung leider noch nicht sehen können, aber so erscheint es mir beim Lesen der Kritiken. Das ist natürlich eine grundlegende Uminterpretation, die nicht ohne Verluste zu machen ist. Aber vielleicht erkennt man so auch neue Aspekte an Tschechows Stoff. Die anderen beiden Inszenierungen scheinen dann ja mehr an der Lebenswirklichkeit in Deutschland gebaut zu sein, als die Kirschgartenallegorie von Erpulat, so dass mir um die Zukunft des Gorki noch nicht bange ist. Auch wenn wohl einigen Puristen die Reduzierung auf das Bittere im Namen nicht ganz munden wird.
Das Schlimmste daran ist wirklich die schauspielerische Qualität
- jenseits der Frage, ob sich der Regisseur für seine Figuren interessiert hat oder nicht.
Das intellektuelle Niveau der Inszenierung bewegt sich auf der Metaphernebene:
Türkisch = vermummte Frau, tumber Goldkettchenträger, lustiger Dealer, Mümmel-Opa Cetin, Shalala-Melismen…
Deutsch: Schwarzwaldmädelkostüm, Kant, Heimatlieder ("Am Brunnen vor dem Tore", "Du schöner grüner Wald" etc.)…
Berlin: schwule Subkultur, Tuntenhaus...
zunächst habe ich herzlich darüber gelacht, bis mir dämmerte, dass der das Ernst meint. Falilou Deck hält Aufklärungsreden mit dem treuherzigen Weltverbesserungseifer eines VHS-Lehres. Nach 60 Minuten bin ich gegangen. Ich hab mich geschämt…
Es gibt so viele tolle türkische und türkisch-deutsche Schauspieler… Warum werden hier Amateure wie Tanzbären der Lächerlichkeit preisgegeben? Das finde ich rassistisch. Wie die Klischees, die in dieser Aufführung nicht dekonstruiert, sondern zementiert werden.
So vielfältig die Antworten und ihre Hintergründe auch sein werden, so vielfältig wird auch die Art und Weise sein, wie die Angespochenen diesen deutschen Zuständen begegnen. Und wenn es sein muss. legen sie wie mit dieser Inszenierung einen kleinen Triumphzug zur Feier einer Zwischenetappe ein, die eigentlich nur denen aufstoßen kann, die sich der Wandel nicht behagt.
Lieber Robert, was Sie hier betreiben ist wirklich nicht mehr feierlich. Lauter Angriffe ad personam, wo Argumente hinsichtlich künstlerischer Gesichtspunkte angeführt worden sind. Es ist schlichtweg unverschämt jemand zu unterstellen, ihm würde ein verschiedene Biographien inkludierender Wandel in der Hochkultur nicht behagen, weil es dieser jemand gewagt hat philologisch gegen eine plumpe und zudem langweilige Interpretation eines ganz guten Stückes zu argumentieren.
Und nein, ein sich selbst abfeiernder Triumphzug auf rassistischer Grundlage ist keine Maßnahme gegen den von ihnen halluzinierten "arisch, homogenen Misthaufen". Diese Art von rassistischer Gewaltsprache (à la "Biodeutscher" o.Ä.) ist keine Genugtuung für die Geknechteten sondern die blöde Perpetuierung der gleichen Problematik, die vorgeblich bekämpft werden soll.
Zynisch wird es dann wenn man annimmt, dass die von Ihnen ins Feld geführten Kaperer des "Ladens" auf dem schlichten Niveau von Triumphgeheul wandeln wollen und nichts künstlerisch -notabene nicht politisch- Besseres zustande bringen.
Verzeihen Sie mir die Provokationen, die hier anscheinend manche wieder auf dem falschen Fuß treffen, aber ich habe schlicht den Eindruck, das die eindeutige Deutung hin zu einem "germanophoben" Inszenierung und die unangebrachten Forderungen nach dem Motto, wenn der Türke schon kommt, dann soll er mal gleich alles umkrempeln, sonst kann er gleich draußen bleiben, eben genau diesen Rassismus Ihrerseits zu Tage legen, während auf der anderen Seite ihr Geschwafel von dem antideutschen Rassismus in Erpulats Kirschgarten jeglicher Grundlage entbehren. Das riecht einfach alles nach typischen Reflexen. Natürlich erwarte auch ich mehr als Triumphgeheul von der neuen Intendanz, aber ich kann beim besten Willen nicht verstehen, warum man diese Inszenierung statt als eben äußerst ambivalenten und doch freudetrunkenen Rausch des Wechsels auf Teufel komm raus in einen plumpen Rassismus umdeuten will. Das, was an deutschen Zitaten in der Inszenierung verwendet wird ist ja nicht irgendetwas daher gesagtes, es repräsentiert eben nur das noch sehr frisch angekratztes Paradigma von der deutscher Leitkultur, in der die "anderen" nichts verloren haben. Und während anderswo andere deutsche Regisseure dafür gefeiert werden, dass sie übertrieben stumpfe Dekonstruktion betreiben und es gar nicht mehr mit dem "Aufpfropfen" versuchen, wird hier eine etwas chaotische, aber auf ihre facettenreiche Art einem pluralistischen Mosaik gleichende Inszenierung, die spielerisch so viel Energie liefert, wie man sie sonst selten sieht, jegliche Berechtigung abgesprochen, , weil der Kirschgarten und Revolution überhaupt ja eigentlich ganz anders geht. Wie, dass wissen natürlich wieder nur Herrmann und Co..
Bisher habe ich den Begriff „postmigrantisches Theater“ so verstanden, dass die Darstellung von Rollen in Stücken mit migrantischem Hintergrund auch von solchen Schauspielern mit eben dem Hintergrund gespielt werden sollten. Dass sie nicht mehr als Statisten zur Authentisierung einem deutschen Darsteller zu spielen wollen, der in Kostüm und Maske ihre Geschichte verkörpern soll. Dass sie eben jene Rolle selber in die Hand nehmen wollen, um ihre Geschichte aus ihrer eigenen Perspektive erzählen zu können. Darüber hinaus galt es als Ziel, dass die Darstellung jeglicher Rollen durch diese Schauspielergruppe zu einer Selbstverständlichkeit wird, man also unabhängig von seiner Herkunft und rein nach seinen Fähigkeiten und seinem Talent besetzt wird. Anerkennungswürdige und schöne Ziele.
Ein Ausspielen zweier oder mehrere Kulturen gegeneinander konnte ich bisher in dieser Definition nicht entdecken. Nun aber erleben wir einen Vorgang, in dem ein Klassiker um eigentlich nicht vorhandene migrantische Themen erpresst wird, um die eine Kultur als einer anderen überlegen abzubilden. Falls dies die neue Definition wäre, kann man auch nicht mehr von Diversifikation oder Emanzipation sprechen, sondern von einer kulturellen Hegemonie, in dessen Vorgehensweise wiederum latent eine kulturelle und politische Bevormundung des ehemals scheinbar feindlichen Gegenüber latent mitgedacht wird.
Es handelte sich also um die Eroberung einer fremden Kultur und nicht um ihre Erweiterung.
Nun ist es nicht meine Aufgabe den Begriff „postmigrantisches Theater“ angesichts der Eröffnung des Gorki neu festzuschreiben. Aber eine Debatte, welche die Begriffe neu sortiert, definiert und einordnet, fände ich sinnvoll und würde ich sehr begrüßen.
ich verstehe Sie nicht.
Wollen Sie sagen: Die Idee ist schlecht, weil die Schauspieler schlecht waren?
Dann könnten Sie ja auch beweisen: Shakespeare ist schlecht, weil er oft schlecht gespielt wird.
Ich fand übrigens die Eingangsszene des Kirschgarten hinreißend:
Ein Deutsch-Türke liest Kants "Was ist Aufklärung?"
Wenn dieser Traum kein Witz mehr ist und die andern Deutschen anfangen, Dede Korkut und Orhan Pamuk zu lesen, dann haben wir wirklich eine postmigrantische Kultur.
Leider hat Erpulat diese Nathan-Utopie zugekleistert mit dem Running Gag der Türken, die permanent besessen den Lindenbaum singen.
Wobei ja auch diese Idee (der deutsche Gesangsverein als sozialintegrative Kraft) an sich nicht blöd ist, wie Sternheim hinreißend im "Bürger Schippel" aufs Korn nimmt.
Man landet einfach immer wieder bei der gleichen Erkenntnis: nicht die Idee war schlecht, sondern die Ausführung.
Mir kann man einen Dualismus nicht als Plural vermitteln.
ihr flächendeckend erstickender Euphemismus ist einfach nur erschreckend. Wird denn ein Desaster zu einem positiven Ereigniss, nur weil es besprochen wird?!
Etwa 400 Zuschauer, generationsübergreifend, sahen die Vorstellung bis zum Schluss. Ich führte anschließend mit Freunden ein aufschlussreiches Gespräch über Motive und Stilmittel des Stücks. Schade, dass Sie schon so früh gingen.
nein, ich habe geschrieben, sie hat etwas geschafft, nicht, dass die Diskussion um das Stück dieses dann auch aufwertet. Weiter oben hatte ich beschrieben, wie es MIR beim Zuschauen ergangen ist.
Da habe ich mich im Gegensatz zu manch anderem hier knapp gehalten.
Vielleicht begründen Sie, was an der Inszenierung ein Desaster sein soll und warum ich "euphemisiert" hätte. Und warum Sie sich rausnehmen, meine persönliche Wahrnehmung derart abzukanzeln.
Herzlichste Grüße!
das Theater ist doch keine Messe. Man sollte eher darüber nachdenken, wer alles auf Grund dieser fadenscheinigen Konzeption erst gar nicht hingeht.
Gut, mit diesem Kommentar haben Sie sich endgültig disqualifiziert.Vielleicht erst eine Inszenierung sehen, bevor man sie schlechtschreibt!
sie benennen sich nach einem rauf und trinksüchtigen Soldaten, nun gut. Hier schreiben aber doch zum Teil recht kompetente Kommentatoren. Und ihre Argumente weisen einige Gründe auf den Abend erst gar nicht zu besuchen, da er ein komplexes Sujet eindimensional abhandelt.
Es mag für die Theater neu sein, aber es findet nicht nur eine Emanzipationsbewegung von Postmigranten statt, auch die Zuschauer gleichberechtigen sich. Und so umkreisen wir uns gegenseitig auf polyphone Weise und niemand kann verhindern das die Theaterpyramide horizontal geschliffen wird.
Lieber Egon Frank,
das ist nett, dass wir auf diese Weise ins Gespräch kommen.
Ich möchte nur nicht auf mir sitzen lassen, dass ich während des Carlotta-Monologs gegangen wäre. Das erweckt bei denen, die die Aufführung gesehen haben, nämlich den Eindruck, als ob ich homophob wäre. Charlotta ist in dieser Aufführung eine Transe und die Einzige, bei der das Thema "Vorurteile" wirklich existenzielle Dimensionen annimmt. Charlotta erzählt nämlich in ihrem neu hinzugekommenen Monolog, dass sie keinen Pass kriegt, weil die Behörden nicht wissen, wie sie mit transsexueller Identität umgehen sollen. Da ich eine transsexuelle Freundin habe, die genau das vor 5 Jahren durchgemacht hat, weiß ich, dass das kein Witz ist.
Ich bin 10 Minuten später gegangen, nach der fürchterlichen Anbaggerei Dunjaschas, die den schnuckeligen, aber schrecklich verklemmten und unbegabten Tamer Arslan aufzureißen versucht, bei dieser schrecklich betroffen und nichts sagend in den Zuschauerraum glotzenden Chorus Line, die seit Thalheimers Emilia Galotti jede dritte Inszenierung verseucht. (zuletzt u.a. Demetrius/DT).
So, und jetzt bin ich gespannt, was ich versäumt haben soll?
Was heißt: sich auf Erpulats Spielweise einlassen?
Ein Sensorium für das engagierte Laienspiel entwickeln?
P.S.: ich war gestern in den "Birken". Yael Ronen versteht ihr Handwerk. Aber auch diese Geschichte einer scheiternden Beziehung scheitert nicht am Migrationshintergrund, sondern an Problemen die alle Menschen auf der Welt mit einander haben.
Jetzt freu ich mich auf Dede Korkut, einen türkischen Klassiker. Das ist für mich echter Dialog der Kulturen.
Er hat Recht. Diese Fehlinterpretation ist nicht würdig besucht zu werden, finde ich. Jeder kann lesen. Nicht nur Jens Hilje und Shermin Langhoff. Aber nicht jeder schafft es in einen russischen Kirschgarten eine deutsche Laubenpiepersiedlung hineinzulesen.
Und das ist gut so. Danke Baucks für ihre Ausführungen. Da weiß man, dass man sich besser was wirklich Gutes sucht. Etwas mit Fingerspitzengefühl. Einen Grundton, der mehr als von einem Krampf zu berichten hat. Danke. Sie haben mir auf ihre Art die Augen geöffnet. Theater das sich von der Herkunft seiner Macher her definiert, ist passé. Ansonsten müsste ich als deutsche Mamsell ja ständig nur sächseln oder sonst wie germanisch rumstacksen. Da würde mir ja von mir selber übel werden.
(...) Und jetzt bitte nicht gleich wieder singen und tanzen. Ich dachte eher an einen europäischen Geist.
