Beyond Caring - Schaubühne Berlin
Leben in der Lücke
28. April 2022. Von einer Putzkolonne in der Fleischfabrik erzählt Alexander Zeldin in seinem Stück "Beyond Caring", mit dem er seine "Trilogie der Ungleichheiten" abschließt – die anderen beiden Teile waren 2021 beim F.I.N.D.-Festival und bei den Wiener Festwochen zu sehen. In seiner gedämpften Milieuansicht zeigt er Menschen am unteren Ende der Nahrungskette.
Von Christian Rakow
28. April 2022. Es gibt an diesem Abend einige tolle Momente und einen, der ziemlich viel kaputt macht. Zum Start ein Lieblingsmoment: Da macht sich Damir Avdic auf einem kläglichen Plastikstuhl an einem Tisch breit und will nun endlich mal darlegen, was ihn das Leben so lehrt, die Doktrin des toughen Mannes, mansplainen, dass sich die Balken biegen. Man befindet sich im Pausenraum einer Putzkolonne in einer Fleischfabrik, und Avdic stellt den Vorarbeiter dar, der seine größtenteils weibliche Zeitarbeits-Crew antreiben muss und dabei wohl gern so etwas wie der Hahn im Korb wäre, aber doch eher dünnes Hemd bleibt, trotz seiner beeindruckenden Statur.
Am unteren Ende der Nahrungskette
Und Avdic legt also los und mäandert, probiert a bissl Darwinismus, stammelt irgendwas von der inneren männlichen Kraft, aber nee, bitte, Sexist isser nich, stolpert in die nächste gedankliche Biegung, taumelt in Sackgassen, plustert sich auf im Nebel der halbfertigen Ideen. Und alle vier um ihn herum schauen betreten weg. Is nix geworden mit dem starken Auftritt.
In solchen Momenten ahnt man, was dieses "Beyond Caring" sein könnte: eine wunderbar unterspielte, durch und durch gedämpfte Milieuansicht, mit Personen, denen der große dramatische Aufschwung nicht vergönnt ist. Die einfach so ihr Leben ausbreiten, undeutlich und unzusammenhängend. Am unteren Ende der langen Nahrungskette, im Niedrigstlohnsektor unter Neonröhren.
Die Ruhe muss man aushalten können
Autor und Regisseur Alexander Zeldin hat das Stück 2014 in Großbritannien inszeniert und seinerzeit auch mit nicht-professionellen Darsteller:innen gearbeitet. Es ist Teil einer Trilogie "The Inequalities" (dt. Die Ungleichheiten), deren andere Teile Love und Faith, Hope and Charity letztes Jahr beim FIND-Festival an der Schaubühne und bei den Wiener Festwochen liefen. "Beyond Caring" (dt. Jenseits der Fürsorge) hat Zeldin jetzt mit dem Ensemble der Schaubühne fürs hiesige Repertoire adaptiert.
Ganz passen die Arbeitsweisen nicht zusammen, scheint's. Zeldins Tableau einer Putzkolonne ist betont entdramatisiert, lebt vom Unausgesprochenen, vom gebremsten Witz, auch von dem, was die Beteiligten in der gemeinsamen Stückentwicklung an Füllwerk oder Auslassungen beisteuern. Schön sind die Lücken, das Karge und Beiläufige. Sie geben den Figuren eine ganz eigene Würde. Die Ruhe muss man aushalten können, auch als Publikum.
Minimalistische Gratwanderung
Die Schaubühnen-Crew legt das Personal in einer trostlos gefliesten Fabrikhalle (Bühne: Natasha Jenkins) mit leicht vergröberndem Zuschnitt an: Julia Schubert ist die Kratzbürstige, der man jederzeit zutraut, dass sie dem feldwebeligen Vorarbeiter Jan (Damir Avdic) eine langt und er aus seinen Chauvi-Latschen kippt. Jule Böwe gibt zum Kontrast die verschüchterte Putzfrau Sonja, die Utensilien mit beiden Händen vor der Brust hält, so wie ein Omchen sein Handtäschchen. Dazwischen sucht Hêvîn Tekin als junge, aber schon gebrechliche Ava nach einem Rest von Respekt in der Nachtschicht-Kolonne. Kay Bartholomäus Schulze ist der Mann im Bunde, Vollzeitkraft, Marke alter Hase, aber schon durchgekocht, hockt in den Pausen abseits und liest Groschenromane.
Das Hocken ist schön, das Wenigtun, das nurmehr Angedeutete, die Choreographie der Leere. Aber wenn Schulze irgendwann aufgefordert ist, zur dürftigen Pausenunterhaltung aller, etwas aus seinem Buch vorzulesen, dann klingt es plötzlich nach geübtem Schauspieler-Textvortrag, bisschen theatert, bisschen zu schön. Kann sein, dass dem Briten Zeldin, der des Deutschen nicht mächtig ist, die nötigen Feinheiten in der Fremdsprache abgehen. Seine minimalistische Gratwanderung, die Spektakel meidet, aber eben auch der Stagnation wehren muss, gelingt mit zunehmender Dauer immer weniger.
