Never Again

4. November 2023. Marta Górnicka hat mit aus der Ukraine und Belarus geflüchteten Frauen einen Chor gegründet, der seine gewaltige Stimme erhebt gegen den Krieg und Schluss machen will mit dem Bild von Frauen als schweigenden Opfern. Nach der Premiere Ende September in Warschau und kam das Stück nun am Berliner Gorki-Theater heraus.

Von Esther Slevogt

"Mothers – A Song For Wartime" in der Regie von Marta Górnicka © Bartek Warzecha

4. November 2023. "Wir sind die Protagonistinnen dieses Krieges", skandieren die Frauen irgendwann chorisch. "Die Rolle derer, die über Knochen weinen, reicht uns nicht mehr. Die Rolle derer, die ihre Kinder zur Schlachtbank führen, ist uns zu banal geworden." Der Gorki-Guckkasten ist schwarz. In großer, weißer Schrift werden immer wieder die Überschriften der einzelnen Kapitel auf den dunklen Hintergrund projiziert. "Über Gewalt" zum Beispiel. Und "Über Vergewaltigung". Oder das Zitat des ukrainischen Schriftstellers Serhij Zhandan: "Today, we only need words that save lives." Einen "Monolog des Chors der Europäer" gibt es auch. 

Chor gegen Krieg

Es geht um den Krieg, den Krieg in der Ukraine. In strengen Formationen singen und sprechen zwanzig Frauen und ein Mädchen in Alltagskleidung Texte zum Krieg, zur Rolle der Frau darin. Gemischt mit gesungenen ukrainischen Volks- und Kinderliedern und den kurzen Geschichten der einzelnen Frauen zu ihrer Flucht. Denn der Chor besteht aus Frauen, die vor dem Krieg aus der Ukraine oder Weißrussland nach Polen geflohen sind und nun hier chorisch ihre Stimmen erheben: gegen den Krieg, der auch auf den Körpern der Frauen geführt wird. Für eine Reflexion seiner Mechanismen und die Wahrnehmung aller Möglichkeiten, Krieg zu verhindern. Es ist aber auch ein Appell an Europa, diesen Krieg nicht zu vergessen. 

Angesichts der chorisch Hassparolen schreienden Massen, die aktuell durch die Straßen dieses Landes ziehen, beobachte ich an mir allerdings eine gewisse Dünnhäutigkeit, was dieses Format betrifft. Auch wenn die Rechnung der konzentrierten wie pointierten Inszenierung mit ihrem virtuosen wie minimalistischen Agitprop natürlich voll aufgeht: Standing Ovations am Ende des Abends, der mit den immer wieder und mit anschwellender Vehemenz skandierten Worten "Never again" schließt.

Europa, was ist dein Problem?

Das ist an die Entwicklung seit dem 29. September, als das Stück in Warschau uraufgeführt wurde, nahtlos anschlussfähig. Spätestens, wenn kühl die Analyse zur Funktion der Vergewaltigung für die Kriegsführung vortragen wird, sind auch die Bilder vom 7. Oktober aus Israel präsent: dass Vergewaltigung eine Waffe ist, die das Opfer vernichtet, ohne es zu töten. Dass das Ziel der russischen Soldaten dabei sei, die Zahl der leidenden Menschen absichtlich zu vervielfachen, indem sie meist hilflose Zeugen, Beobachter und Zuschauer in den in den Kreislauf des Leidens hereinziehen würden. Live oder wie aktuell per Social Media. So öffne jedes Verbrechen einen Strudel, der so viele Opfer einsaugt, wie möglich – und transgenerationale Traumata erzeugt. Auch Europa wird von den Frauen ein solches Kriegstrauma bescheinigt: "Europa braucht eine Therapie!" fordern sie. Denn nur dieses Trauma kann ihnen erklären, dass Europa sich diesem Krieg gegenüber so ambivalent verhält. 

