Die Tauben - David Gieselmanns Siegerstück des Komödienwettbewerbs uraufgeführt
Ätzendes Gesellschaftsbild
von Wolfgang Behrens
Berlin, 6. März 2009. Es ist noch keine zwei Monate her, da rief Rüdiger Schaper im Berliner Tagesspiegel die Komödienkrise aus. Comedy, aber hallo!, die sei überall. Wo jedoch, fragte der verzweifelte Kritiker, sind in diesen harten Zeiten die Komödien? Denn Komödien und Comedy, das seien schließlich zweierlei Paar Schuhe: Echte Komödien nämlich wollten am Ende nicht nur komisch sein.
Einer, der Komödie kann, ist David Gieselmann, der im vergangenen Jahr den eigens von der Schaubühne ausgeschriebenen Komödienwettbewerb mit "Die Tauben" gewann. "Moooment!", werden die Ernsthaften unter den Theaterfreunden vielleicht rufen, und man hört schon das kollektive Rümpfen der Nase: "Gieselmann ist doch ein Mann der Comedy."
Wo ist da der Hintersinn?
Und ja, da ist was dran: Gieselmanns Stücke (am bekanntesten immer noch der "Herr Kolpert") bersten vor irrem und albernem Dialogwitz. Die Sprache verselbständigt sich in seinen Figuren, verunfallt in Freud'schen Versprechern, landet beim falschen Adressaten oder berauscht sich an überschnappenden Wiederholungen. All das hat schwere Schlagseite zur Comedy. Aber ist das schon alles?
Für "Die Tauben" hat sich Gieselmann ein Personal von "letzten Idioten" und "Flachzangen", wie es im Stück heißt, zusammengestellt. Da ist der Firmenchef Robert, der spurlos verschwinden möchte. Seine Frau Gerlinde, die nur italienische Lebenskultur und ihre Auswanderung nach Ligurien im Kopf hat. Sein Sohn Helmar, ein lebensuntüchtiger Streber, der unbedingt Papas Nachfolger werden will. Holger, der Roberts Nachfolger werden soll, der das aber aufgrund seines Verfolgungswahns auf gar keinen Fall werden möchte.
Dessen Frau Natalie, die vor Ehrgeiz platzt und sich ständig in Wutanfällen vergisst. Heidrun, deren Frustrationshobby Mobbing ist. Und der Psychiater Asendorf, der alle therapiert, mit den meisten schläft, aber in seiner krankhaften Vergesslichkeit niemanden beim richtigen Namen nennen kann. Ein großer Quatsch also, und Gieselmann treibt den Aberwitz auf die Spitze, indem er immer alle Figuren auf der Bühne hält, die Szenen einander fliegend ablösen und überlappen lässt und die Dialoge auf das Verwirrendste ineinander verschachtelt: Comedy eben! Und wo ist da der Hintersinn?
Kleinere und größere Luxuspsychosen
Auch auf die Gefahr der Überinterpretation hin: Man kann Gieselmanns Comedy auch als ätzendes Gesellschaftsbild lesen – und somit als Komödie. Was sie zeigt, ist eine Ansammlung von Leuten mit ausgeprägter Ich-Schwäche: Keiner ist willens oder in der Lage, Verantwortung (für die Firma etwa) zu übernehmen. Alle laborieren stattdessen an ihren kleineren oder größeren Luxuspsychosen. Am Ende des Stückes verbrennt Silja, ein von Robert und Helmar begehrtes holländisches Mädchen, einen Gutteil des Geldes der Firma – und plötzlich meint man, ein Miniaturmenetekel der Finanzkrise zu sehen: das Geld ist futsch, aber keiner kann's gewesen sein, denn es war ja niemand verantwortlich.
Was der Hausautor und -dramaturg und jetzt auch Regisseur Marius von Mayenburg bei der Uraufführung der "Tauben" an der Schaubühne veranstaltet, ist solides, ist gutes Komödienhandwerk. Auf der mit Weihnachtsbaum und roten Wohnsofaschlangen vor himmelblauem Rundhorizont ausgestatten Bühne setzt er auf ein mitunter Schwindel erregendes Tempo, das die Gag-Rezeptionsfähigkeit des Publikums an ihre Grenzen bringt; virtuos und auf den Punkt kommen die komplex komponierten Dialogüberlagerungen über die Rampe.