Herzlich,
ihre Ausführungen sind ein wenig radikal, aber in diesem radikalen Empfinden liegt natürlich eine Wahrheit begraben. Alleine aus der Herkunft der Macher lässt sich ein Theater heute nicht mehr sinnvoll begründen. Denn der Begriff Nationalität im Zeitalter der digitalen und analogen Globalisierung bedeutet etwas ganz anderes als im vergangenen Jahrhundert, obschon er immer noch in der Konnotation der beiden Weltkriege benutzt wird. Und sicherlich reichen viele Empfindungen von Heimat aktuell immer noch in diese Zeit zurück. Aber grundsätzlich unterscheidet sich das nationale Empfinden von Postmigranten und Einheimischen nur noch graduell. Zwar erscheinen erstere als eine Minderheit, aber nur in Bezug auf eine nationale Bezugsgröße. Weitet man die Sicht auf Europa befinden sich die sogenannten Einheimischen ebenfalls in einer postnationalen Situation und sehen sich einer verschärften Konkurrenz der verschiedenen europäischen Demokratien, falls es denn welche sind, ausgesetzt. Ihr nationales Empfinden trägt immer mehr Züge dessen, was man früher einmal die Region, das Land nannte. Denn in Wahrheit sind die Bürger Europas unabhängig von ihrer Nation berechtigt in jedem einzelnen Mitgliedsstaat leben und arbeiten zu dürfen. Hier ist schon rein gesetzlich eine Vermengung der Nationen in einem nächstgrößerem Wirtschaftsraum vorgesehen und wird, wenn auch mit Schwierigkeiten in der Tat schon gelebt. Das heißt, meine nationale Identität findet nur noch in einem kulturellen und, europäisch eingeschränkten, politischem Sinne statt. Auch ich befinde mich mit meiner Nationalität in einem Wirtschaftsraum mit einer Vielzahl von Nationen, deren Bürgern nun verschiedene Wanderungsbewegungen erlaubt sind, die durchaus auf wirtschaftliche Erwägungen zurückzuführen sein dürfen. Zählen tut hierbei im Anerkennungs- und Austauschtransfer die berufliche, soziale und kulturelle Kompetenz und Qualifikation gegenüber den anderen Nationen. In diesem Zusammenhang kann das nationale Empfinden durchaus einen positiven (und ebenso einen negativen Wert darstellen), da einige Nationalitäten im europäischen Zusammenhang beliebter als andere sind und Bürger der Ersteren gerne abgeworben werden, falls sie im Besitz einer überdurchschnittlichen beruflichen und gesellschaftlichen Qualifikation sind. Im Ganzen gesehen unterscheidet sich meine Lebenssituation also nur noch graduell von jener Gruppe der Postmigranten. Wahrscheinlich haben sie sogar gegenüber sogenannten Einheimischen einen Erfahrungsvorsprung, der sie eher für den europäischen Raum qualifiziert, als jene, die in einer unflexiblen Sesshaftigkeit verharren. Somit bezieht sich der Begriff Nation zwar weiterhin auf eine Kultur, aber nur eingeschränkt ermaßen auf einen politischen und wirtschaftlichen Raum. Vielleicht lebt das postmigrantische Theater immer noch von der Hoffnung alle Nationen würden sich auflösen und dies sei gut so. Da der Begriff mir nicht hinreichend definiert erscheint, kann ich das nicht näher beurteilen. Aber, soviel ist sicher, der Begriff Nation und Heimat erfährt im europäischen Zusammenhang eine neue Deutung und kann durchaus auch als positiver und identitätsstiftender Wert betrachtet werden, solange er sich aus einer gewachsenen Kultur heraus begreift, die sich nicht feindlich gegen andere Kulturen aufstellt, sondern eine friedliche Koexistenz mit anderen Kulturen leben möchte, wie es ja schon vielerorts geschieht. Damit löst sich die Problematik der Postmigranten nicht in Luft auf, wird jedoch sehr stark relativiert. In diesem Sinne, sächseln sie ruhig weiter.
" Etwas mit Fingerspitzengefühl. Einen Grundton, der mehr als von einem Krampf zu berichten hat." In etwa soviel Fingerspitzengefühl wie Ihre Ausführungen? Ich habe die Inszenierung nicht gesehen und ent-bzw. verhalte mich dementsprechend. Sie schreiben, sie sei eines Besuchs nicht würdig, ohne sie vorher besucht zu haben. Ich denke DAS entbehrt wohl jedes Fingerspitzengefühls.
Ihre Auffassung von der Belanglosigkeit der Herkunft eines Autors ist für mich im Bezug auf den Kirschgarten von Erpulat deshalb so absurd, weil sie einfach außen vor lässt, dass, da taugt die Andorra-Parabel ganz gut, die deutsche Gesellschaft diese Menschen erst zu "Türken" gemacht hat, in dem sie Ihnen jedweden Zugang zur deutschen Gesellschaft jahrzentelang verweigert hat. auch im bezug auf ritas Anmerkung: Eben gerade da liegt ja der Unterschied zwischen deutschem Heimattheater und postmigrantischem Theater. Es geht hier um Rollenbilder und Konstrukte, in die man von außen gezwängt wird, es geht um hochkomplexe Verwebungen von außen an einen ran getragenen Merkmalen und der Frage nach der tatsächlichen eigenen Identität/Beziehung zum Herkunftsort. Und das ist im Vergleich zu einem deutschen Heimatabend nun einmal tatsächlich künstlerisch und gesellschaftlich relevant und spannend.
Ebenso verstört bin ich von Ihrer Vorstellung von einem neuen (positiven) Nationsbegriff.
Nationalismus als solcher bedeutet heute noch genau wie in der Vergangenheit wenn auch auf eine vermeintlich zahmere Art vor allem eins: Internationale Konkurrenz. Der vermeintliche Frieden ist doch nur im Sinne wirtschaftlicher Interessen zu sehen, sobald man seine U-boote und Waffen und was sonst noch alle verkauft hat ist es dann mit Solidarität mit anderen Länder selbst innerhalb der EU ja erstmal vorbei, siehe Griechenland. Menschen werden in diesem Sinne ja auch nicht nur von einem zu anderen Land abgeworben, sondern, siehe die Flüchtlingsthematik, von einem Land zum anderen geschoben. Menschen werden weiterhin nach Ihrer Brauchbarkeit im Sinne eines nationalen wirtschaftlichen Bedarfs/Interesses eingeordnet und logischerweise nach wie vor auch aussortiert. Ich würde behaupten, der neue "sanfte" Nationalismus, den sie hier und da erkennen wollen(in den meisten europäischen Ländern geht es ja nun bei weitem eher in die Richtung einer Radikalisierung) ist auf eine bestimmte Art noch um einiges komplexer im Sinne eines postmigrantischen Theaters zu sehen, und somit auf jeden Fall von großer Relevanz, da er viel subtiler, und undurchsichtiger an der Selektion von Menschen und Zementierung von Ungleichheiten zwischen den einzelnen Bevölkerungsgruppen beteiligt ist, als eben der latent rassistische Nationalismus.
Wenn aber nun gerade den menschen, die sich anmaßen, gesellschaftliche Problematiken verhandeln zu können, über Jahrzente entgeht, dass sie all ihren Debatten über Postnationalismus und die Loslösung von jeglichen Kategorien eben gerade innerhalb eines vermeintlich geschlossenen Kreises einer ganz bestimmten Kategorie von Menschen (weiß, männlich, heterosexuell) führen, dann ist das eben insbesondere an einer so öffentlichen Institution wie dem Theater eben eine vergleichbar offensichtlicher Affront gegenüber denjenigen die davon ausgeschlossen werden. Das man diesem Phänomen dann oftmals mit dem gleichen Mangel an Subtilität kritisch begegnet bzw. eben diese arrogante Farce der Gesellschaft zurück an den Kopf wirft, liegt auf der Hand. Wer einmal Kategorien aufmacht, dem werden sie einem irgendwann um die Ohren fliegen. (In Zukunft denke ich da eben gerade an das Gespinst "europäischer Geist" )
Es ist doch einfach nur zynisch(und eben noch dazu aus künstlerischer Perspektive eine vertane Chance) darauf zu beharren, das hier jemand "unser" (hoch)kulturelles Vermächtnis falsch liest und vermeintlich "krampfhaft" das Problem der Herkunft behandelt, während faktisch genau dieses Kategorie darüber entscheidet, ob und inwiefern er überhaupt gesellschaftlich die Chance bekommt, seiner Wahrnehmung der Dinge eine Stimme zu verleihen.
Abgesehen davon, bin ich sehr wohl der Meinung, dass Erpulat unabhängig obengenannter Faktoren sehr viele wunderbare in sich schlüssige Adaptionen und Charaktere geschaffen hat. Ich fürchte bloß, es hat nicht viel Sinn dies hier weiter auszuführen, da der Unterschied in der Wahrnehmung dieser Inszenierung eben genau an dem Diskurs festzumachen ist, der diese Kommentarspalte hier durchzieht und eben nicht allein an der schlichten (unvoreingenommenen) Uneinigkeit über die künstlerische Fertigkeit des Regisseurs.
vor ein paar Jahren hätte ich ihnen wahrscheinlich noch bruchlos zugestimmt. Heute aber denke ich, die Postmigranten befinden sich, ähnlich den Ein-Heimischen in einer polyphon polymorphen Situation, die eine multiple Dialektik aufwirft, welche wahrscheinlich eben so viele Vorteile, wie Nachteile für beide entwickeln kann, je nachdem, wie das einzelne Individuum seine eigene Herkunft produktiv zu machen in der Lage ist und seine Talente vorteilhaft gelagert sind. Hierbei gibt es durchaus ein von Land zu Land wechselndes Ranking innerhalb der europäischen Nationen. Zunächst einmal aber ist die Situation der Bürger innerhalb eines multinationalen Raumes wie Europa weder gut noch schlecht, sondern bedingt; abhängig von einer Vielzahl von Faktoren. - Untersuchte man beispielsweise einmal unter diesem Gesichtspunkt den Fall „Bushido“ genauer, würde man wahrscheinlich feststellen, dass es sogar im Bereich des Möglichen liegt „destruktive“ Talente vor einem postmigrantischen Hintergrund legal zu kapitalisieren, falls es, wie in diesem Falle, gelingt, für die Verachtung einer Kultur Mehrheiten zu bilden, die das Kunstprodukt dieser Geistesrichtung auch konsumiert. - Grundsätzlich kann man sagen, dass es in der Kunst meistens nur um das Ausstellen eines fast inquisitorischen Schmerzes geht, es geht um populäres Leiden, mit dem man hofft sich Relevanz zu verschaffen und eine wirtschaftliche Grundlage. Die stummen Opfer innerhalb dieses mehrfach in einander greifenden Zusammenspiels bleiben hierbei häufig ungenannt. Besonders in den Vordergrund treten häufig Schmerzen, denen man unterstellt, dass sie kollektiv empfunden werden und einer bestimmten Ethnie oder Gruppe zuzuordnen sind. Will man sich also Gehör verschaffen, ist es von Vorteil, sich einer kulturellen Gruppe zugehörig zu fühlen, die den ehemaligen Nachteil einer gemeinsamen Herkunft zu einem Vorteil in der gesellschaftlichen Anerkennung wandeln kann. Schicksale, die nicht diesen Gruppenstatus erlangen können oder aber einer Gruppe angehören, die keine Lobby hat, und auch nicht, aus spezifischen Gründen, in der Lage ist eine Lobby für sich zu bilden, werden in diesem Zusammenhang stark vernachlässigt. Spezifische Gründe können zum Beispiel auch sein, dass man einer Gruppe zu schreibt, sie sei leidensfrei, privilegiert und ohne Probleme, an sich eben glücklich, und falls unglücklich, dann selbst verschuldet. Solche Gruppen belegt man mit einem positiven Stigma, beispielsweise „weiß, männlich, heterosexuell“, dass zugleich als Abwertung gedacht wird, um in dieser Ambivalenz abzubilden, dass es sich um eine Gruppe handelt, die keiner Fürsorge und näherer Betrachtung bedarf. Auch bei der Kennzeichnung solcher Gruppen, ähnlich der Gruppe der Postmigranten, werden traditionelle Sammelbegriffe verwandt, die meistens historisch motiviert sind, klassische, unüberprüfte, jedoch funktionierende Vorurteile enthalten und einem Heute oft nicht mehr entsprechen. Niemand bildet zum Beispiel ein Wortpaar, wie „weiß, weiblich, protestantisch, asexuell“, weil es mindestens einen Begriff enthält, der nicht funktioniert, eben weil das Wort „weiblich“ ebenfalls einer Gruppe zugeschrieben wird, die einen kollektiven Schmerz inne haben soll. All diese Bemühungen betrachten selten die wahren Verhältnisse und gleichen sie so gut wie nie mit dem Schmerz und Leiden der Menschen ab, die für die so geschaffenen Feinbilder herhalten müssen.
Ich als eben weißer, männlicher heterosexueller Mensch würde am liebsten auch diese Kategorien hinter mir lassen. Aber ich wäre doch allzu verblendet, die Relevanz dessen für mein gesellschaftliches Wirken zu ignorieren. Natürlich besteht da keine unterkomplexe Täter-Opfer-Beziehung und ich finde Erpulat ist nun wirklich der letzte, der Opfer- und Täterrollen inszeniert, im Gegenteil spielt doch die Ambivalenz der postmigrantischen Situation, die sie auch oben erwähnt haben in seiner Arbeit eine große Rolle.
Desweiteren verstehe ich noch nicht ganz was sie mit ihren (durchaus schlüssigen) Überlegungen zu den stummen Opfern, die grundsätzlich kein Gehör finden (die Überleitung hin zu den armen stigmatisierten weißen Deutschen Mal mal geschenkt) nun im Bezug auf die Rolle des postmigrantischen Theaters ausdrücken wollen: Sollen gesellschaftliche Gruppen, die strategische Bündnisse geknüpft haben um gegen Benachteiligung anzugehen keine Rolle spielen, weil es immer im Verhältnis noch mehr unterrepräsentierte individuelle Einzelschicksale gibt, die dabei außen vor gelassen werden? Steht für Sie der individuellen Betrachtung von Problemen die Beschäftigung mit der Identitätsfrage/Zugehörigkeit wirklich im Weg?
in erster Linie versuche ich ihnen einmal die Verblendungszusammenhänge vorsichtig zu verdeutlichen, die bei einer postmigrantischen Lesart des „Kirschgartens“ dazu führen, dass Künstler mit migrantischen Hintergrund in der Gruppe um die Gutsherrin nicht mehr die gescheiterten russischen Migranten aus Paris erkennen.
Ob die Gruppe der männlichen, weißen Heterosexuellen wirklich überdurchschnittlich häufig auch heute noch die Entscheider sind, bleibt für die Zukunft zu untersuchen, denn die Gruppe, die innerhalb der Eliten diese Position als heterosexuelle Männer einnimmt, ist im Abnehmen und stellt in der gesamten Gruppe weißer, männlicher Heterosexueller nur eine Minderheit dar, deren Mehrheit ebenso unter dieser Minderheit zu leiden hätte, nähme man an, das weiße, männliche Heterosexuelle grundsätzlich unmenschliche und unwürdige Entscheidungen fällten, was man erst einmal belegen müsste.
Es kommt nicht auf das Geschlecht, die Herkunft und die Zugehörigkeit an, es kommt darauf an, wie weit man sich von solchen Kriterien befreien kann.
Betrachten sie einmal den farbigen Lehrer in dem Film „American History X“, dann erkennen sie ungefähr die Höhe der Debatte. Er ist nicht bereit einen weißen Schüler, männlich, weiß, heterosexuell und rechtsradikal fallen zu lassen und der Schule zu verweisen, weil er von sich, seiner Person zu abstrahieren gelernt hat, und von daher einen Perspektivwechsel vorzunehmen in der Lage ist. Er hat für sich die Vorhänge vor den Verblendungszusammenhängen geöffnet, die im Gorki noch geschlossen bleiben.
