Wie Phönix aus der Vitrine

7. April 2024. Dinçer Güçyeter erzählt in seinem preisgekrönten Roman "Unser Deutschlandmärchen" von sich und seiner Mutter und ihrem "Gastarbeiter"-Leben im Ruhrgebiet. Regisseur Hakan Savaş Mican macht am Maxim Gorki Theater daraus ein ebenso witziges wie hoch emotionalisierendes Bühnenereignis.

Von Elena Philipp

Dinçer Güçyeters "Unser Deutschlandmärchen" am Gorki Theater Berlin © David Baltzer

7. April 2024. Fatma ist "Gastarbeiterin". Gast ist der Status, der ihr als Türkin in Deutschland zugeschrieben wird, um ihre Fremdheit zu markieren. Arbeiterin ist sie voller Stolz, denn mit ihren 10-Stunden-Schichten in der Vergaserfabrik und den zusätzlichen Einsätzen als Erntehelferin hält sie die Familie über Wasser; trotz ihres Schulden anhäufenden Ehemanns Yılmaz.

Fatmas Geschichte erzählt ihr Sohn, der Autor Dinçer Güçyeter, in seinem autobiographisch grundierten Debütroman "Unser Deutschlandmärchen", für den er 2022 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde. Am Maxim Gorki Theater hat Hausregisseur Hakan Savaş Mican nun eine Fassung erstellt und die Uraufführung auch selbst inszeniert.

Alles für die Mutter

Alles beginnt mit einem Ende: Dinçer, die Erzählerfigur in Dinçer Güçyeters Text, verabschiedet sich von seiner Mutter. Im schwarz glitzernden Neckholder-Kleid steht Taner Şahintürk verlegen vor einem schmucklosen Zinksarg. Tritt von einem Turnschuh auf den anderen. Trägt eines seiner Gedichte vor und stellt als Abschiedsgeschenk die Pumps auf den Sarg, die er Fatma als Achtjähriger von seinem ersten selbst verdienten Geld gekauft hat.

Eineinhalb Wochen ist er dafür bei Bauer Willi Traktor gefahren. Die Schuhe versprechen Glamour. Seine Mutter, die schuftet und ackert, verwandeln sie in eine Königin. Und die trostlose Umgebung gleich mit: "Während du auf diesen Schuhen in Bewegung warst, wusste ich, die Uhr würde stehenbleiben und Mitternacht noch lange nicht kommen. Die Tischdecke mit Brandlöchern in der Küche verwandelte sich in einen Kilim aus Tausendundeiner Nacht, die kitschigen Gipsvögel in der Vitrine bäumten sich auf wie ein Phönix", heißt es in der Märchenversion, die der leidenschaftlich seine Mutter liebende Junge und angehende Autor in "Unser Deutschlandmärchen" erträumt. "Das halbleere Nutella-Glas, das trockene Graubrot, all das sah nun aus wie das Festmahl für den Prinzen". Und der Prinz: das ist er.

dtMaerchen2 1200 David Baltzer uEine Schuhlänge hinter Mutter: Taner Şahintürk als Dinçer und Sesede Terziyan als Fatma © David Baltzer

Erster Sohn, jahrelang heiß ersehnt. "Siehst du meine welke Gebärmutter, Maria?", betet Fatma zur christlichen Gottesmutter, nicht ohne sich bei Allah dafür zu entschuldigen. In einem göttlichen Scheinwerferstrahl verortet die auf einem Gebetsteppich kniende Sesede Terziyan die Himmlische, welcher sie mit Feilschen und Locken ein Kind abzutrotzen sucht. Bei ihrer Kollegin habe es doch auch geklappt, obwohl deren Mann sie kaum anfasst. Und von berührungsloser Empfängnis verstehe doch auch Maria etwas, oder? Erstmals lauthals lacht hier das emotional durchweg stark beteiligte Premierenpublikum, in dem neben Dinçer Güçyeter und Familie der Gorki-Intendantin Shermin Langhoff zufolge auch 50 Abgesandte aus deren nordrhein-westfälischer Heimatstadt Nettetal sitzen.