Bedeutsamkeitsdrastik
Und dann beginnt der Abend sein diskretes Konzept zu verraten. Aus heiterem Himmel fallen Schuberts Trotzkopf Becky und Schulzes Leseratte Michael übereinander her und rammeln einen Quickie an die schmuddelige Fliesenwand. Vermutlich um Spannung abzubauen, man weiß es nicht. Tut eigentlich auch nichts zur Sache. Und doch sieht es verdächtig nach dem aus, was naturalistische Stücke landauf, landab mit geradezu fabrikmäßiger Routine tun: Stets brauchen sie einen Moment von Drastik, um einem an sich unscheinbaren und auf Ähnlichkeit mit dem "Leben da draußen" angelegten Geschehen eine Bedeutsamkeit zu verschaffen. Solche grellen Momente sind Relevanzmarker par excellence. Im abgegriffenen Realismus zumindest. Im abgewirtschafteten. Wie gesagt, es war heute mehr drin, und dann ging's ein wenig kaputt.
Beyond Caring
von Alexander Zeldin
Deutsch von Gerhild Steinbuch
Regie: Alexander Zeldin, Bühne und Kostüme: Natasha Jenkins, Sounddesign: Josh Grigg, Dramaturgie: Nils Haarmann, Licht: Marc Williams.
Mit: Damir Avdic, Jule Böwe, Julia Schubert, Kay Bartholomäus Schulze, Hêvîn Tekin.
Premiere am 27. April 2022
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.schaubuehne.de
Kritikenrundschau
In der Berliner Zeitung (28.4.22) resümmiert Ulrich Seidler: "Die hohe Kulturtechnik des naturalistischen Spiels" beherrsche das Ensemble tadellos. Die Mitglieder der hier porträtierten "kleinen Putzkolonne" ließen dennoch nur "Andeutungen von Individualität und Biografie erkennen und bieten entsprechend wenig Ansatzpunkte für eine Identifikation. Mit der Folge, dass der Zuschauer seine soziale Distinguiertheit nicht loswird und sein Interesse unter Voyeurismus-Verdacht steht." Man brauche im Publikum Geduld und Aufmerksamkeit um "lauter kleine bescheidene Wunder der Menschlichkeit" nicht zu übersehen, die sich im trostlosen Setting abspielten. Insgesamt eine "kühle Zustandsbeschreibung, an der das Beklemmendste vielleicht das soziale Gefälle zwischen den Figuren und dem Publikum ist."
Im Tagesspiegel (29.4.2022) findet Christine Wahl, "auch die theatralen Mittel, die der Regisseur selbst einsetzt, gewinnen mitunter dräuenden Symbolcharakter. Die soundeffektvoll untermalen Blacks, die die (Pausen-)Szenen voneinander trennen, rufen praktisch mit jedem Ton: ‘Theater!‘". "So verschwimmt bisweilen die Grenze dieser ‘neuen Form von theatralem Realismus‘ zum Voyeurismus – jedenfalls für ein Publikum, das in der Hauptsache nicht so aussieht, als hätte es jemals über einen Euro nachgedacht, der in einem Kaffeeautomaten oder sonstwo verloren gegangen ist", resümiert die Kritikerin den Abend.
Peter Laudenbach von der Süddeutschen Zeitung (29.4.2022) hofft nach diesem Schaubühnen-Abend von Alexander Zeldin, "dass dieser Regisseur des Welttheaters noch öfter an deutschen Bühnen präsent sein wird". Der Grund: "Zeldins Theater zeigt eine ausweglose Situation in Endlosschleifen. Es kommt ohne größere Handlungsentwicklung und dramatische Zuspitzungen aus"; sein "Blick auf die Tristesse lebt von der unsentimentalen Sympathie für die Figuren und der Genauigkeit der Milieukenntnis".
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Wenn Sie diese Frage schlüssig beantworten können und sich darüber mit Ihrem Kollegen Georg Kasch austauschen, kommen Sie vielleicht auch gemeinsam hinter das Geheimnis eines vollkommen rätselhaften Zuschauerschwundes im heutigen Theater der Zeit?
Inhaltlich erinnert mich dies stark an den Film „Wie im echten Leben“ mit Juliette Binoche. Dieser spielt auf einem Fährschiff und auch hier ist eine Putzkolonne vor allem mit Laienschauspielern im Mittelpunkt. Der Abend in der Schaubühne war ein durchaus guter Versuch, sehr naturalistisch an dieses Thema heranzugehen.
Mich befremdet, dass das Publikum so viel zu lachen hatte. War dies beabsichtigt?
Nun ging ich nach der Vorstellung zum Fitness einer Billigkette, die (dort meist männlichen schwarzen) Putzkräfte werden meist nicht begrüßt. Sie haben das falsche Shirt an, der Trainer, der kurz vorher noch an seinem Platz stand, hat Ansehen. So holten mich Theater und Wirklichkeit ein, dies für selbstverständlich Genommene zu achten und zu schätzen. Und vor allem wahrzunehmen. Danke dafür.