Am dunklen Ende der Sonnenallee

11. Februar 2024. Hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht? Behzad Karim Khanis Debütroman erzählt die Geschichte eines jungen Iraners inmitten der Berliner Gangs. Es geht um Flucht, Traumata und programmierten Abstieg. Nurkan Erpulat hat den Stoff nun als mythische Untergangsparabel adaptiert. Sein großartiges Ensemble folgt ihm überallhin.

Von Esther Slevogt

"Hund, Wolf, Schakal" am Berliner Maxim Gorki Theater © David Baltzer

11. Februar 2024. Bam – da stehen sie auf einmal, vorne an der Rampe: fünf Männer und zwei Jungs. Alle schwarz gekleidet, schwarz ist auch der Raum, der sie umgibt. Und dann fangen sie auch schon an, zu erzählen. Von einem Monster, das Krieg heißt, und dem Monster Staat, das Menschen im Gefängnis quält und tötet. 

Schauplatz ist Teheran während des Iran-Irak-Krieges in den 1980er Jahren. Das Gefängnis ist das berüchtigte Teheraner Evin-Gefängnis, wo auch aktuell wieder im Morgengrauen (und im Schatten eines neuen Krieges) junge Menschen nach fadenscheinigen Prozessen aufgehängt werden, die sich im September 2022 nach dem gewaltsamen Tod der jungen Jina Mahsa Amini an Protesten gegen das Regime beteiligt hatten. Damals, als die Geschichte beginnt, die Nurkan Erpulat jetzt hier auf die Bühne des Gorki Theater gebracht hat, war es die Mutter des elfjährigen Saam, die gefoltert und ermordet wurde. Auch das Monster Gefängnis beherrscht seitdem Denken und Träume des fantasiebegabten Kindes. Seinem Vater gelingt es schließlich, mit ihm und dem jüngeren Bruder Nima aus dem Iran zu entkommen. So landen sie in Berlin-Neukölln, wo die nächsten Monster auf den Jungen lauern.

Entwurzeltes Leben

Behzad Karim Khanis 2022 erschienener Debütroman "Hund, Wolf, Schakal" erzählt die (auch autobiografisch grundierte) Geschichte eines Jungen, der sich in Berlin-Neukölln als einziger Iraner in von arabischen Kids dominierten Jugendgangs behaupten muss, deren Biografien alle ziemlich alternativlos in die Kriminalität führen. So hat auch Saam nicht wirklich eine Chance. Er wird ein brutaler Schläger und Gangster, der Bruder dealt mit Drogen. Gewalt regiert das heillos ungesteuerte und entwurzelte Leben all dieser jungen Männer, ist oft einzige Grenze und einziger Halt. Saams Endstation ist das Gefängnis.

Das Außergewöhnliche an Khanis Roman ist die sprachliche Wucht, mit der diese Welt beschrieben wird. Sie macht aus dem Buch nicht irgendeinen coolen Milieuroman, der die arabische Migrantenkultur in der Sonnenallee "4Blocks"-mäßig popkulturell aufpeppt. Vielmehr hat Khanis Erzählung einen fast überzeitlichen mythisch-epischen Ton, die aus seinem Roman fast eine Art neuzeitliche Ilias macht.

Herausragendes Ensemble

Nurkan Erpulat lässt in seiner Inszenierung diese Sprache wirken, indem er keine Bilder erfindet, die metaphernreiche Sprache nicht übersetzt. Die sieben Spieler erzählen abwechselnd, schlüpfen immer wieder in einzelnen Rollen, skizzieren in kurzen Spielszenen konkrete Stücke aus der Handlung: Mehmet Yilmaz, der manchmal den melancholischen und in der Emigration sich selbst abhanden gekommenen Vater spielt, der seinen Söhnen kein Vorbild sein kann. Tim Freudensprung und Emre Aksızoğlu als testostrongesteuerte Gang-Mitglieder oder Mitglieder der iranischen Miliz in Teheran, die plötzlich auf so wundersame Weise Vater Jamshids Flucht ermöglichen. Besonders Doğa Gürer und Edgar Eckert ragen heraus: Gürer, wenn er in die Rolle von Saam schlüpft und mit fast abwesendem Staunen dem eigenen Untergang zusieht, Eckert, wie er sich als Saams falscher Freund Heydar, der ihn in die Kriminalität reißt, in alle möglichen Typenmanieriertheiten hineinschraubt und mit Klischees spielt, die es von Vertretern dieses Milieus so gibt.