Im Dienste des komischen Effekts

Die Maria-Szene hat Hakan Savaş Mican, im Dienste des komischen Effekts, stark ausgeweitet. Ohnehin holt er den Witz von Güçyeters Mutter-Sohn-Geschichte unter dem Schleier der Melancholie hervor. Darüber hinaus behandelt Mican die Vorlage behutsam und montiert geschickt. Bei ihm steht am Ende der Szene, was im Buch mit seinen kurzen Kapiteln und der chronologischen Grundstruktur, über der Güçyeter mit wechselnden Registern zwischen Poesie und Prosa spielt – dem Lyriker Nâzım Hikmet ebenso nahe wie dem Epiker Bert Brecht –, schon zuvor klar ist: All die Besuche bei Hodschas und Hellsehern tragen keine (Leibes-)Frucht.

Erst eine Operation an den verengten Eileitern, von der Sesede Terziyans charmant beharrliche Fatma pragmatisch kündet, wirkt dann das erhoffte Wunder: Auf der Portalwand regnen in einer animierten Projektion kleine Fotos des Dinçer-Babys herab, reale Porträtbilder, die auch im gedruckten Roman veröffentlicht sind. Jetzt ist Fatmas Leben komplett! Lametta fährt aus dem Boden auf und vom Schnürboden herab, das schmucklose Schwarz (Szenographie: Alissa Kolbusch) glänzt als Showbühne, auf zwei Podesten sitzen die fünf Live-Musiker*innen wie in einer TV-Sendung. Und Sesede Terziyan, die wie Taner Şahintürk eine versierte Sängerin ist, stimmt zur interkulturellen Besetzung mit Schlagzeug, Oud, Synthesizer, E-Bass und Saz ein Wiegenlied an.

Mitreißendes Musical

Peer Neumanns Musikauswahl und -arrangement kommentiert mit jeder Liedzeile das Empfinden der Figuren. In den türkischen Liedern, die Fatma zugeordnet sind, geht es meist um den Schmerz der Liebe oder der Existenz, in Dinçers westlichen (Protest-)Songs ist Liebe etwas, das man haben will, und überhaupt: "I want more", stimmt Taner Şahintürk ein rockiges Sisters of Mercy-Cover an.

dtMaerchen3 1200 David Baltzer uLied- und Leadsängerin: Sesede Terziyan als Fabrikarbeiterin Fatma inmitten der Rock-Kapelle © David Baltzer

Konsequent ist "Unser Deutschlandmärchen" auf die Unterhaltungsschiene getrimmt, die an Berlins Theatern seit Yael Ronens #MeToo-Musical Slippery Slope, aber auch seit René Polleschs alltagsphilosophischem Experiment am Friedrichstadt Palast Erfolge feiert. Den Weggang der langjährigen Kollegin Ronen an die Schaubühne kompensieren Mican und Neumann überzeugend, etwa wenn Sesede Terziyan mit einer Tango-Version von Sezen Aksus Kindheits-Erinnerungs-Weise O Sensin von den bitteren Erfahrungen dreier Frauengenerationen berichtet.

Am Gorki fügt sich "Unser Deutschlandmärchen" bestens in die Reihe der Romanadaptionen von Fatma Aydemir bis Gün Tank ein, die sich der deutschtürkischen Erfahrung widmen und vor allem den Frauen eine Stimme verleihen. Eine jahrhundertelange Ungerechtigkeiten ausgleichende Geschichtenschreibung, an der Dinçer Güçyeter und sein feministischer Erzähler als unverbrüchliche Verbündete der Frauen teilhaben. Zum Applaus stehen der Autor und seine (nur in der Inszenierung für tot erklärte) Mutter im Jubel: Ein symbolischer Lohns für die Mühen im Dienste Deutschlands und ihrer Familie, die vermutlich nicht nur der Roman-Fatma einen kaputten Körper und etlichen Kummer beschert haben. Dafür kann man theatral guten Gewissens das große Gefühl auffahren.