Betrachten sie „Gran Torino“, wo ein weißer, sterbenskranker Kriegsveteran sich für einen jungen asiatischen Nachbarn opfert, um ihn vor den Übergriffen der eigenen Community zu schützen. In solchen Werken, die natürlich nicht einfach Klassiker heranziehen, sondern sich selber schreibend auf die Suche machen, werden sie alle Male mehr finden, als in diesem gebeutelten Cechov.
Konkret auf den Regisseur dieses Stückes bezogen, geben sie nur mal "busch shakespeare erpulat" in ihre suchmaschine ein und Sie wissen was ich meine.
Und nochmal: Natürlich ist die Befreiung von diesen Kategorien das Maß aller Bestrebungen. Aber wieso kann man denn nicht akzeptieren und verstehen, dass der Weg dorthin für die Stigmatisierten ein weitaus komplexerer ist, als für die Teile dieser Gesellschaft, die eben diese Stigmas zu überwinden glauben, aber nie selber Opfer von Stigmata geworden sind? Womit wir bei meiner von Ihnen, Herr Baucks noch unbeantworteten Frage wären, inwiefern nun "weiss, heterosexuell und männlich" selbst ein Stigma darstellt. Für mich stellt ein Stigma die Ausgrenzung aufgrund einer Abweichung von der Norm dar. Bei der Frage, was diese Norm innerhalb der deutschen Gesellschaft denn eigentlich sein soll, bleibt soziologisch betrachte meistens nunmal die genannten Attribute über. Sprich eben diese Kategorie ist einfach in dem allermeisten Fällen Ausgangspunkt von Stigmatisierung. Und diesen Umstand zu benennen ist noch lange kein Stigma selbst.
Von bislang vier Premieren am Gorki waren drei Uraufführungen. Genug neue Stücke?
Übrigens halte ich das postmigrantische Theater nicht für leeren Unfug. Ich zweifle lediglich daran, dass eine Gruppe gegenüber einer anderen einen besseren Zugang zur Wahrheit haben soll, nur weil ihr Hintergrund migrantisch ist. Zugang zur Wahrheit ist eine individuelle Geschichte und keine kollektive. Immer noch versuche ich mich zu erinnern, warum bei Pina Bausch soviel von einem abfiel und man sich so befreit fühlte, und je mehr ich darüber nachdenke, meine ich mich erinnern zu können, dass es eben auch daran lag, dass die Gruppe um Bausch keine nationale oder ethnische Ausrichtung hatte, sondern so vielfältig heterogen war, dass man gar nicht auf die Idee hätte kommen können, gegenüber einer bestimmten Kultur eine Anfeindung zu empfinden. Es wurden keine Konfrontationen zwischen Nationen abgebildet, sondern eine Vielstimmigkeit, die Gräben erst gar nicht zu ließ, oder gleich ins absurde verdrehte. Heute stehen all diese Türen offen im Theater, die damals so befreiend aufgestossen wurden und man schlendert beinahe gleichgültig hindurch, selbstverständlich,
als ob es nie anders gewesen wäre. Postmigrantisches Theater, was soll das schon sein. Etwas, dass, zugleich von dem was es definiert, sich emanzipieren und befreien muss. Und darin liegt wohl die Schwierigkeit; wie etwas festschreiben und definieren, dass sich in einer beinahe permanenten Vorwärtsbewegung befindet.
ja, es gibt einen Grund. Der liegt darin, dass dort verdammt leidenschaftlich Theater gemacht, etwas (für deutsche Stadt- und Staatstheater) Neues versucht wird und das Ergebnis bisher in 3 bis 4 Fällen richtig gut war. Das Gorki macht Lebenswelten und -wirklichkeiten (beileibe nicht nur(post)migrantische) sichtbar, die eben - und da muss ich Martin Baucks vehement widersprechen - bislang kaum vorkamen auf deutschsprachigen Bühnen. was übrigens auch die dort arbeitenden Menschen selbst betrifft. Ein Großteil des Ensembles hätte eben an vielen anderen deutschen Theatern nicht den Hauch einer Chance. Ich frage mich auch, warum immer nur bei positiven Einschätzungen die Gründe hinterfragt werden - und nicht bei denen, die hier bis mindestens an die Grenze zum Hass das Gorki-Experiment in Bausch und Bogen verdammen. Da könnte man fragen, wo diese leidenschaftliche Ablehnung herkommt.
PS: Damit es nicht untergeht: Ich habe den Kirschgarten ebenso kritisch gesehen wie die meisten hier.
nicht den Hauch einer Chance?! Da tun sie den Schauspielern des Gorki aber sehr Unrecht, denn es gibt dort kein Mitglieder des Ensemble, dass nicht zuvor in irgendeiner Form an einem Stadt-oder Staatstheater gespielt hätte. Ebenso behandeln sie die Stadttheater unfair, denn sie geben Menschen mit migrantischen Hintergrund sehr wohl eine Chance. Darüber hinaus zeichnen sie ein falsches Bild unserer Gesellschaft, und dies nur deshalb, weil sie mit unüberprüften Haltungen arbeiten, die unbedingt das Bild des chancenlosen Postmigranten, der immer nur aus einer existentiellen Not heraus handelt, aufrechterhalten wollen, damit sie ihn weiter als Außenseiter bedauern und unterstützen können, was nichts anderes darstellt als eine viel subtilere Form der Ausgrenzung, als sie jeder Ausländerfeind betreiben könnte. - Nehmen sie diese Darsteller und Darstellerinnen ruhig mal wirklich ernst, und begreifen sie vielleicht sogar mal als Konkurrenten, denen sie nicht gewachsen sind, denn damit sotieren sie sich und jene Gruppe endlicher auf einer Ebene ein und bekommen so wirkliche Augenhöhe.
Die Diskussion hat bei mir aber auch ein paar andere Fragen aufgeworfen: Was unterscheidet post-migrantisches, migrantisches und nicht migrantisches Theater voneinander? Und für wen soll es denn gemacht sein?
da es sich um eine postmigrantische Lesart handeln soll, wird dieser Begriff natürlich auch diskutiert.
Wissen sie, was eventuell die größte migrantische Bewegung im Europa der letzten zwanzig Jahre war?
Wahrscheinlich die Abwanderung vieler, in der Mehrzahl weiße Frauen, aus einem aufgegebenen Staat in einen, der sich erst noch finden musste. Gemeint ist die sogenannte Abwanderung von Ost- nach Westdeutschland, die laut Statistiken erst jetzt allmählich verebbt.
Das wäre eine Lesart, die ich dem „Kirschgarten“ empfehlen würde. Eine Ostdeutsche, die nach der Wende abgewandert ist, nach Paris, München oder sonst wohin, und nun, im Alter nach Templin zurückkehrt, bankrott, um sich auf ihrem ehemaligen Hof in der alten Heimat neu einzurichten.
Und was findet sie dort vor? Einen ehemaligen Kombinatsmitarbeiter, meinetwegen sogar mit asiatisch migrantischen Hintergrund, den sie früher hätte nicht mal den Stall ausmisten lassen, kauft ihr den gesamten Besitz für einen Apfel und ein Ei ab, und sie ist völlig machtlos und schaut nur zu.
Das Gorki muss nun eben zeigen, dass es, auch als postmigrantisches Ensemble eine gesamtdeutsche und europäische Verantwortung übernehmen kann.
Warum sollte das nicht gelingen? Eine verrutschte Inszenierung ist sicherlich nicht das Ende des gesamten Hauses.
Wie ein ehemaliger Kombinatsarbeiter zu Geld kommt, diese Frage können sie dann dort auch beantworten. Um es mit Lopachin zu sagen, indem er morgens um vier aufsteht und anfängt zu arbeiten, und das nicht gratis.
Ach so wütend meine ich das gar nicht. Es könnte durchaus eine Komödie nach Tschechow bleiben. Wie viel Tragik darin liegt, mag dann jeder selbst entscheiden.
Lopachin ist eben auch eine Projektionsfläche. Das Angstgespenst des damaligen russischen Landadels und Bürgertums, eben eine fiktionale Figur, wenn sie so wollen, ein Katalysator der cechovschen Dramaturgie.
In einem muss ich ihnen aber doch widersprechen, die Migrationsbewegung Ost, die ja in Budapest und Prag ihren Anfang nahm, war sicherlich nach den Folgen der beiden Weltkriege, und in Folge der Selbigen, die spannenste Bewegung der letzten Jahre überhaupt. Denn diese Migrationsbewegung hat zu einen der größten Umwälzungen der neueren Geschichte geführt, zum Zusammenbruch der Sowjetunion und vielem mehr, zu einem komplett neuen Denken auf fast allen Ebenen und beinahe weltweit.
Und was ist eigentlich mit den ganzen Ostdeutschen, die geblieben sind und sich positive Veränderung, mal abgesehen von der Freiheit der Selbstentfaltung und Möglichkeit wegzugehen, erhofft hatten? Sie diskreditieren mit ihrer Aussage auch ein wenig die Bürgerbewegung in der ausgehenden DDR, die sich ja aus den inneren Spannungen und Konflikten in der DDR heraus entwickelt hatte und zunächst noch den Wandel innerhalb des Systems suchte. Eine demokratische Erneuerung der DDR war das Ziel, nicht hauptsächlich deren Abschaffung. Das Abstimmen mit den Füßen auf der Straße lief natürlich parallel mit mehreren Ausreisewellen über Prag und Ungarn. Letztendlich hat die SED auch auf diesen Druck hin die Grenze am 9. November 1989 geöffnet. Wenn die Ostabwanderung so positive Auswirkungen gehabt haben soll, woran sehe ich die jetzt? Wie bewerten Sie den Stand der Dinge im Osten wie im Westen heute? Gibt es nicht auch eine Gegenbewegung aus dem Westen in den Osten? Da hätte ich schon auch gern mal ein paar Zahlen. Fakt ist, dass durch die EU-Erweiterung in den Osten die Zahl der Migranten, ob nun legal oder illegal, aus dem ehemaligen Ostblock zunimmt. Und da sind wir wieder beim eigentlichen Thema. Ist das nicht die eigentlich Ostabwanderung? Sind West-Europa und Deutschland im Speziellen dieser Migrationsbewegung überhaupt gewachsen, wenn es, so wie Sie sagen, eine starke Wanderungsbewegung im eigenen Land gibt? Sind da nicht Spannungen vorprogrammiert, oder schafft das überhaupt erst Platz für Zuwanderung? NSU oder NSA, was sind die interessanteren Themen für das Theater? Fragen über Fragen. Sie haben mich neugierig gemacht.
ich habe nun mal unter vier Premieren zwei großartige, einen mehrheitlich guten und einen eher misslungenen gesehen (übrigens stehe ich mit dieser Ansicht nicht ganz allein). Das mag Ihnen (und anderen) nicht in den ideologischen Kram passen - die Vehemenz, mit der hier zum Teil "argumentiert" wird, lässt zumindest vermuten, dass es um mehr als um Meinungsverschiedenheiten zur Qualität einer Inszenierung geht. Ich habe keineswegs eine rosarote Brille auf, aber ich bin noch bereit, mich vom Theater begeistern zu lassen, wenn es diesem gelingt. Und das war am Gorki zweimal so. Und was Ihre Meinung zu Herrn Baucks betrifft, so sei Ihnen diese unbenommen. Ich für meinen Teil glaube aber, dass das Gorki das mit der Dramaturgie durchaus selbst hinbekommt. Das Problem mit dem Kirschgarten ist nicht das transponieren in eine Migrationsgeschichte, das widerspricht Tschechow keineswegs. Das Problem lag eher darin, dass Erpulat es nicht geschafft hat, daraus einen stimmigen Abend zu machen. Und um das ganze mal ein wenig runterzuholen: Das "neue" Gorki ist weder das ende noch die Rettung der deutschen Theaterkultur, es fügt ihr lediglich einen wichtigen Aspekt hinzu. Nicht mehr, aber eben auch nicht weniger.
Und wenn ich gleich dabei bin, lieber Herr Baucks: Was Sie zum Migrationshintergrund der deutschsprachigen Theaterlandschaft schreiben, hat mit der Realität leider sehr wenig zu tun. Dass das Gorki-Ensemble schon an Stadt- und sonstigen theatern engagiert war, streite ich nicht ab. Nur wie hoch ist der Anteil von chauspielern mit Migrationshintergrund an solchen Bühnen? Wie viele sind in Deutschland überhaupt unterwegs? Und wie hoch ist der anteil an den Schauspielschulen? Ich habe auch keine konkreten Zahlen, aber man muss sich die Ensembles nur anschauen, um die Botschaft zu bekommen: Das lohnt sich nicht, du kriegst später eh keinen Job. Wie hoch mag die Dunkelziffer, derjenigen sein, die ein Schauspielstudium genau deshalb gar nicht erst versuchen. Wenn das Gorki als einziges die Aufgabe hätte zu zeigen: Ja, es gibt diesen Raum,wir machen euch sichtbar, dann wäre damit schon einiges erreicht.
Und, die Quotendiskussion, die sie nun ausdrücklich ins Spiel bringen - meinen sie das wirklich Ernst? Wollen sie wirklich eine Emma Diskussion aufwühlen, die vor zwanzig Jahren geführt wurde? Und das auch noch im Bereich der Kunst?
wenn man als Regisseur oder Dramaturg oder auch Schauspieler eine Lesart vorschlägt, dann ist das lediglich der Anfang, ein Ansatz für eine Inszenierung. Danach kommt genau das, was sie gerade machen, das Ausformulieren dieser Lesart. Und in der Tat haben sie Recht, dafür ist hier nicht der Raum. Ich wollte lediglich deutlich machen, dass die Gruppe der Migranten im „Kirschgarten“ woanders liegt, eben bei der Gutsherrin, das Lopachin diese Rolle, vertraute man dem Stück, und dies halte ich bei einem Meisterwerk für geboten, nicht zufällt, da er eindeutig seine Scholle, seine Heimat anscheinend noch nie verlassen hat. Mit der Ost- West Abwanderung wollte ich darauf aufmerksam machen, dass es mannigfaltige Wanderbewegungen gibt, die nicht sofort etwas mit der Hautfarbe oder einer Religion zu tun haben. Die türkische Community ist eben nicht die einzige in Deutschland, wohl aber diejenige, die sich vielleicht am besten Gehör verschaffen kann.