Wer behält die Oberhand? Ensemble aus "Hund, Wolf Schakal" © David Baltzer

Immer wieder entrückt die Handlung ins Metaphorische: Etwa, wenn die beiden Kinder auf sehr ergreifende Weise die verletzten, verlorenen Kinderseelen erfahrbar machen, die in den verrohten und gewaltbereiten Männerkörpern stecken – und auch die Männer selbst damit konfrontieren. Oder wenn die Choreografin Modjgan Hashemian die Männer im Hintergrund immer wieder zu traumtänzerischen Szenen gruppiert.

Mythisch schicksalsergeben

An einem Höhepunkt des Abends gibt es eine minutenlange brutale Schlägerei im Gefängnis, bei die Polizei mit Eisenstöcken auf Gefangene einschlägt. Im Zeitlupentempo prasseln zum Adagietto aus Gustav Mahlers 5. Symphonie Schläge auf Köpfe und Körper der Gefangenen, Körper brechen unter Schlägen zusammen, stehen wieder auf, um erneut niedergeschlagen zu werden – ein mythischer und aussichtsloser Kampf gegen Gewalten, die nicht zu steuern sind. Die Musik ist berühmt geworden durch Luchino Viscontis Thomas-Mann-Verfilmung "Tod in Venedig" und ihr Pathos wirkt hier durchaus doppeldeutig.

Denn das Schöne, aber vielleicht auch Schwierige an dem Abend ist, dass er in seiner mythischen Schicksalsergebenheit völlig unkonkret bleibt und aus seinen fatalen Welten kein Weg nach draußen führt. Dass die derart ästhetisierten Verhältnisse nicht antastbar sind. Dass keine der handelnden Personen wirklich eine Wahl oder Gestaltungsmöglichkeit hat. Auch kam mir beim Zusehen manchmal die Frage, ob das alles nach dem 7. Oktober in dieser ja eigentlich naiven Sicht nicht auch als eine Art von Eskapismus lesbar ist. Ja, denke ich dann, aber so, wie die Sonnenallee der DDR einen Leander Haußmann brauchte, um mit Klischees die Klischees zu attackieren, braucht es für die aktuell so in die Negativschlagzeilen gelangte migrantisch geprägte Sonnenallee jetzt vielleicht gerade Nurkan Erpulat und seine liebevolle Ironie. Und außerdem hat das Gorki Theater jetzt eine höchst eigene West-Side-Story-Variante im Programm. Einen neuen Renner wahrscheinlich.

Hund, Wolf, Schakal
von Behzad Karim Khani
Regie: Nurkan Erpulat, Bühne: Magda Willi, Kostüm: Dennis Ennen, Choreographie: Modjgan Hashemian, Musik: Michael Haves, Licht: Ernst Schiebl, Video: Christopher Bonte, Dramaturgie: Johannes Kirsten.
Mit: Emre Aksızoğlu, Edgar Eckert, Tim Freudensprung, Doğa Gürer, Mehmet Yilmaz. Kinder: Cai Cohrs / Benedikt Jenke, Nuri Şaştimdur, Aithonas Avgoustakis.
Premiere am 10. Februar 2024
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.gorki.de

 

Kritikenrundschau

Gorki-Hausregisseur Nurkan Erpulat achte in seiner Bühnen-Version "minuziös" darauf, möglichst viel von Behzad Karim Khanis Sprache zu erhalten, die, so Christine Wahl im Tagesspiegel (12.2.2024), "bei aller Härte ihres Gegenstandes das Kunststück fertigbringt, gleichzeitig poetisch und lakonisch zu sein". Erpulat verzichte auf atmosphärische Bebilderung, aber die choreographierten, bewusst in einen Kunst-Kontext überhöhten Gewaltszenen seien "definitiv Hollywood-Blockbuster-konkurrenzfähig". Saams innere Kämpfe und Motivationen träten "beim Transport ins dialogische Bühnen-Medium geradezu zwangsläufig in den Hintergrund", so Wahl. Saams bester Freund büße noch mehr von seiner Roman-Komplexität ein. Aber Nima, der Bruder, sei in Gestalt zweier Kinderdarsteller anwesend: "die andere Möglichkeit des Geschichtsverlaufs, zumindest für die Zukunft".

Angenehm nah am Original inszeniere Nurkan Erpulat den sprachgewaltigen Text und verzichtet dabei auf die "4-Block’sche Heroisierung", schreibt Sophia Zessnik in der taz (12. 2. 2024). Dass er "immer wieder auch mit Klischees spielt, dürfte beabsichtigt sein, weiß er doch ein mehrheitlich gutbürgerliches Theaterpublikum einzunehmen". Körperbetont ist die Spielweise: Mit ihrem "Gemackere" könnten Heydar und Saam nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie eigentlich noch Jungs seien, die lieber spielen oder rangeln würden als sich auf den Straßen Neuköllns einen Namen machen zu müssen. Mehmet Yılmaz mime Heydars großen Bruder "mit beachtlicher Präzision: stoisch beinah, keine Bewegung ist hier zu viel, keine zu wenig". Gegensätzlich, "wenn auch nicht weniger beeindruckend", versetzten sich Doğa Gürer und Edgar Eckert als Saam und Heydar in die Körper testosterongesteuerter, traumatisierter Jugendlicher. 