Mothers 03 1200 Bartek Warzec uThe Chorus of Women: Katerina Aleinikova, Svitlana Berestovska, Sasha Cherkas, Palina Dabravoĺskaja, Katarzyna Jaźnicka, Ewa Konstanciak, Liza Kozlova, Anastasiia Kulinich, Natalia Mazur, Kamila Michalska, Hanna Mykhailova, Darya Novik, Valeriia Obodianska, Svitlana Onischak, Yuliia Ridna, Maria Robaszkiewicz, Polina Shkliar, Aleksandra Sroka, Kateryna Taran, Bohdana Zazhytska, Elena Zui-Voitekhovskaya © Bartek Warzec

Die drastischen Schilderungen und Texte werden immer wieder durch fast zärtliche Kinderlieder oder kunstvoll zelebrierte Volkslieder aufgebrochen – Erinnerungen an ein Leben davor, zerstörte Idyllen des Zivilen, die im Oratoriumsformat nun fast sakrale Bedeutung erhalten. Allerdings wird durch die Folklore, die hier stets mitschwingt, auch subkutan ein Nationalismus transportiert, der diesem Idyll krass entgegen gesetzt ist. Ob das Absicht ist oder nur eine unfreiwillige Wirkung? Folklore kann ja niemals unschuldig sein, weil sie immer auch Identitätspolitik ist. Das ist legitim, müsste aber irgendwie deutlicher offengelegt werden.

Eindeutige Botschaft

Auf jeden Fall fügt sich die scheinbare Naivität, mit der das hier vorgetragen wird, sehr gut in den grundsätzlichen Theatersonntagsreden-Charakter des Abends, der selbstredend super sympathisch, künstlerisch stark und mit besten Absichten daher kommt. Wer schließlich will schon Krieg??!! Krieg wollen immer nur die Anderen, zu denen man selbstredend selber nie gehört. Aber wie kommt es dann, dass Kriege und Gewalt sich gerade so exponentiell überall ausbreiten? 

Mothers – A Song For Wartime
von Marta Górnicka & The Chorus Of Women
Polnisch, Ukrainisch, Belarusisch mit englischen und deutschen Übertiteln
Konzept und Regie: Marta Górnicka, Libretto: Marta Górnicka & The Chorus Of Women, Musikalisches Konzept & Komposition: Wojchiech Frycz, Marta Górnicka, Choreografie: Evelin Facchini, Bühne: Robert Ruma, Kostüme: Joanna Zalecka, Dramaturgische Mitarbeit: Olga Byrska, Marie Jasinska.
Mit: Katerina Aleinikova, Svitlana Berestovska, Sasha Cherkas, Palina Dabravolskaya, Katarzyna Jaźnicka, Ewa Konstanciak, Lisa Yelyzaveta Kozlova, Anastasiia Kulinich, Natalia Mazur, Kamila Michalska, Hanna Mykhailova, Darya Novik, Valeriia Obodianska, Svitlana Onischak, Yuliia Ridna, Maria Robaszkiewicz, Polina Shkliar, Aleksandra Sroka, Kateryna Taran, Bohdana Zazhytska, Elena Zui-Voitekhovskaya.
Uraufführung am 29. September 2023 im Teatr Powszechny Warschau
Berlin-Premiere am 3. November 2023 
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

www.powszechny.com
www.gorki.de


Kritikenrundschau

"Ein Lehrstück im besten Sinn" hat Rüdiger Schaper gesehen und schwärmt im Tagesspiegel (4.11.2023) von der "klaren und strengen Form" des Abends. "Górnickas Ensemble findet Worte für das kollektive Gedächtnis. Für die Angst, den Verlust, die Trauer, die Wut. Für die Träume vom Frieden und das Danach. (...) Nie hat man das Gefühl, dass die Frauen in ein Konzept gestellt werden. Sie haben es sich zu eigen gemacht. Man schaut in ihre Gesichter, hört ihnen zu."