Wenn man eine solche Lesart vorschlägt, wie ich es tat, dann geht es auch immer darum, können „wir“ das überhaupt besetzen. Und da muss sich ein postmigrantisches Ensemble schon mal befragen lassen, wieweit ihre Spielmöglichkeiten gehen. Letztendlich kann natürlich immer jeder alles spielen, wenn es ihm sein Talent erlaubt, und Schauspieler haben immer Recht, außer sie spielen schlecht. Aber, wie sieht das aus, würde Tamar Arslan einen ostdeutschen Kleinbauer spielen wollen und können. Dies sollte eine ganz normale Frage sein, denn auch jeder sogenannte deutsche Schauspieler wird in einem Stadttheaterensemble danach beurteilt, was für Spielmöglichkeiten er hat, wie vielseitig man ihn besetzen kann.
Hierzu muss man in der Arbeit des Perspektivenwechsels geübt sein. Und so bewegen wir uns wieder auf den eigentlich Ausgangspunkt zurück. Wenn Tamar Arslan einen ostdeutschen Bauern spielt, wieso sollte dann Wolfram Koch nicht einen alten Türken der ersten Generation spielen?
Ich glaube, das eigentlich Ziel eines postmigrantischen Theaters kann nur sein, einen Punkt zu erreichen, an dem man erkennt, das die Besetzung einer Rolle nicht von der Herkunft abhängig gemacht werden sollte, und das die Herkunft uns nicht automatisch Lesarten und Konzeptionen diktieren darf.
es mag sein, dass es Sinn macht einen Aufsichtsrat nach Qwotenregelungen zu besetzen . Würde dies auch für Schauspielensemble gelten, würde auch das Gorki einer Prüfung nicht standhalten können, allein schon deshalb, weil es mehr Männer als Frauen hat, aber eben auch insgesamt zuviele Schauspieler mit Migrationshintergrund .
Was nun Herr Krieger!?
Ich glaube auch da würde ihnen jeder, der sich dem postmigrantischen Theater zurechnet, zustimmen. Aber genau das ist doch der selbe Grund, warum es zu begrüßen ist, das Im Gorki eben erstmal Raum für die im theater unterrepräsentierte Gruppe von Menschen mit Migrationshintergrund geschaffen wird. Da müssen hier nicht gleich alle Angst vor Quoten haben. Es ist doch z.B: vergleichbar damit, dass ein Rollstuhlfahrer nun eine Rampe bekommt, um in ein Gebäude zu gelangen. Die Gesellschaft hat ihm bisher in form von Stufen eine Behinderung in den Weg gestellt, die nun aufgehoben ist und so vermeintlich gleichberechtigten Zugang gewährt. Der Benachteiligte freut sich natürlich über diese extra für seine Bedürfnisse errichteten Zugang, der ihm endlich Eintritt verschafft.
Trotzdem bestehen immer noch Unterschiede des Eintritts in ein Gebäude. Das mittelfristige Ziel wäre es dann das ein neues Gebäude von vornerein stufenlos gebaut wird, so dass ein Rollstuhlfahrer nicht mehr "eine Extrawurst" bekommen muss und dementsprechend alle faktisch egalitären Zugang zum Gebäude haben. Wenn man jetzt den postmigrantischen Projektraum Gorki als Rampe nimmt, so ist das ein Anfang über den man sich doch eigentlich freuen könnte, auch mit dem Ziel vor Augen, das überall Herkunft keine Rolle mehr spielt und hoffentlich in absehbarer Zeit in allen großen Theatern Menschen mit den verschiedensten Hintergründen eine Rolle spielen.
Nur um es gleich klar zu stellen: Es geht mir natürlich um die von der Gesellschaft herbeigeführte Behinderung/Beeinträchtigung aufgrund von Herkunft/körperlicher Verhasstheit, und nicht darum Menschen mit Migrationshintergrund als bedürftig erscheinen zu lassen. Ich denke nur, dass man schon die Geduld und das Feingefühl aufbringen sollte, zu verstehen, dass das postmigrantische Theater schon noch konkreter (Schutz-)Räume im etablierten Theaterbetrieb bedarf, einfach weil es sich bisher ja nur abseits der großen Bühnen entwickeln konnte und der Zugang nach wievor erschwert wird. Das heißt mitnichten, das es unterschätzt werden sollte und von Kritik verschont, aber es erscheint mir doch etwas vermessen, es gleich danach zu beurteilen, ob es durch perfektionierte Art des Perspektivwechsels und alles was es sonst noch dazu braucht, es sofort schafft, das ganze fremdaufgedrückte System der Kategorisierung nach Herkunft abzuschütteln. (zu wessen das "biodeutsche" Theater bis heute über weite Strecken noch nicht im Stande ist, nicht nur in Form der Homogenität der Mitwirkenden, sondern auch auf der Bühne selbst)
Sven, wenn Sie wissen möchten, warum ich der Meinung bin, dass der Erpulatsche Ansatz grundsätzlich durchaus denkbar ist, lesen Sie doch einfach meine Rezension. Wer, wie Herr Baucks, behauptet, es ginge hier primär um eine Migrationsgeschichte, greift zu kurz und macht es sich zu einfach. Erpulat geht es um das Thema Identität, um Ausgeschlossensein von Bevölkerungsgruppen, um den Kampf für einen Platz in der Gesellschaft. Und wer da die Parallelen zwischen der Leibeigenschaft in Russland und der Situation der einst so genannten Gastarbeiter nicht sieht, dem kann ich auch nicht helfen.
Der Perspektivenwechsel ist für Schauspieler, Regisseure, Dramaturgen und Dramatiker ein zentrales Instrument. Wer es nicht beherrscht, wer nicht von sich abstrahieren und sich in andere hineinversetzen kann, läuft Gefahr ein Leben lang eine Art Selbstdarsteller zu bleiben. Fast alle der Schauspieler am Gorki kommen von den besten Schulen dieser Republik, der „Ernst Busch“, der „Folkwanghochschule“ oder der „Mendelsohn“ aus Leipzig. In der Regel sehr elitäre Schulen an denen man sein Handwerk erlernt. Es ist ungefähr so, als sagten sie mir: Sie können doch nicht von jedem türkischen Maurer gleich erwarten, dass er mit der Kelle umgehen kann! Jetzt aber mal ein bisschen mehr Feingefühl Herr Baucks!“
Allmählich verlagert sich die Debatte auf eine andere Ebene. Sie verliert an Sachlichkeit und bekommt einen moralisch kämpferischen Unterton. Ich kenne diese Art von Druck sehr gut. Sie soll letztendlich eine Form des sachlichen Argumentierens und Denkens begrenzen.
Doch, Herr Valentin, ich erwarte, dass die Schauspieler des Gorkis ihr Handwerk beherrschen und mit der „Kelle“ umgehen können. Nein, ich gehe sogar davon aus, denn ich möchte nicht beleidigend und despektierlich wirken. Wer dort engagiert wird, der kann was, davon gehe ich aus.
Natürlich wollen sie die Schauspieler dort nicht mit Behinderten vergleichen, aber sie tun es.
Fällt ihnen kein besseres Beispiel ein? Als dieses verklemmte, sozialpädagogische Bild der „Behindertenrampe“. Kein körperlich Behinderter verliert seine körperliche Behinderung durch Rampen oder ebenerdige Bauweisen. Viele körperliche Behinderte werden ihnen unmissverständlich sagen: Ich bin anders. Das sehen sie doch.
Es geht wohl eher darum, diese Andersartigkeit als ein ebenso wertvolles Leben zu betrachten, wie das eigene, scheinbar unbehinderte.
Es geht auch nicht darum seine Herkunft (als eine Art Behinderung) zu verlieren, im Gegenteil.
Das postmigrantische Theater arbeitet, wenn ich es richtig verstanden habe, auch an einer postmigrantischen Identität. Das befreit aber niemanden davon Perspektivenwechsel in diesem Beruf vorzunehmen, um ihn überhaupt ausüben zu können.
Sie reden von einer Zukunft, in der alle unterrepräsentierten Gruppen dieser Gesellschaft freien Zugang zu den Theatern bekommen. Von einem Schutzraum. So als ob wir uns in einer Art Kulturkrieg befänden. - Ich würde lieber von Freiräumen reden, denn sich diese in dieser Gesellschaft zu erstreiten, ist viel realistischer, als jene „sakralen“ Schutzräume, die sie denken,
in denen alle gleichberechtigt einem einzigen Grundton von Frieden und Gleichheit feinfühlig hinterher lauschen. Erst Freiräume bieten einem die Möglichkeit sein theatrales Sensorium voll zu entwickeln. Schutzräume definieren sich über eine äußere Bedrohung.
Auf mindestens zwei Plakaten des Gorki finden sie hoch attraktive Frauen, Heldinnen, die leicht bekleidet und bewaffnet freudig ihrem Gegenüber ins Antlitz lächeln. Die eine schwingt ihre Boxhandschuhe, und das ganze Bild kommt daher, als sei es als Werbung für einen Energydrink konzipiert. Ich kennen diese Bildsprache von Red Bull. Und für diese Dame möchten sie eine, im übertragenen Sinne „Behindertenrampe“ bauen? Die legt sie auf die Matte, bevor sie „Piep“ sagen können. Auf dem anderen sehen wir eine Frau in Slip und Shirt, die gerade einen Hasen erlegt hat und uns triumphierend ihre Waffe entgegenstreckt. Nun können sie mir natürlich unterstellen, ebenso wie es wahrscheinlich Herr Krieger tut, ich würde mich von solchen Umsetzungen, wie von dem ganzen postmigrantischen Theater bedroht fühlen. Aber warum sollte ich?! Welche Möglichkeiten hätte ich real mit diesen neuen Heldinnen zu konkurrieren? Und auf welcher Ebene? Einen ebenso sexistischen und konkurrenzfähigen Auftritt kann ich als weißer Mann über fünfzig wohl kaum hinlegen. Und es stellt sich mir auch die Frage, ob ich das überhaupt möchte?
„Nein, ich möchte nicht. Danke, ich verzichte.“, könnte ich jetzt sagen. Aber ich habe schon Lust diese Herausforderung spielerisch anzunehmen, denn es hat etwas Lustvolles, wenn eben gerade nicht zu dieser sozialpädagogischen und sozialdemokratischen „Messe“ geladen wird, der sie sich, lieber Valentin, offensichtlich verpflichtet fühlen. Ich verspüre bei dem neuen Gorki eher Angriffslust der Macherinnen und wahrscheinlich sitzt Tamar Arslan gerade in seiner Garderobe und hält sich den Bauch vor lachen und spottet: Bin ich behindert oder was?! Oder russischer Leibeigene?! Ich bin Schauspieler!
Und da komme ich zu ihnen, Herr Krieger, zu jemanden, der heute, und die Inszenierung spielt ja wohl im „Heute“, ernsthaft Parallelen zwischen russischen Leibeigenen um 1900 und türkischen Postmigranten 2013 sieht. Spüren sie nicht selber, wie verfehlt dieser Vergleich ist? Eventuell sogar abwertend? Aber Argumenten von mir scheinen sie nicht zugänglich zu sein. Und auf eine andere Ebene möchte ich mich nicht begeben.
Neben dem genannten Ziel einer Besetzung und Umsetzung von Inhalten, unabhängig von der eigenen Herkunft, möchte ich gerne noch von Veränderungen von Sehgewohnheiten sprechen,
die durch ein postmigrantisches Theater erzielt werden können; denn es ist in der Tat so, dass durch Quoten im Theaterbereich wenig verändert würde, da, legte man einen Prozentschlüssel zu Grunde, man für die meisten Theater wohl auf eine 2/3 Stelle für einen türkischstämmigen Darsteller käme, ohne Berücksichtigung all der anderen Migrationsgruppen, der dann sowohl die Gruppe der Frauen, Männer, Kurden und Kinder darzustellen hätte, eine milchgebende Wollsau sozusagen, die es nicht wirklich gibt. Da ist es schon richtiger an einem Haus konzentriert die Zuschauer mit neue Sehgewohnheiten zu konfrontieren.
Ob hierzu die Kirschgarten Inszenierung wirklich taugt, wage ich weiterhin zu bezweifeln. Und wer am Ende von dieser Arbeit wirklich erreicht wird, ob es nicht doch wieder die „Falschen“ sind, diejenigen, die eigentlich schon längst alles wissen, ob wirklich neue Zuschauerschichten erreicht werden, steht noch aus.
Sie scheinen den Abend immer noch nicht gesehen zu haben, über den Sie schon so viel wissen. Wollen Sie das nicht erstmal machen?
VL. war der Begriff Schutzraum schlecht gewählt, aber ich wiederhole noch einmal, dass es mir eben nicht um Bedürftigkeit geht sondern um die Möglichkeit einen Zugang zu schaffen(und darum ging es mir ja auch in dem Beispiel mit der Rampe). Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, wie sie davon ausgehend mir vorwerfen wollen, die Leistung der Schauspieler des Gorki zu unterschätzen. Vielleicht spezifiziere ich nochmal: Ich bin lediglich der Auffassung, das es doch vl. eine Überlegung wert sein sollte, Ihre Betrachtungswesie dieser Inszenierung und eventuell auch allgemein zu überdenken. Finden Sie es nicht zynisch, von denen die real den politischen Unstimmigkeiten konfrontiert worden sind, eine Ausklammerung dieser Kämpfe um Anerkennung im Theater zu verlangen? Haben sie wirklich so sehr die Sorge, dass das Theater seinen Anspruch verliert, bloß weil es ein bisschen mehr Lebenswelten von draußen hinein lässt, die vl. auf einem ganz anderen Diskursstand sind, als der, den sie erwarten. Das hat mit der handwerklichen,schauspielerischen Leistung überhaupt nichts zu tun, die mag jeder für sich so bewerten wie er oder sie will, ohne falsche Schonung.