Wunderbar gockelhaftes Macho-Gehabe? Nein, das, was Nurkan Erpulat und die Choreografin Modjgan Hashemian hier auf die Bühne brächten, sei "deutlich mehr als nur amüsante Travestie: Es ist eine Soziologie der Machtverteilung unter Außenseitern", notiert Felix Müller in der Berliner Morgenpost (12.2.2024). Erpulat schaffe starke Bilder, die jedoch ohne die überzeugenden Darsteller unverbunden bleiben würden. "Da ist der auf Krücken gestützte, fahle Jamshid (Mehmet Yılmaz), der so etwas wie Glück nur noch in der Erinnerung finden kann. Da ist der blasse, bequem form- und ausnutzbare Saam (Doǧa Gürer), dessen Abstieg sich wie ein Verkehrsunfall in Zeitlupe ausnimmt. Dessen libanesischer Freund Heydar (Edgar Eckert) darf schließlich ausreizen, was das migrantische Kleingangsterklischee hergibt – und in einem großartigen Monolog herausbrüllen, was alles falsch daran ist". Kurzweiliger und sensibler, so Müller, dürfte sich Khanis Roman kaum auf die Bühne bringen lassen.

Eine fesselnde Geschichte über das Fremdsein in Deutschland und das Ausweglose dieser Leben erzähle Khani, so Barbara Behrendt beim rbb (11.2.204). Die Inszenierung jedoch gleite trotz aller Verfremdungeffekte oft in die Klischees ab, die der Roman vermeide. Das liege an den unterkomplexen Figuren, die ohne die Feinheiten der Sprache übrig blieben: Schlägertypen ohne Biographie.

Den Zwiespalt zwischen furchtlos sinnlicher Sprache und Klischeehaftigkeit in Khanis Roman habe Nurkan Erpulat zweifellos erkannt, bemerkt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (12.2.2024). Trotzdem inszeniere er die Geschichte  mit einem reinen Männerensemble und setze dabei "wacker auf eine tänzerisch leichte, stilisierte Bewegungschoreografie, die ironisch distanzieren soll". Untypisch für Erpulats sonst effektreich verspielte Inszenierungen werde das in einem kargen mobilen Rahmen stattfindende Geschehen "durch ein hartes, kaltes Licht konturiert". Unerträglich werde dieser Firnis aus Glanz und Ästhetisierung werde in der Prügelszene zu Mahlers 5. Sinfonie. Dass die sich überlagernden Zeitbilder teils beeindruckend gelängen, sei vor allem der Choreografie von Modjgan Hahemian zu verdanken. Und Erpulat könne auf die Kraft seiner Schauspieler vertrauen, die ihre Figuren dem Publikum bei aller Stilisierung nahe brächten. Dennoch bleibe diese Neuköllner Migrantenwelt "eindimensional".

 

 
Kommentare  
Hund, Wolf, Schakal, Berlin: Dichte Atmosphäre
Behzad Karim Khanis 2022 erschiener Roman erzählt von der Faszination der testosterondampfenden Welt der Kleinkriminellen und Gangs auf den Heranwachsenden (Doğa Gürer) ausübt. Die Codes und die Atmosphäre dieses Milieus wird in einer Konfrontation von Saam mit einem libanesischen Anführer (Emre Aksızoğlu) sehr plastisch.

Große Teile des Romans werden von wechselnden Erzählern in indirekter Rede frontal ins Publikum gesprochen. Schon bei diesen Auszügen ist die sprachliche Wucht des Debüts zu spüren. Eine kluge Entscheidung war es, Choreographin Modjgan Hashemian einzubinden. Ihre Tableaus stilisierter Gewalt, der Raubüberfälle, die Saam schließlich ins Gefängnis bringen, oder auch der Unsicherheit dieser jungen Männer am Rande der Gesellschaft sorgen dafür, dass Erpulats Roman-Adaption nicht so statisch und textlastig bleibt wie „Dschinns“ im vergangenen Jahr.

„Hund, Wolf, Schakal“ ist ein Abend, der von seiner dichten Atmosphäre lebt, in die alle Figuren auf ihre Art verstrickt sind.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/02/11/hund-wolf-schakal-gorki-theater-kritik/
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