 

Unser Deutschlandmärchen
nach Dinçer Güçyeter
In einer Romanbearbeitung von Hakan Savaş Mican
Regie: Hakan Savaş Mican, Bühne: Alissa Kolbusch, Kostüme: Sylvia Rieger, Komposition: Peer Neumann, Livemusik: Bekir Karaoğlan, Peer Neumann, Claire Cross, Cham Saloum, Ceren Bozkurt, Lichtdesign: Carsten Sander, Dramaturgie: Clara Probst, Holger Kuhla.
Mit: Taner Şahintürk und Sesede Terziyan.
Premiere am 6. April 2024
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, keine Pause

www.gorki.de

 

Kritikenrundschau

Eine "Art theatrales Konzert, bei dem die Musik die Sprachlosigkeit der Figuren überwindet und gleichzeitig die Zerrissenheit zwischen deutscher und türkischer Identität spiegelt", hat Barbara Behrendt für rbb|24 (7.4.2024) am Gorki Theater erlebt. "Man kann der Inszenierung durchaus vorwerfen, den Roman allzu weich zu spülen. Der Missbrauch der Frauen von ihren Männern und Arbeitgebern, die Härte ihres Lebens, die Sprachlosigkeit zwischen den Generationen kommt hier eindeutig zu kurz", sagt die Rezensentin. "Dafür ist dieser emotionale, humorvolle, warmherzige, auch sentimentale Abend eine große Feier der älteren Generation der Gastarbeiterinnen, der Frauen, die ihren Familien in Deutschland ein neues Leben erkämpft haben."

Mit diesem Abend präsentiere sich das Gorki "seit längerer Zeit mal wieder in Bestform", findet Christine Wahl im Tagesspiegel (7.4.2024, €). Dem Gorki-Hausregisseur Mican sei "eine Roman-Adaption geglückt, die den Stoff (…) tatsächlich mehrwertstiftend vom epischen ins dramatische Genre übersetzt und überhaupt ziemlich großartig ist", so die Kritikerin. Mit einer Intensität, der "auch der Humor nicht fremd" sei, spielten sich Sesede Terziyan und Taner Şahintürk durch eine komplexe Mutter-Sohn-Beziehung. Dass sie "das Wesentliche ihrer Gefühlshaushalte" dabei "in bester Pathosvermeidungsmanier" musikalisch über die Rampe" transportierten, sei "eine hervorragende Regieidee".

Hakan Savaş Mican sei ein rasant schlanker, musikalischer Erzählabend gelungen, schreibt Doris Meierhenrich von der Berliner Zeitung (8.4.2024). "Durch wenige Positionswechsel, manchmal auch nur durch Songs, fließt eine Szene in die andere und vermittelt das Stück in kurzen zwei Stunden nicht nur fast 100 Jahre anatolisch-deutscher Hoffnungs- und Enttäuschungsgeschichte, sondern vor allem ein Gefühl für Fatma, die für Tausend Fatmas steht. Nur ist der empathisch-freundliche Drive des Abends so perfekt, dass die ausländerfeindlichen Risse, die die Geschichte in Deutschland bekommt, fast untergehen."

"Das 'postmigrantische Theater' hat endlich wieder einen Hit", berichtet ein sichtlich angetaner Jakob Hayner in der Welt (9.4.2024). Es handele sich um einen Abend, "bei dem die Theatermittel keine Eitelkeiten der Regie ausstellen, sondern der Erzählung dienen". Mican und sein Ensemble hätten aus dem Buch "einen witzigen und berührenden Abend gemacht", der sich darauf verlasse, "das Publikum mit einer guten Erzählung zu begeistern anstatt mit politisch halbgaren Botschaften abzuspeisen".