Worum es in dieser Diskussion doch seit Anbeginn geht, ist die Erscheinung, dass sich Kommentatoren anmaßen, sich eben nicht allein auf die künstlerische Ebene kritisch mit dem Stück auseinanderzusetzen (in einem offenen Diskurs, der die Motivation des Regisseurs für die Auswahl des Stoffes zuallererst mal respektiert), sondern scheinbar gerade im bezug auf die Künstler extrem reflexartig auf die Herkunft bezogen wird, so nach dem gefühlten Motto, "oh man der Türke schon wieder, muss der sich den Kirschgarten zurecht biegen um wieder mal die Herkunftfrage zu thematiseren, da sind wir doch schon längst drüber hinaus, mit unserem Diskurs", oder eben "oh man der Türke, der kriegt das gar nicht hin, sich von seiner Rolle zu emanzipieren, dass funktioniert doch ganz anders". Auch wenn sie es nicht direkt so aussprechen, so wirkt Ihre Argumentation auf mich. (das ganze erinnert mich im übrigen ein bisschen an den Protest auf dem O-Platz und die Position der Grünen dazu, in der vermeintlich die Ziele der Flüchtlinge geteilt werden, aber gleichzeitig besser gewusst werden will, wie die Art des Protestes auszusehen hat.) Und damit will ich sie nicht in eine Kategorie werfen und schon gar nicht ihnen unterstellen sich bedroht zu fühlen, sondern sie stattdessen fragen, ob es nicht vl. ein Gewinn sein kann, sich dem offensichtlichen Anliegen, die Herkunftsfrage in Zusammenhang mit Machtfragen (dieser Zusatz fällt in dieser Diskussion etwas unter den Tisch), wieder zu thematisieren (nur eben von "der anderen Seite" her), zu öffnen,ohne zu befürchten, dass das Theater an sich zwangsläufig bei diesem Themenkomplex stagnieren muss. Ich glaube, wenn sie das schaffen würden, dann könnten sie den Anfang machen, in der Reihe der Richtigen, die es trifft.
Den auch wenn Sie sich vl. zu denen zählen, die "eigentlich schon alles wissen" im Bezug auf diese Thematik: ich denke eben gerade der oben erwähnte, subtile Unterschied in der Art der Argumentation sagt sehr viel über den Stand der Gesellschaft im Umgang mit "den Hinzugekommenen".
p.s. Falls Tuba recht, hat würde ich mich im übrigen auch sehr darüber freuen, wenn sie Ihre ganzen Überlegungen in diesem Fall tatsächlich mit der Wirklichkeit konfrontieren.
wie sie den Kritiken und meinen Überlegungen entnehmen können, spricht Einiges dagegen diesen Abend zu besuchen. Ich würde ihn nicht unbedingt empfehlen wollen.
Nur das diese Gründung 1959 stattfand und wir nun über fünfzig Jahre später schon etwas weiter in unserer Wahrnehmung sind und überall Farbige und Postmigranten als weitgehend selbstverständlich anerkennen.
In ihrer Außenwerbung tritt die Gorki-Truppe auf, wie eine amerikanische Football-Gang oder ein Basketball-Team, dass allen Mitgliedern das selbe Label auf die Stirn drückt und keineswegs einer sozialpädagogischen Betreuung bedarf. Sie geben sich kampfbereit, sympathisch und angriffslustig, voller Spielfreude, und das finde ich gut so. Denn das gibt mir die Möglichkeit sie „unbehindert“ kritisieren zu dürfen, womit ich ihnen keinesfalls schade, sondern ihnen vielmehr meinen Respekt erweise.
Und denkt und vergleicht man einmal mit dem Label „Motown“, so eben auch mit allen damit verbundenen Problemen. Denn mit dem postmigrantischen Theater bekommen sie zugleich auch ein „trojanisches Pferd“ in dem etwas mehr drin steckt als eben dieses Theater. Sie erhalten zugleich ein klares Bekenntnis zu einem Marketing und einer Werbung, wie ich sie nur von großen Herstellern führender Markenprodukte kenne. Ebenso erhalten sie einen Repertoiretheater, dass sich geradezu komplett zur deutschen Stadttheaterstruktur bekennt, wie wir es schon kennen. Die Besetzung des Ensembles liest sich spiegelverkehrt zu den Besetzungen anderer Häuser, nur das diesmal die Gruppe der Nicht-Postmigranten in der Minderheit sind, und hierzu gäbe es Alternativen, in dem man sich zum Ziel setzte ein europäisches Ensemble aufzubauen. Zudem sehe ich, dass Shermin Langhoff, in dem sie die Stadttheaterstruktur fast zur Gänze annimmt, ihre Phase in der „freien Szene“, wie so viele andere vor, zum Beispiel Armin Petras, nur als Durchlaufzeit, als Sprungbrett zu einer Stadttheaterkarriere begreift, da sie nur wenig Elemente in den neuen Betrieb hinein transferiert, die dort zum größten Teil schon zum Standard gehören, weil es schon seit längerer Zeit einen Austausch zwischen den Stadttheater und der freien Szene gibt.. Das alles spricht nicht gegen das Haus, aber auch nicht zwingend für das Gorki.
Zudem frage ich mich, wie es mit der Besetzung von Positionen hinter der Kulisse aussieht? Denn bisher sehe ich die Gruppe der Postmigranten hauptsächlich auf der Bühne und in der Intendanz.
Denn Erfolg des Sybille Berg Abends begrüße ich ausdrücklich und ich hoffe ich werde bald die Zeit finden auch diesen Abend zu besuchen.
Lieber PC, seit ich in Dakar im Senegal auf dem Platz der Unabhängigkeit stand, ist mir klar, dass ich in Afrika einer farbigen Minderheit angehöre, und meine Farbe ist "weiß". Ich lernte, das dort "Mischlinge" aus einer Ehe zwischen einem sogenannten "schwarzen" und einem "weißen" Menschen nicht wirklich als "schwarz" anerkannt werden, und so benutze ich also das Wort "farbig", weil es dem, was wir Menschen sind am Nächsten kommt. Wir sind "farbig", so oder so.
Viel weniger verstehe ich, dass sie nicht an das Argument anschließen, dass, wenn Tamar Arslan einen ostdeutschen Bauern spielte, Wolfram Koch auch einen Türken der ersten Generation spielen kann, was nicht viel weniger heißt, als das, wenn ein "Farbiger" sich auf der Bühne "weiß" schminkt, um einen "Weißen" zu spielen, es für einen "Weißen" auch erlaubt sein sollte, sich "schwarz" zu schminken, um eben einen "Farbigen" zu spielen.
Das sieht mir eher nach einer ideo-logischen Verwicklung in der Grauzone der P.C. aus. PoC bedeutet z.B. People of Colour. Was ist nun schwarz und was ist weiß? Alles nur Begriffe.
@ martin baucks: Beim Thema Schminken denke ich als Erstes an Kosmetik oder Fasching. Und ob nun weiss oder schwarz geschminkt, das sagt noch lange nichts über den Menschen und seine Erfahrungen aus. Das geht nur über die Sprache. Davon kann man/frau erzählen. Auch ohne Schminke. Was möchtest du sein, fragte der Maulwurf die Giraffe.
Gehen wir weiter am Weinbergpark vorbei bis zur Anklamer Straße in Richtung Bernauer, finden wir in der ehemaligen Privatsynagoge Bethzion heute eine Talmudschule. Dort kann man an heißen Sommertagen, bei geöffneten Fenster, orthodoxe Juden, unter Polizeiaufsicht, beim Beten beobachten. Ein schon etwas anderer Eindruck, der sich nicht so nahtlos in das Bild der Buntheit und Banalität des Guten eingefügt. Denn gegenüber der Talmudschule befindet sich ein Nachtshop der von zwei Afrikanern geführt wird. Und hier am Biertisch beim Sternburger Export kann man schon mal die ein oder andere antisemitische Äußerung, wenn auch leise ausgestoßen, vernehmen.
Gehen wir weiter und queren die Bernauer, wird es nicht unbedingt gemütlicher. Nicht nur, dass man den ehemaligen Mauerstreifen hinter sich lässt, mit dem man die ein oder andere schlechte Erinnerung verbindet, hat man nun auch eine soziale Grenze überschritten, die bis zum Gesundbrunnen immer deutlicher zu spüren wird. Meine rumänische Bekannte, die selber an einem Theater für die deutsche Minderheit in Temesvar als Schauspielerin arbeitet, und an deren Nachnamen man überdeutlich ihre türkisch ungarischen Wurzeln ablesen kann, berichtete mir über dieses Areal, selber Ausländerin dort, nur vorwurfsvoll: „Da ist ja alles voll von denen. So was gibt es bei uns nicht.“ ,so als ob ich höchst persönlich für sie dort im Wedding nicht genügend meine eigene, deutsche Nation verteidigen würde.
Zwar war auf unserem Spaziergang bis zur Bernauer auch alles voller Ausländer; aber eben nicht diese Ausländer in der Vielzahl, die „Türken“ eben, oder diejenigen, die man dort leicht für solche hält.
Je tiefer wir in den Wedding eindringen, um sehr mehr verstehen wir, dass wir uns in einer Art „Ghetto“ bewegen, in dem wieder ganz andere Regeln gelten als am Hackischen Markt. Hier kann ein Blick durchaus schon mal bedeuten: „Was will der Deutsche hier! Der hat doch jenseits der Bernauer sein eigenes Viertel. Warum verlässt er es?“
Weltoffenheit nützt einem hier zuweilen nur bedingt, denn hier grüßt man sich hauptsächlich innerhalb der Community und geht ansonsten achtlos und voller Ghettostolz an einander vorbei.
Alles was man in Mitte noch vorfindet, gibt es hier anscheinend nicht mehr, keine einzige Bio-Company und auch keine elektronischen Carsharing Vehikel. Stattdessen fette BMW´s und dicke Mercedes Benz. Hier feiert sich das Klischee selbst und lüftet nur hier und da ein wenig seine Pforten.
Wer hier wen diskriminiert, ist kaum noch auszumachen.
Findet man hier das Publikum von Shermin Langhoff (?), fragt man sich, ein Publikum, das die postmigrantische Lesart von Cechov´s „Kirschgarten.“ eines Nurkan Erpulat zu verstehen weiß?
Und unverhohlen schmettert einem die innere Stimme ein heftiges „Nein!“ entgegen. Dieses Publikum wird eventuell sogar gerade von jener Lesart vom Theater ausgeschlossen, sozusagen doppelt ausgegrenzt von den eigenen „Schwester und Brüdern“.
„Halt! Halt!“, ruft da die innere Stimme, ich will jetzt sofort zurück in meine schöne Welt der „Banalität des Guten“, wo ich alles schon so bunt zu wissen glaube und meine Werte und ausländerfreundlichen Gedanken längst selbstverständlich sind. „Bitte nicht weiterdenken, lieber Hirnkasten.“ Aber irgendwie spüre ich hier im Wedding meine Herkunft, meine Art der Farbigkeit so deutlich, wenn auch nur latent, und meine Gedanken schweifen weiter: „Warum spielt das Theater von Shermin Langhoff eigentlich vor einem, im übertragenen Sinne, weißen Publikum?“
„Schluss jetzt! Absolutes Denkverbot! No go Area!“
„Überall wo es Ausländerhass gibt, werden Ausländer auch diskriminiert und zwar allerorts.“, so heißt die Faustregel der banalen „Gutmenschen“. „Ausländern untereinander lieben sich, alle, egal welcher Herkunft, und grenzen sich schon gar nicht gegeneinander aus. So etwas gibt es nicht. Und es absurd das einer Shermin Langhoff vorzuwerfen. Pfui! Blödes Gehirn.“ Und schon ist die Welt wieder in Ordnung.
Shermin Langhoff fischt ihr Publikum aus dem bunten Haufen der Humboldt Universität mit Stücken von Sybille Berg, dort sind ja auch viele ausländische Mitbürger, und der Wedding ist eben, was der Wedding ist, auch wenn er offiziell mit Berlin Mitte einen Bezirk bildet. Leise hört man noch das Echo der schon halb verfallenen Gedanken während eines Spaziergangs durch den Wedding, die sich aber mit Leichtigkeit bei einem Glas Wein im Café Oberholz auf dem Rückweg am Rosenthaler Platz, verdrängen lassen.
War da was? - Ja, da war was. Es gibt eine Verschiebung der Regeln von Berlin Mitte, wo sich das Gorki befindet, hin zum Wedding, die man ganz genau beschreiben müsste, und der man mit Logik und PC nur bedingt bei kommen kann. „Und warum eigentlich hat Shermin Langhoff bis jetzt noch keinen türkischen Autor oder Autorin spielen lassen, flammt die Debatte wieder in einem auf.“ Doch ganz schnell hat man diesen Aspekt in einem zweiten Glas Wein ersoffen, denn noch angreifbarer vor sich selbst, will man sich heute nicht mehr machen.
Das Prekariat mit deutschen Wurzeln ist in der BRD schon lange abgehangen worden und kein ernsthaftes Thema mehr. - Aber darum geht hier nicht.
In Burkina Faso gibt es ein Operndorf, dass direkt vor Ort auf die Verhältnisse einwirkt und selbst diese Arbeit wird hier kritisiert, weil ihr ein bestimmtes Siegel fehlen soll.
Wirkt das Gorki im Wedding? Oder entzieht es sich dieser Aufgabe Haken schlagend? Ist die Frage. Was verbirgt sich hinter dem Siegel oder Label Gorki? Wird dort tatsächlich eine Integrationslücke geschlossen? Oder der persönliche Erfolg einer Intenadntin gefeiert, die ja schon mit einem Fuß beinahe die Salzburger Festspiele betreten hätte?
Lese ich heute die "Zeit", werde ich den Eindruck nicht los, dass der Adressat dieses Theater nicht unbedingt der Migrant oder Postmigrant ist, sondern, dass hier einem herkömmlichen Publikum dankbar der schwere Vorwurf, sie würden ausländischen Bürgern den Weg zum sozialen Aufstieg verstellen, abgenommen wird, und hierfür bedankt man sich wiederum allerseits höflich in den Feuilletons mit wohlwollenden Kritiken, die momentan ebenso wenig in die Tiefe gehen wollen, wie das Gorki selber.
Natürlich ist es ein alter Hut, dass das Theater nie dort ankommt, wo es wirken wollte. Das wissen wir schon von Brecht und anderen Bemühungen. Um so mehr ist es verpflichtend, die eigene Vergeblichkeit mit zu thematisieren, denn sie wird die Hauptlast der zukünftigen Arbeit am postmigrantischen Theater sein. Eine Last, die man nicht so leicht wenden kann.
Und noch eine Verständnisfrage: Was meinen Sie mit folgendem Satz: "Ich glaube, wenn sie das schaffen würden, dann könnten sie den Anfang machen, in der Reihe der Richtigen, die es trifft."
Ich weiß nicht, wie oft sie schon das Ballhaus Naunynstraße besucht haben, aber Menschen, die dieses Projekt auf die Beine gestellt haben, als allererstes zu unterstellen, man reflektiere nicht, für wen man denn nun Theater mache, halte ich für äußerst gewagt. Gerade im Bezug auf den von Heiner Friedrichs bereits erwähnten, richtigen Einwand, dass man dass ja nun erstmal pauschal fast allen deutschen Stadttheatern vorwerfen könnte. Und an dieser Stelle scheint es mir wieder mal, das postmigrantische Theater hier in eine Situation gedrängt bzw. an gewaltigen Ansprüchen gemessen wird, an denen in der momentanen Anfangsphase nur scheitern soll. Das postmigrantische Theater hat sich nach meinem Verständnis zuallerst mal die Aufgabe gesetzt, dass das etablierte Theater und die deutsche Gesellschaft mit ihrem institutionellen Rassismus konfrontiert und als Projekt selbst versucht, zunächst eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen und spätestens seit diesem Jahr sich dem System einzuverleiben und es aus sich heraus zu verändern.