"Von der anfänglichen Feier des Lebens senkt sich der Abend zu den Schrecken des Krieges herab", berichtet Barbara Behrendt im Inforadio des rbb (4.11.2023). "Es ist ein Abend ohne Zwischentöne, ohne Widerhaken, gegen den kein vernünftiger Mensch etwas einwenden kann. Ästhetisch und inhaltlich ist das wenig herausfordernd – doch vielleicht braucht es in diesem im wahrsten Sinne 'grauenvollen' Herbst 2023 eine solche Inszenierung, bei der man sich ohne Wenn und Aber gegen den Krieg verbunden fühlen kann. Vom Publikum wird der Abend, werden die eindrucksvollen Frauen mit Standing Ovations gefeiert."

"Man kommt sehr ratlos, bedrückt und voller Bewunderung für diese Frauen aus dem Theater" schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (6.11.2023) und beschreibt die Inszenierung als "formstark choreografiertes Chorstück, in dem Wiegenlieder und Kinderreime, Folklore-Stücke, rituelle Gesänge und Pop-Songs einen großen, enorm vielschichtigen und abgründigen Assoziationsraum schaffen".

"Eine Chorerzählung aus der Kraft der Einzelnen ist dieser Abend, der von dunkler Gewalt erzählt und in heller Menschlichkeit landet", schreibt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (6.11.2023). Dass die gemeinschaftliche Beschwörung hier keinen Moment naiv oder kitschig sei, verdanke sich nicht nur "der präzisen, vielstimmigen Stimmenführung und wechselhaften Choreografie", sondern vor allem "dem entwaffnenden Ernst und der Konzentration der Darstellerinnen".

 

Kommentare  
Mothers. A Song for Wartime, Berlin: Chor als Kassandra
Natürlich ist das Chorprojekt „Mothers – A Sonf for Wartime“ handwerklich auch diesmal mit der gewohnten Akribie choreographiert, hier stimmt jeder Einsatz. Neu ist, dass Górnicka diesmal mit Frauen und einem Mädchen arbeitet, die aus der Ukraine und Belarus in unser östliches Nachbarland geflohen sind. Langsam tastet sich der Abend an sein Thema heran: mit Volksliedern gibt sich „Mothers – A Song for Wartime“ zunächst ganz unpolitisch, aber schon hier werden auf die Rückwand psychoanalytische Kommentare projiziert, dass Verdrängung ein bekanntes Muster ist, wenn Körper und Seele tiefe, traumatische Schmerzen nicht verarbeiten können.

Von einem besonderen Trauma, das nicht nur in der Ukraine als Waffe eingesetzt wird, erzählt der Abend im anschließenden dokumentarischen Teil: Vergewaltigung als Kriegsverbrechen und ihre seelischen Auswirkungen auf die Opfer. In der nächsten Passage wird dies mit einer Anklage an das restliche Europa kontrastiert: der Westen schaue immer noch weg, sei von seiner eigenen kriegerischen Vergangenheit traumatisiert und nehme im aktuellen Krieg weiterhin eine zu abwartende Haltung ein. Dem ironisch eingesetzten Schlaflied folgen wütende, stampfende Anklagen: dies ist das charakteristische Bau-Prinzip des Abends.

In einem kurzen arte-Beitrag erklärte Górnicka, dass sie ihren Chor als Kassandra sehe, der die westlichen Gesellschaften zwinge, hinzusehen, obwohl sie lieber verdrängen würden. Die Wucht des Kollektivs sei dafür ein besonders gutes künstlerisches Mittel.

Der Chor löst sich in lauter Individuen auf: jede Einzelne nennt ihren Namen, viele erzählen kurze Geschichten von ihrer Flucht, ihren Erlebnissen im angegriffenen Kyiv im Februar 2022 oder ihrem Widerstand in Belarus. Dies mündet in den Appell an das westliche Publikum, weiter hinzusehen: von der Empathie unserer Gesellschaften hängt es ab, ob die Situation in der angegriffenen Ukraine irgendwann in den kommenden Monaten nach langem Stellungskrieg mehr und mehr aus dem Bewusstsein gerät, mahnt Górnickas Libretto, das sie gemeinsam mit den Frauen entwickelt hat.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/11/03/mothers-a-song-for-wartime-gorki-theater-kritik/
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