Von einem "lässigen Hybridmusical" berichtet Tom Mustroph in der taz (11.4.2024). "Der rauschende Applaus deutet an, dass Geschichten wie diese auf deutschen Bühnen immer noch zu wenig erzählt werden."

Kommentare  
Deutschlandmärchen, Berlin: Sehenswert
… ob es eine gelungene Romanadaption ist, ist eigentlich zweitrangig (wenn man den Roman nicht gelesen hat): die Darbietung muss für sich selbst sprechen: und sie tut es. Mican kann erzählen (innovativ? komplex? nein, aber wozu auch?) und die Beiden auf der Bühne, Sesede Terziyan und Taner Sahintürk, können es auch. Sie „ist“ Fatma, er Dincer und sie müssen nicht dämlich die „Rollen wechseln“ oder in Zitaten reden, bleiben jedoch nicht in einem Naturalismus (im Spielen oder Kostümen) stecken. Einige türkische Floskeln oder Silben reichen … Im Gorki ist für Mican der Musikeinsatz eine Art „Signatur“ geworden, aber da es immer zu Herzen geht, wenn musiziert wird (und so gut wie hier), ist es nicht die Wiederholung der Wiederholung … es kommt selten vor, dass nach so einer deprimierenden Geschichte ein Theater dennoch glücklich zu verlassen …
Deutschlandmärchen, Berlin: Musical mit großen Gefühlen
Der knapp zweistündige Abend wird zum Musical. Taner Şahintürk und Sesede Terziyan wechseln sich in den Rollen von Sohn Dinçer und Mutter Fatma mit großen Soli ab. Auf beeindruckendem musikalischem Niveau treten die beiden Schauspieler in einen Dialog: sie singt sehnsuchtsvolle türkische Lieder, vor allem von der Popsängerin und Komponistin Sezen Aksu, er antwortet mit westlichen Songs, mal auf Deutsch wie mit Herbert Grönemeyers „Flugzeuge im Bauch“, mal auf Englisch wie mit „More“ von Sisters of Mercy. Wenn man unter den vielen Momenten einen besonders hervorheben möchte, dann dieses „More“-Solo, in das Sahintürk seine ganze Wut hineinpackt. Seine Figur Dinçer möchte sich nicht mehr wie die sogenannte „Gastarbeitergeneration“ am Rande der Gesellschaft abrackern. Er will Anerkennung auf Augenhöhe und künstlerische Freiräume ausprobieren, am Theater in Köln, mit eigenen lyrischen Texten.

Hier sind wir natürlich beim Kern des postmigrantischen Theaters, mit dem Shermin Langhoff am Ballhaus Naunynstraße angetreten ist und seit 2013 am Gorki Theater die deutschsprachige Theaterlandschaft prägt. In „Unser Deutschlandmärchen“ hat Savaş Mican sehr, sehr viel von dem hineingepackt, wofür das Gorki Theater programmatisch steht und einen Hit gelandet: ein Abend mit großen Gefühlen, sentimental, aber nicht kitschig.

Der einzige Makel des Abends ist, dass man in den Spielszenen zwischen den Songs das Gefühl hat, diese Geschichte von Mutter und Sohn aus einer Migrantenfamilie in den vergangenen Jahren schon oft am Haus in ähnlicher Form gehört und gesehen zu haben. „Unser Deutschlandmärchen“ trifft zwar den Markenkern. Die Gefahr ist nach dem Verlust prägender Künstler*innen wie Yael Ronen und Falk Richter, dass sich das thematische Repertoire zu sehr auf die Migrationserzählungen und das schwierige Ankommen wie zuletzt auch in „Dschinns“ oder „Ellbogen“ verengt.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/04/24/unser-deutschlandmaerchen-gorki-theater-kritik/
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