Den Anspruch, ein Theater zu schaffen, dass nicht nur unabhängig von Herkunft sondern auch von Schicht und Milieu existiert, ist dann noch mal eine ganz andere, weitaus anspruchsvolle Sache.
Und abgesehen davon, ist es ja nun nicht so, dass sich das postmigrantische Theater grundsätzlich diesem nicht stellt, im Gegenteil. Es geht aber doch um zwei verschiedene Ebenen: Die eine Ebene ist die der Theaterarbeit im Milieu selber und diese wurde wie gennant unter anderen von Menschen betrieben, die jetzt im Gorki angekommen sind (wo also durchaus ein Bewusstsein für die Herausforderung dieser Arbeit besteht) bzw. wird ja auch weiterhin im Namen des postmigrantischen Theaters betrieben. Die 2.Ebene ist die, die nun mit dem Gorki erstmals in größerem Zusammenhang beschritten wurde: Die Öffentlichkeit des deutschen Stadttheaters und die setzt sich nunmal nachwievor aus dem Bürgertum zusammen, wie auch immer das nun geartet ist(Ich bin der festen Überzeugung, es ist nach wie vor heterogen und durchaus auch konservativ, d.h. nicht nur von vermeintlichen "Gutmenschen" dominiert). Es ist in jedem Fall die richtige Adresse für den obengenannten Anspruch des postmigrantischen Theaters, institutionellen Rassismus aufzudecken und anzuklagen. Und genau diese 2. Ebene ist ja durch viele Momente mit der ersten verknüpft und schafft damit Potential für eine Öffnung des Theaters über Milieugrenzen hinweg. Zum einen ganz praktisch, in dem das Gorki ja unter anderem mit den Projekten "im Kiez"(Ballhaus Naunynstraße etc) kooperiert bzw. kooperieren will. Und zum anderen eben auf der Ebene des Stadttheaters selber durch ein politisches Theater, wessen Kritik ja vor allem eine Kritik an einer Politik ist, die Ghettoisierung überhaupt erst zugelassen hat. Stichwort: "Wir wollten Arbeiter und es kamen Menschen". Das ist ja nicht bloße Kritik an Rassismus an sich, sondern es legt darüber hinaus natürlich die Funktion des Rassismus für die Unterdrückungsmechanismen des ganzen, durch eben jene Bürgerschicht legitimierten kapitalistischen Systems offen, welches die Parallelwelten, (die unzweifelhaft momentan nur unglaublich mühsam wieder zusammenzuführen sind oder bereits endgültig voneinander abgeschottet sind) erst produziert bzw. provoziert hat. (Es behauptet ja auch nicht, um abermals ihre "Gutmenschen"-these zu widerlegen, dass mit der Überwindung von Rassismus, dieses System als solches überwunden wäre. Aber durch eben jenes Offenlegung der Prozesse, können die Zusammenhänge von "Wahrheit", (Diskurs-)Macht, Selektion und Unterdrückung sichtbar gemacht werden. Und genau das bringt im Bezug auf den künstlerischen Wert des Theaters eine unglaublich wichtige Qualität hervor: Aktualität
Weder ein Schwelgen im
@Inga: Ich unterstellen Ihnen nichts, ich weise sie nur darauf hin, dass der Unterton, den man ja selbst beim schreiben vl. gar nicht so wahr nimmt bzw. bewusst wählt, durchaus so gedeutet werden könnte. Ich attestiere Ihnen wenn überhaupt eine Verblendung bzw. ein fehlendes Gespür für die Figur des Unterdrückten/Ausgrenzten. Sie können diesem Menschen noch so lange weiß machen was es heißt Herkunft zu überwinden, er selber wird Ihnen vl. gar zustimmen und dennoch durch seine Erfahrungswerte in der Konfrontation mit dieser deutschen Gesellschaft so geprägt sein, dass es ihm höhnisch vorkommen mag, dass ihm nun ein Mitglied eben dieser Gesellschaft versucht das Gegenteil zu vermitteln. SIe unterschätzen schlicht die Prozesse, die im Gang getreten werden, sobald ein Mensch stigmatisiert wird. Die können sie nicht mit ihren pädagogischen Respektflosklen einfach so ausschalten, als wäre nix gewesen.
Und das ist wiederum stark verknüpft mit meiner These, es würde mit Ihnen und Hrn. Baucks als Verfechter einer Befriedung der widersprüchlichen Realitäten den Richtigen treffen: Ich bin der Meinung, dass eine ideologisch dogmatischer, in der Ignoranz gegenüber der Lebensrealität und Hintergründe der Akteure arrogante Bewertung emanzipatorischer Bewegungen, die gesellschaftliche Kämpfe sichtbar machen, öffentlich austragen und reflektieren (sei es im Theater, auf der Straße oder sonstwo), genau so billig zu haben ist wie das Ausruhen auf heuchlerische Toleranz, und (und damit wären wir wieder am Eingang meines Kommentars) genauso wie letztere durch die postmigrantische Intervention in Frage gestellt werden kann.
Wie Sie und ich in die Welt schauen, so schaut sie zurück. Und wenn Sie überall nur "Unterdrückte" sehen wollen, machen Sie gerade damit die Menschen nicht nochmals bzw. doppelt zu "schwachen Opfern"? Und ist das eine gute Kategorie, um Menschen in ihren Anliegen zu stärken?
Ich möchte niemandem weis machen, was es heisst, Herkunft zu überwinden. Ich verstehe auch gar nicht, warum ich oder mein Gegenüber etwas überwinden soll. Es gibt in meinen Augen weder die Vererbung eines "ewigen Opferstatus" noch die Vererbung eines "ewigen Täterstatus". Mit dieser Thematik hat sich übrigens auch Yael Ronden mal ganz wunderbar gelungen auseinandergesetzt, in ihrer Inszenierung "Dritte Generation".
Und warum schreiben Sie von "Befriedung" der widersprüchlichen Realitäten? Gibt es da denn einen Krieg? Ist Krieg eine Lösung? Ich stimme Ihnen zu, dass unterschiedliche Haltungen und Positionen manchmal einfach nicht in totale Harmonie bzw. EIN Weltbild aufgelöst werden können. Das muss aber auch nicht sein. Man kann das auch einfach mal so stehenlassen. Das ist für mich Respekt. Respekt der radikalen Andersheit meines Gegenübers, ob nun mit oder ohne Migrationshintergrund. Ich stimme Ihnen auch zu, dass Charity allein nicht hilft, aber es ist immerhin ein Anfang. Charity als Bewusstseinssäuberer dagegen nicht. Und ich möchte Ihnen auch gern noch einen Satz aus "Dox. European Documentary Film Magazin" vom Frühjahr 2013 mitgeben: "People do prefer to reach their own conlusions and are more likely to act upon them than when they feel preached to or guilt-tripped". (Tómas Sheridan, writer-director)
ganz im Ernst, sie sind ein moderner Rassist. Nicht nur, dass Sie das plurale Wesen des Rassismus in seiner Vielgestaltigkeit für sich nicht erkennen wollen, auch scheinen sie keinen schwarzen Rassismus zu kennen, und sie wollen sich schon gar nicht der erschütternden Erkenntnis stellen, dass es auch Rassismus von Schwarzen unter Schwarzen gab und gibt, und das nicht nur in Südafrika.
Nicht nur, dass sie ständig versucht sind andere zu überführen und zu verdächtigen, wie es jeder gute Rassist tut, sie unterstellen dem gesamten deutschen Volk einen institutionellen Rassismus und argumentieren hierbei mit vorgefertigten Ergebnissen, die immer nur zu einem Bild führen können, und jeden in den von ihnen angenommenen Rassismus zurückdrängen. Vorgefertigte Ergebnisse und Denkungsarten über ein Volk, eine Gruppe sind aber eben die wichtigste Grundlage für jeden Rassisten.
Und so muss ich ihnen sagen, diesen festen Block deutscher Rassisten gibt es so nicht. Und hierin, in dem festen Glauben, es gäbe solche kollektiven Eigenschaften, liegt eben ihre Auffassung eines modernen Rassisten, der geradezu biologistisch einer ganze Rasse eine homogene Eigenschaft auf Grund ihrer Biologie, ihrer Herkunft und Zugehörigkeit und zuletzt ihrer Hautfarbe unterstellt.
So etwas ist Rassismus in seiner schlichtesten Form.
Erschwerend tritt hinzu, dass sie nicht ergebnisoffen denken wollen, denn sie kennen ihr Ergebnis schon und schreiben es einzig einer Gruppe zu, den weißen Deutschen. Wohl wissend, dass Rassismus keine Einbahnstraße ist, sondern stets in mindestens zwei, wenn nicht sogar mehrere Richtungen verfährt. Das es unter Türken Menschen geben könnte, die die "weiße Rasse der Deutschen" eben so verachten, wie sie, kommt in ihrem Denken nicht vor.
Und wiederholt unterstellen sie dem Gorki die Kompetenz von Anfängern, obwohl sie selber beschreiben, dass diese Gruppe schon jahrelang in Kreuzberg arbeitete und alles andere, als am Anfang steht. Und somit ist es gut an diese Gruppe ganz normale, und hin und wieder auch höhere Ansprüche zustellen, die ich dem Gorki zutraue, die ich nur noch nicht eingelöst sehe Die selben hohen Forderung stelle ich an sich an die Hochkultur und es gibt keinen Grund von diesem Anspruch zurück zu treten.
das ist mir beim Lesen des eigenen Kommentars auch aufgefallen. Ich hätte den Begriff "weisse Rasse der Deutschen" mindestens in Anführungsstriche setzen sollen, vielleicht holt die Redaktion noch nach. Eigentlich hätte ich ihn sofort in Frage stellen müssen. Aber so ist das eben mit solchen Blogs, man schreibt schnell und befindet sich mit in einer Debatte.
Historisch auf der Stelle treten? Mmh, ich denke nicht. Allmählich fängt man doch an dieser Gesellschaft eine wachsende Durchlässigkeit für Migranten, Postmigranten, Frauen und anderen zuschreiben zu müssen. Es wäre ein wenig unfair hier gleich auch das neue Gorki anzuführen, weil man leicht in einen Zwiespalt zwischen Ursache und Wirkung geraten könnte, aber gänzlich falsch wäre die Nennung auch nicht.
In sofern glaube ich nicht in eine Falle getreten zu sein.
(Anm. Redaktion: Die Anführungszeichen @103 sind eingefügt.)
(...) Ich weiss ja auch nicht, was Sie so dermaßen umtreibt, dieses Theater schlechtzuschreiben. Sie schwingen nach einem Eröffnungswochenende eine Moralkeule, indem Sie den migrantischen Künstlern an diesem Haus ihrerseits einen etwaigen Rassismus gegenüber deutschen vorhalten. Das ist lächerlich (...). Die Familie der Ranjewskaja setzt sich bei Erpulat nicht ja bloss aus deutschstämmigen Schauspielern zusammen. Das ist kein Detail, das man unerwähnt lassen sollte. Und die ständigen Vergleiche mit russischen Migrationsbewegungen und der Verweis, man könne nicht dies auf das anwenden, zeugen doch schon von einer gewissen Kleinlichkeit und Phantasielosigkeit Ihrerseits. Im Theater sollte eben vieles, wenn nicht sogar alles möglich sein. Mit ALLEN Texten! Ansonsten kann man es sich ja vorlesen lassen. Mit Grüßen. K.B.
es ist wirklich bemerkenswert mit welcher Verve und welchem Durchhaltewillen Sie kritisches selbstreflexives Denken hier versuchen zu verteidigen. Allein die inkriminierende Terminologie, die gegen Ihre Einlassungen vorgebracht wird, läßt nicht darauf schließen, dass hier von einigen der Wille zum Dialog aufgebracht wird. Das Denken ohne Geländer ist dann wohl doch für die, die sich der Banalität des Guten zuordnen zu viel verlangt.
Ich bin wirklich begeistert davon, dass hier ein Mal tiefer über postmigrantisches Theater nachgedacht wird, als man es aus dem journalistischen Tagesgeschäft kennt (leicht erkennbar auch an bekräftigenden Schimpfwörtern wie verdammt noch mal - da schimmert der Gabriel gleich mit durch)
Für wen wird am Gorki eigentlich gespielt. Ich würde behaupten für die gleiche Oberstudienräte und Lokal- wie Bundespolitiker die aucb in Verrücktes Blut (das Beste Hübnerstück seit langem) in der Naunynstraße gepilgert sind. Also Leute, die gerne ein wohliges Gefühl des Rechthabens nach dem "Kunstgenuß" mit nach Hause nehmen. Datt ist wertvoll!
Ich hab mich bereits weiter oben auch ein wenig darüber gewundert, warum Herr Baucks die drei Betreiber eines "Nachtshops" oder nicht besser doch "Spätis" (das ist Berlin) als "Afrikaner" bezeichnet. Diese Bezeichnungen sind das Schwierige. Und zugleich das Reflexhafte. Vielleicht könnte man die drei ja auch einfach Berliner nennen? Lokalität und Regionalität zählen, auch und besonders in Zeiten der Globalisierung, inzwischen ja sowieso wieder mehr als Nationalität bzw. (wiederaufkommende) Nationalismen. Es geht, glaube ich, auch vor allem um die Selbstbezeichnung. Wenn ich gefragt werde, wo ich herkomme, dann sage ich ja auch nicht zuerst das Land, sondern die Stadt, in der ich aufgewachsen bin. Und das muss nicht damit übereinstimmen, wo ich geboren bin. Miteinander sprechen, darum geht's. Ich weiss manchmal auch nicht, wie ich meinen Nachbarn nennen soll, vor allem, wenn ich den (Vor-)Namen nicht kenne: Türkisch, türkischstämmig, deutschtürkisch, deutsch? Echt schwierig. Und das geht mir bei jedem postmigrantischen Hintergrund so. Deswegen ist er für mich erstmal ein Berliner.
Mit "nicht vom historischen Fleck" kommen meine ich die unter dem Oberbegriff "Rassismus" in unserer Gesellschaft geführte Debatte. Wir meinen moderne Umstände und verwenden ein Vokabular und lassen Zusammenhänge mitschwingen, die auf der Humangenetik des späten 19. Jahrhunderts und Darwins "The Descent of man..." basieren. Das ist ziemlicher Quatsch.
Ich stimme Ihnen zu: wir sind bereits eine weitgehend offene und gleichberechtigte Gesellschaft (auf jeden Fall im internationalen Vergleich) und verbessern uns weiter.
Bei meinem nächsten Besuch in Berlin freue ich mich darauf, das Gorki zu besuchen und mir ein Bild aus erster Hand zu machen.
http://www.zeit.de/politik/deutschland/2013-11/grosse-koaltion-fluechtlinge-einwanderung-kommentar
Es ist doch wirklich Zynismus, solche Behauptungen aufzustellen. In was für einer Scheinwelt leben Sie bitte? Abgesehen davon, dass ich es gerade im internationalen Vergleich für äußerst gewagt halte, Deutschland als Paradebeispiel einzustufen, macht es doch überhaupt keinen Sinn sich auf diesen verkürzte Gegenüberstellung von Nationen einzulassen . Natürlich wird man immer Länder finden, die vermeintlich eine"ungleichberechtigtere" Gesellschaft haben, aber das ist ja oftmals schlicht Ausdruck von schweren wirtschaftlichen Problemen und sicherlich nicht als Maßstab für die deutschen Verhältnisse zu nehmen.
Auf Ihre wirren Phantasien von Germanophobie und biologistischen Rassismus Herr Baucks, und anderen Unterstellungen(habe ich irgendwo Rassismus von "Nicht-Deutschen" negiert?; es war hier schlicht nicht Thema.) , die wirklich nur schwerlich irgendeinen Bezug zu meinen Beiträgen hier haben, brauche ich glaube ich nicht näher ein zu gehen. Sie entlarven ja sich selbst wunderbar als denjenigen der von seinem engstirnigen Anspruch an die Hochkultur nicht abweichen will und im Angesicht der Bennenung von offensichtlich der deutschen Gesellschaft innenwohnenden Diskriminierungsmechanismen, gleich alle reflexartig alle Register zieht, in Sachen, "ja aber die anderen machen das ja auch". (Natürlich ist alles komplex und pluralistisch und dennoch entpolitisieren sie die Situation wenn sie sich grundsätzlich jeglicher Benennung verweigern).
Es wirkt schlicht so, als möchte da jemand die privilegierte Situation, aus der ein abgehobener Diskurs über die Überwindung von Herkunft erst möglich wird, schlicht nicht hinterfragen. Dass sie die Lebenswelten von Menschen die dieses Privileg eben nicht haben, weil sie sich permanent mit der Reduzierung auf Herkunft konfrontiert sehen, einfach ignorieren, kann verstehen wer will, nötig hätten sie es nun wirklich nicht. Und glauben Sie mir, von diesem hohen Ross runterzukommen, muss noch lange nicht heißen seinen künstlerischen Anspruch zu verlieren, im Gegenteil, das stößt ganz viel Neues an.
Meine Erlebniswelt beinhaltet überdurchschnittlich viel Kontakt mit nicht-deutschen Menschen und Kulturen und ich glaube auch bei weitem überurchschnittlich viele Menschen zumindest oberflächlich zu kennen. Vielleicht ist es nur einer von vielen möglichen Lebensumständen in diesem Land, aber eine Scheinwelt ist es nicht. Den Artikel aus der Zeit lese ich gerne und komme falls es sich lohnt darauf zurück.
Welcher Staat ist denn aus Ihrer Sicht fortschrittlicher als Deutschland?
es ist nachvollziehbar, dass sie sich nicht mit Vorwürfen auseinandersetzen wollen, die sie gleichwohl anderen zumuten. Aber gerade diejenigen, die für sich niemals in Betracht ziehen rassistische Empfindungen zu haben, sind natürlich ebenso jene, die sich nicht selbstkritisch hinterfragen, jeden Angriff als wirr abblocken und schlicht meinen, sie alleine setzten die Themen, weil sie ja die "Guten" sein. Dieser Manichäismus hat mich schon immer gelangweilt und sie sind ein recht guter Vertreter dieser Art. Nichts desto Trotz bleiben meine Vorwürfe erhoben und eventuell sollten sie sich selber einmal von ihrem hohen Ross herunterbegeben und sich mit ihnen auseinandersetzen und sich ein wenig die Füße schmutzig machen, in der Unberechenbarkeit der eigenen Empfindugen.
Lieber Herr Baucks, nach dieser doch recht ausführlichen Diskussion, wie auch immer man sie nun bewerten mag, würde ich sie zu guter letzt noch einmal ermutigen, sich dazu bequemen, den ursprünglichen Gegenstand dieser Diskussion, den Kirschgarten von Erpulat zu Gemüte zu führen. Kann doch eigentlich nach all den großen Tönen nicht schaden, oder?
Mit besten Grüßen
Ihr Sozialpädagoge/Sozialdemokrat/Gutmensch/moderner Rassist/ wie es Ihnen auch immer beliebt
@ Valentin: Warum nicht einfach mal "open for everything" postulieren? Als utopisches Denkmodell, welches sich positiv auf reales Handeln auswirkt? Ich verstehe Ihre Argumente in Bezug auf die Asylrechtsproblematik in jedem Fall. Aber davon abgesehen, ist die Situation von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland doch nicht immer nur schlecht, oder? Das Thema der "Reduzierung auf Herkunft" wird für mich genau da widersprüchlich, wo ich mich frage, ob dieser Begriff der Reduzierung einen Menschen(!) darüber nicht gerade ex negativo in dieser EINEN Rolle fixiert. Ich empfinde Ihre Argumentation auch da als schwierig, wo Sie behaupten, dass "alle Privilegierten" so denken würden. Oder habe ich Sie da missverstanden?
Ich empfinde Konstantin Weckers aktuellen "Aufruf zur Revolte" diesbezüglich etwas offener, auch wenn er zugleich klar formuliert, wo seine Sympathien liegen:
"Trotzdem sehen wir Unternehmer und Eigentümer nicht per se als Gegner an. Wir kennen fabelhafte Unternehmerpersönlichkeiten mit einem ausgeprägten sozialen Verantwortungsgefühl. Es gibt Öko-Unternehmen, deren Wirken wir nicht anders als segensreich nennen können.
Diese Haltung mag uns Kritik aus dem Lager der Marxisten einbringen. Einmal, weil Ausbeutung in erster Linie keine moralische Kategorie ist, sondern ein soziales Verhältnis zwischen Menschen, in welchem der eine die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel hat, und die anderen haben sie nicht. Zweitens muss die Tendenz zur Zentralisation und Konzentration des Kapitals in einer auf Konkurrenz basierenden Marktwirtschaft immer aufs Neue zur Herausbildung von Monopolen führen.
Das sind nun sehr richtige Argumente, denen wir uns nicht verschließen. Wir stehen einer Menschenfreundlichkeit Marke Bill Gates mit feindseliger Skepsis gegenüber, und ziehen Kooperation dem Konkurrenzprinzip als Gestaltungsmechanismus jederzeit vor.
Unsere Lebenserfahrung zeigt uns aber sehr deutlich, welche Menschen Bündnispartner einer besseren Welt sind und welche nicht. Entscheidend sind für uns die moralischen Qualitäten, die Haltung in konkreten Situationen, Fragen des Charakters, die gewissermaßen philosophische Bilanz eines Lebens. (…)
Solidarität! Der Schritt zu einer globalen Demokratie kann nur eingeleitet werden, wenn wir uns von nationalen Identitäten lösen und Homophobie, Frauenunterdrückung und alle anderen Diskriminierungsformen ein für alle Mal auf den Müllhaufen der Geschichte werfen, die Menschen die Art und Weise ihres Menschseins diktieren oder absprechen wollen. Nur so wird genug Einigkeit entstehen, um dem drohenden sozialen Apartheidstaat ein massenhaftes Aufbegehren entgegenzusetzen."
In voller Länge nachzulesen hier: http://www.nachdenkseiten.de/?p=19445
auch wenn es hier ursprünglich um ein anderes Stück und um eine andere Inszenierung ging/geht, vielleicht soviel zu Ihrer Erhellung: Die Autoren des Stückes "Verrücktes Blut" sind Nurkan Erpulat und Jens Hillje. Ihr Stück adaptiert eine frenzösisch-belgische Filmproduktion aus dem Jahr 2008 ("La journée de la jupe"). - Ich kann es mir nicht verkneifen: Das hätten Sie sehr leicht "ergoogeln" können ....
Schön finde ich übrigens, daß das Gymnasium im Film den Namen Collége Maxim Gorki trägt ...
Keine Sorge, ich habe viel mitgenommen aus diesem Gespräch auch für die eigene Reflexion. Und ich befürchte, das man in dieser Gesellschaft, schlicht kein "Guter" werden kann, es geht da eher um Ehrlichkeit am eigenen Scheitern.
Aber irgendwann, spätestens dann wenn Sie zu Ihrem Ausgangspunkt zurückkehren und in Paranoia von Deutschenhass verfallen, und gar nicht erst darauf eingehen, dass es mir um etwas ganz anderes ging, nämlich Rassismus als Ausdruck von Selektion im Kapitalismus, ja spätestens dann glaube ich, dass das hier zu nichts weiter führt. Gibt es Ihnen tatsächlich nicht zu denken, dass ausschließlich sie es sind der hier mit Kategorien geradezu um sich wirft?
Sehen Sie es mir nach, aber wenn Sie nun schon meinen, sich an mir zu langweilen und anstatt sich das Stück mal anzusehen stattdessen weiter über das große Ganze palavern wollen, dann fördert das schlicht nicht mehr die Laune.
Vl. ein letztes Mal noch, einfach weil es so fassungslos macht, wie Sie gesellschaftliche Umstände ignorieren, möchte ich nochmal ihre Utopie vom gerechten Leistungsprinzip auf die Realität prallen lassen:
"Zugang zu der deutschen Hochkultur erhalten weiterhin nur diejenigen, die sich um eine bessere Bildung bemühen"
vs.
http://www.taz.de/!89423/
http://www.sueddeutsche.de/karriere/bildungsbericht-schlechtere-chancen-fuer-junge-migranten-1.961199
etc. p.p.
@wolfgangk: wie gesagt, bei so einem Vergleich wird nicht viel aussagekräftiges bei rum kommen, immer kann man berechtigterterwiese manglende Vergleichbarkeit anführen. Aber wenn sie es unbedingt wünschen, würde ich Schweden anführen, zum einen wegen des gerechteren Bildungssystems aber auch allein schon wegen der konsequenteren Gewährung von Asyl, gerade abermals demonstriert durch die hohe Bereitschaft zur Aufnahme von syrischen Flüchtlingen. In dieser Hinsicht(Aufnahme von Flüchtlingen pro Einwohner) ist Deutschland in Europa bescheidenes Mittelfeld, obgleich eines der reichsten Länder der EU.
Und Ihr Zitat möchte ich leicht abgewandelt hinstellen: Interesse an Hochkultur haben nur diejenigen, die sich um eine bessere Bildung bemühen.
Nichts für ungut, das Gorki werde ich gerne und mit positiver Erwartung besuchen.
was immer sie auch so fassungslos macht, hier habe ich mal einen kleinen Artikel für sie, den sie genau studieren sollten, bevor sie anderen Paranoia vorwerfen und weiter ihre Kapitalismuskeule schwingen.
http://www.deutsch-tuerkische-nachrichten.de/2013/12/495164/akif-pirincci-gegen-sibylle-berg-was-fuer-eine-brut-diese-deutschen/?fb_action_ids=638208729556474&fb_action_types=og.likes&fb_source=other_multiline&action_object_map=[622864864426148]&action_type_map=["og.likes"]&action_ref_map
Und nun mache ich das, was Lopachin vorschlägt, früh morgens arbeiten. Wie deutsch von mir.
http://www.t-online.de/wirtschaft/jobs/id_66826972/zahl-der-bulgaren-und-rumaenen-mit-hartz-iv-seit-2011-verdoppelt.html
Diesem Artikel können sie entnehmen, das man für das Jahr 2014 mit einer Zuwanderung von 100000 bis 180000 Menschen aus Bulgarien und Rumänien rechnet, in der Mehrzahl Sinti und Roma. Geht man mal von einer Zuwanderung von 100000 Menschen aus, und berechnet eine durchschnittliche Summe von 750,00 Euro an Kosten pro Person, kommt man auf eine monatliche Belastung von 75 Millionen. Auf das Jahr machte dies 900 Millionen Euro an Ausgaben. Diese Summe ist grob gerechnet und spekulativ. Sie können sie beliebig hoch und runter rechnen. Nehme man die volle Zahl von 180000 Zuwanderern käme man auf eine jährliche Belastung von..., naja in ihrem Denken dürfte das egal sein. Sicherlich, momentan bekommt nur jeder Zehnte von dieser Gruppe Arbeitslosengeld 2. Das kann sich aber 2014 mit der neuen Gesetzgebung drastisch ändern.
Wie wollen sie solche Summen stemmen ohne ein, wie sie es nennen „kapitalistisches“ System?
Nun sind unter diesen Zuwanderern sicherlich viele Kinder, deren Satz ein wenig niedriger liegt. Aber da wären dann wieder die Folgekosten für ihre Integration, wie gesagt, man kann über die letztendlichen Kosten nur spekulieren.
Um einmal wirklich zynisch zu sein, wenn erst einmal der von ihnen gefürchtete „Kapitalismus“ beendet ist, werden die Zahlen von selber zurück gehen, denn dann ist dieses Land für Migranten nicht mehr attraktiv genug.
Nun liegt mir die Gruppe der Sinti und Roma, nachdem ich ein halbes Jahr in Rumänien arbeitete, besonders am Herzen. Seit Wochen biete ich mich einem Freund an in Neukölln bei einem Integrationsverein für Sinti und Roma mitzuarbeiten. Aber selbst diese Stellen sind in Berlin für Kulturschaffende heiß umworben, da sie häufig selber damit beschäftigt sind der Armutsfalle zu entfliehen und in Arbeit zu kommen, so dass ich am Ende dort wahrscheinlich ehrenamtlich arbeiten werde. Ich stelle mir vor mit Jugendlichen dieser Gruppe einmal wöchentlich Lorca zu lesen und später mit ihnen szenisch zu arbeiten, und werde natürlich ständig gewarnt, dass wahrscheinlich niemand regelmäßig eine solche Gruppe besuchen wird. Mag sein. Ich habe schon mit Obdachlosen gearbeitet, so wie auch mit Schülern. Mir gibt diese Arbeit etwas. Aber wohl fühle ich mich bei der ganzen Sache nicht.
Ich bin kein Wirtschaftsfachmann und kann von daher nicht ermessen, wie solche Summen leistbar werden können. Auch habe ich berechtigte Zweifel, ob sich diese Gruppe je in eine deutsche Gesellschaft integrieren lässt. Von ihnen erwarte ich mir höchstens ein paar schnelle Antworten, die ich wahrscheinlich alle schon kenne. Aber vielleicht überraschen sie mich ja auch.
Denke ich an das Gorki, überkommt mich der Verdacht, dass solche Themen einfach nicht attraktiv genug sind, um sie dort zu thematisieren. Denn mit solchen Themen hört der leichte Zugriff auf eine schöne, immer bunter werdende multikulturelle Zukunft auf und der lange Kampf gegen die Vergeblichkeit beginnt.
Vorneweg erstsmal: "Um einmal wirklich zynisch zu sein, wenn erst einmal der von ihnen gefürchtete 'Kapitalismus' beendet ist, werden die Zahlen von selber zurück gehen, denn dann ist dieses Land für Migranten nicht mehr attraktiv genug"
Dazu kann ich mir folgende Antwort schlicht nicht verkeifen: Wenn dafür woanders weniger Menschen unter den Folgen des Kapitalismus leiden, ist mir die Attraktivität Deutschlands zunächst mal so richtig Wumpe. Ich meine irgendwo anders wird sich ja der Reichtum dann hin verteilt haben. Aber nun gut, wenn es denn so einfach wäre....
Sie sind ja nun wieder mal in Sachen Überlegungen etwas vorschnell, und stellen jetzt die gewagte These auf das Multikulturalismus nur durch den Kapitalismus zu bezahlen ist. Und hier wird es tatsächlich interessant: Sehen wir in Menschenleben nur die Kosten oder sehen wir erstmal den Mensch (ob das jetzt Roma oder Sudanesen sind ist erstmal egal, immer unter der Vorraussetzung der Annahme, dass Menschen nur dann trotz massiver Hürden den Weg der Migration und Flucht suchen, wenn ihre Existenz in was für einer Art auch immer bedroht ist; wer hier ernsthaft mit dem Begriff "Wirtschaftsflüchtling" argumentiert, hat schlicht den Schuss nicht gehört).
Ich würde ihn in dieser Hinsicht ausdrücklich die Lektüre von Harald Welzers "Klimakriege" empfehlen. Die momentan ausgelagerten Folgen dieses Systems in Form von massiven Konflikten und Kriegen werden in Zukunft in Form der Flüchtlingsströme auf Europa zurückprallen. Und dann wird bald die Lage entstehen, dass man die Leute nicht mehr abseits in irgendwelchen Wüsten verdursten oder hoch auf See ertränken lassen kann, sondern die Frage zu beantworten sein, ob man Ihnen mit Waffengewalt buchstäblich den Krieg erklärt oder eben nicht. Den diesen Menschen wird man nicht mit der Argumentation von irgendwelchen Kosten beikommen können und sie höflich bitten doch zurück in die Heimat zu gehen, damit Europas Sozialsysteme stabil bleiben.
Ich glaube in diesem Sinne auch, dass die Kostenfrage in Bezug darauf, dass man sie ja genausogut umkehren kann, äußerst heimtückisch für alle Beteiligten werden kann. Denn man kann ja auch mal fragen, was dieser Gesellschaft der kleine Kreis an Profiteueren des kapitalistischen Systems kostet, dessen Privatvermögen stetig wächst, während der "öffentliche" Reichtum maßgeblich schrumpft.
Und gleichzeitig kosten Behinderte die Gesellschaft ja auch, und Alte etc. etc.,sie wissen wo das hinführt nämlich gerade zu straight back to 1933 bzw. besser gesagt in den Beginn des 20. Jhr oder eben aktueller betrachtet mit Welzers Worten gesprochen zum offenen Krieg in alle Richtungen um die bestmöglichste Vernichtung/Vertreibung (u.a. die aktive militärische Sicherung von Grenzen) von zu "kostenintensiven" Gesellschaftsmitgliedern, mit relativ klar zu voraussehenden Gewinnern. Alternative wäre, ohne gleich irgendwelche Keulen in den Händen der Anderen zu vermuten, eben eine Offenheit für neue Ideen des Zusammenlebens. Kapitalismus hin, Kapitalismus her, es geht ja viel eher um ein neues Denken von Werten, welches dann wiederum rückwirkt auf das Gesellschaftssystem. Konkret vom Beispiel Hochkultur gesprochen: Natürlich erfordert eine größere Teilhabe, ein zurücktreten von bestimmten elitären Positionen und und Vorteilen, schon allein eben in Sachen Exklusivität. Das kann man ganz gut auf die Gesellschaft übertragen: Natürlich wird man irgendwie mit weniger zufrieden sein müssen, Stichwort Pollesch "es reicht uns nicht". Nur um danach feststellen zu können, dass die Pluralität an sich ein so großer Gewinn für alle ist und dass der Wohlstand den unsere Gesellschaft fast schon überdrüssig in Form von unnötigen Waren mit sich herumschleppt auch eigentlich ganz gut mal ein bisschen weniger werden könnte.
Den Artikel von Herrn Pirincci, den Sie hier gepostet haben, kann ich allein wegen so einem Satz nicht wirklich ernst nehmen:
"Die Leute, die gegen das Asylantenheim 'marschieren' (Deutsche können nun einmal nicht richtig gehen), tun es bestimmt aus Jux und Dollerei, weil sie halt scheiße sind, und nicht weil die Asylanten ihre Frauen sexuell belästigen, mit Drogen handeln und ihren Gastgebern gegenüber völlig aggressiv und fordernd auftreten."
Natürlich darf man nicht vergessen, dass das ein Krieg Vernachlässigter gegen noch Vernachlässigterer ist, der da in Hellersdorf oder Schneeberg recht einseitig tobt(der Kampf der Abgrenzung nach noch weiter unten unten sozusagen), und dass es sich darüber aus der Perspektive eines Priviligierten zu einfach urteilen lässt, aber dennoch so mit (falschen) Unterstellungen bezüglich der Flüchtlinge zu argumentieren ist schlicht und einfach idiotisch bis reaktionär. Und da entsteht, so leid es mir tut, wieder mal der Eindruck, hier soll "ein Türke" selbst als einzig wahrer Zeuge herangezogen werden, um den deutschen Stigmata a la Sarrazin zu bestätigen. Sorry, aber rassistisch und sozialdarwinistisch bleibt rassistisch und sozialdarwinistisch, egal ob es nun aus dem Mund eines Türken, Deutschen oder wem auch immer kommt. (Stichwort: Herkunft überwinden) Wie gesagt, ich finde einige Kritik auch an Berg durchaus berechtigt, aber wenn man das genannte und andere Zitate sich genauer vor Augen führt, dann stößt man hier auf einen altbekannte stumpfen "Gutmenschenhass", der in Freude an der politischen Unkorrektheit nur so mit Verkürzungen um sich wirft, nur eben aus türkischer Perspektive. Das haut mich nun wirklich nicht vom Hocker.
Außerdem habe ich nicht verstanden, warum sie, nachdem sie ihr Engagement in Sachen Sinti und Roma hier etwas aufdringlich ausbreiten diesen Passus abschließen mit dem Satz "Aber wohl fühle ich mich bei der ganzen Sache nicht." Weshalb nicht und wiefern ist das für die Diskussionsfrage relevant?
@Inga: Da bin ich sehr zuversichtlich!
Es gibt Dinge, auf die ich bei ihnen in ihrem letzten Kommentar eingehen könnte. Aber allein ihre Grundannahme verbietet es. (...) . Belehren möchte ich sie nicht. Von daher werde ich keinen weiteren Satz von ihnen kommentieren.
Gegen so ein World War Z Szenario kommt natürlich keiner an. Also entspanne ich mich, trinke einen Whisky und hoffe, dass auch diesmal die Weltunergangspropheten unrecht haben.
@alle
Verbleiben bis zum Ende des Systems die bekannten Fragen:
Will ich Bildung für alle? JA! Aber wie gehe ich dann (zum Beispiel)mit den bildungsfeindlichen Strukturen der Großfamilien der Sinti und Roma um? Möchte ich eine Gesellschaft die tolerant und frei ist? JA! Aber wie gehe ich mit den autoritären Familienstrukturen in den islamisch geprägten Nationen, Kulturen und Kreisen um? Möchte ich Kirche und Religion säkular sehen? JA! Wie gehe ich dann mit den Menschen um, die ihren Gott, Jehova oder Allah zum Maßstab für alle nehmen? Möchte ich die Frau in voller Form gleichberechtigt neben dem Mann sehen? JA! Was mache ich dann mit den patriarchischen Strukturen von Religionen, Kirchen oder Sekten, wie sie im Islam, dem konservativen Judentum, bei den Zeugen von Jehova u.a. existieren und von Generation zu Generation weitergereicht werden? Möchte ich, dass die in Welt und Geschichte am meisten verfolgte Religionsgemeinschaft, das Judentum, ein Recht auf Existenz und freie Entwicklung hat? JA! Was mache ich dann mit dem unverholenen Haß auf alles Jüdische der arabischen Nationen? Der zitierte Herr Pirinicci versteht uns wohl so: wir machen Augen, Mund und Ohren zu!
Diese Fragen stehen in meinen Augen jedenfalls gleichberechtigt neben den Fragen, Wie gehen wir in diesem Land mit unseren Migranten und Postmigranten und anderen gesellschaftlichen Gruppierungen um? Wieviel Geld geben wir dafür aus? Wer bezahlts?
Und bis der große Klimakrieg kommt, wäre es schön, noch die eine oder andere gute Antwort zu finden!
@martin baucks
mit welcher Grundannahme meinerseits sie hier nichts anfangen können, würde mich schon interessieren. Und in Sachen 1933: das hat noch nicht die Dimension, aber jetzt schon sind es tausende die jedes Jahr sterben. Und bald eben noch deutlich mehr und direkt vor unserer Nase. Das sind noch nicht Millionen aber das geht auf jeden Fall in die Richtung, zumal man die Hunger/Dursttoten abseits Europas in dieswe Rechnung einbeziehen müsste. Das ist Mord durch unterlassene Hilfeleistung, nichts andreres. Abgesehen davon ging es mir ja anfangs gar nicht um zahlen, sondern um die Bewertung eines Menschen anhand seiner vermeintlichen Kosten für das System (...)
Da findet der Eine die finale Shoa vor Lampedusa und Europa, während der andere stoisch bemerkt:
"War doch unterhaltsam, unperfekt, laut, schief, bunt,...der nicht vorhandene Tod der wahren Migranten vor Europa."
Cechov soll ja, als er in Baden-Baden verstarb,war es Baden-Baden(?), kurz zuvor noch ein Glas Champagner getrunken haben, mit seiner großen Liebe...und sich dann einfach auf die Seite gelegt haben, um zu sterben. Auch eine Lösung, bevor man sich als Firs in den Tod einsperren lässt.
Cheerio!
ich hatte die Gelegenheit, diese Inszenierung über Weihnachten anzusehen, und ich muss Ihnen im einem Punkt vehement widersprechen. Oder sie gehen darauf nochmal genauer ein. Sie schreiben ALLE Figuren ausser Warja und Gajew seien lediglich Hüllen und klammern damit das absolute Kraftzentrum aus: Lopachin. Wie Sahintürk sämtliche Spielarten des Theaters ohne Anstrengung durchdekliniert, ist schlicht bemerkenswert. Und ehrlicher kann man den Monolog/ die Beichte oder Anklage oder wie man es nennen soll gegen Ende gar nicht spielen. Da schreiben sie von Hülle?? Wie ist das gemeint?
Zum Glück Können wir (noch) nicht in die Zukunft schauen! Also: erst anschauen, dann Meinung loswerden bitte!
Gut, dann schließen wir hiermit dieses Portal. Oder wozu sollte man die Kritiken sonst kommentieren? Sind die Nachtkritiken somit Gesetz und das Fußvolk darf dann nur um Angestoßenes lavieren? Haben Sie den Kirschgarten gesehen? Natürlich nicht, ansonsten hätten Sie einen sinnvollen Beitrag geschrieben.
"Politisches Asyl" kommt in dem ganzen Denken kaum noch vor.
Da greift "postmigrantische Kulturpolitik" direkt regierungsnahe Ziele auf. Eine schlafender Merkelkopf im Foyer wirkt in diesem Zusammenhang dann gar nicht mehr kritisch, sondern eher als ein Ort, wo die Regierung ruhig schlummern kann.
@ martin baucks: Warum soll ein Mensch mit Migrationshintergrund kein sozialer Aufsteiger sein können, genauso wie ein sogenannter "neureicher, deutscher Kleinbürger"? Und vielleicht passt das Thema "politisches Asyl" ja auch einfach nicht zum Stückkontext von Tschechows "Kirschgarten". Muss man denn immer alles in EINEM Stück wiederfinden? Das war doch noch nie so.
es gibt in Europa ein "Volk" ohne "Nation" oder "Staat" oder "Gebiet". Eventuell wäre es angebracht darüber nachzudenken.
"Armutszuwanderer" haben nur bedingt Voraussetzungen sozial aufzusteigen. Nurkan Erpulats Chancen, ein Mensch den ich sehr schätze, waren da anders ausgekleidet.
Und warum verwenden Sie eigentlich den Begriff "ausgekleidet"? Bestrafen Sie Menschen dafür, dass es ihnen besser geht als anderen? Ist das der richtige Weg? Auch in Umberto Ecos "Name der Rose" wird das klar herausgestellt. Dort widersteht niemand der Verführung durch die Macht, ausser das Bauernmädchens, das Hunger nach Leben hat. All die Männer in der "Name der Rose" verkünden als Diener Gottes auf Erden die Leidensbereitschaft, ohne allerdings auch selbst leiden zu müssen. Das ist Heuchelei. Stimmen Sie mir diesbezüglich zu? Können Sie (auch über sich selbst) lachen?
(Werte Inga,
darf ich auch in diesem Thread an das Thema erinnern? Es wäre freundlich, wenn die Humorfähigkeit der Diskutanten nicht zu Lasten des Gesprächs über Nurkan Erpulats Inszenierung des "Kirschgartens" gehen würde.
MfG, Georg Kasch / Redaktion)
Es wurden hier von gewissen Herrschaften zum Teil hanebüchenste Argumente gegen diese Interpretation vorgebracht, dass mir eins nun wirklich klar ist : German Angst existiert!