Abgründiges Komödiantentum
Und mit trefflich karikierten und bisweilen wunderbar gesungenen (etwa von der erstaunlich stimmbegabten jungen Eva Meckbach) Musikeinlagen aus der Welt des Kuschelrock und der Popschnulzen hat Mayenburg in den Sprachwirbel noch ein paar Entschleuniger zum Atemholen eingebaut.
Auch Gieselmanns Typen sind bei den Darstellern durchweg gut aufgehoben, und es wäre müßig, jemanden hervorzuheben, wenn da nicht Judith Engel wäre, die alle anderen an abgründigem Komödiantentum um eine Länge überragt. Wie sie ihre Gerlinde neben sich stehen lässt, immer den Kopf in den Wolken; wie sie den Blick ihrer wasserhellen Augen nach innen wegsacken lassen kann, wo offenbar ein unnennbares Glück ihrer harrt; wie sie sich mit einem Kräuseln der Nase und einem geradezu sinnlos frohen Lächeln in einen Flirt stürzt; wie sie aus esoterischen oder beschwipsten Tiefen heraus urplötzlich die patzigsten Antworten gibt – das ist herzzerreißend komisch und lohnt den Besuch der Aufführung allemal.
Nicht verschwiegen sei zuletzt, dass der Schluss von Gieselmanns Stück etwas angeklebt wirkt und die Knoten der Handlung einer eher bemühten als befriedigenden Lösung zuführt. Doch die Komödienskala ist nach oben hin offen. Ein erster Schritt gegen die Krise jedenfalls ist getan.
P.S. Und zuallerletzt: Der Titel "Die Tauben" meint die Vögel, nicht die Gehörlosen. Und, ja, die Tauben kommen im Stück auch vor.
Die Tauben, UA
von David Gieselmann
Regie: Marius von Mayenburg, Bühne und Kostüme: Nina Wetzel, Musik: Malte Beckenbach, Licht: Erich Schneider. Mit: Robert Beyer, Eva Meckbach, Sebastian Schwarz, Cathlen Gawlich, Stefan Stern, Judith Engel, Elzemarieke De Vos, Urs Jucker.
www.schaubuehne.de
Mehr lesen? Das Stück der Siegerin des 5. Stückwettbewerbs der Berliner Schaubühne, Nina Enders Die Wissenden, wurde im Februar 2008 ebenfalls dortselbst uraufgeführt, und zwar von Jan-Christoph Gockel.
Kritikenrundschau
Statt an der unbehaglichen deutschen Identität, in deren Kontext auch der von David Gieselmann mit diesem Stück gewonnene Komödienwettbewerb gestanden habe, habe sich Gieselmann sich in dieser "Farce ohne Boden" lediglich an der ehrwürdigen Tradition der Schaubühne gerieben, schreibt Andreas Schäfer im Berliner Tagesspiegel (8.3.2009). Allerdings recht wohlfeil, wie man Schäfers Ausführungen entnehmen kann, für den es "aus dem Hamsterrad der Albernheiten" dieses Abends kein Entrinnen gibt. Marius von Mayenburg inszeniere das Ganze als das, "was es ist: als grelle Comedy-Hölle, in der immerhin Tempo und Übergänge stimmen und die Schauspieler im Verlauf der knapp zwei Stunden immer passender die Umrisse ihrer Comic-Charaktere ausfüllen." Aber das Stück selbst? "Alles nur geklaut", schreibt Schäfer.
Einen Fall von unerwiderter Liebe zum Lustspiel erblickt Peter Hans Göpfert in der Berliner Morgenpost (8.3.2009) in der von-Mayenburgschen/Gieselmannschen Komödienbemühung, dessen Substanz er kurzerhad mit "Schwachsinn" zusammenfaßt. Doch da Regisseur Marius von Mayenburg unentwegt Juckpulver in das szenische Chaos streue, mache das Ganze auch Vergnügen. Und um vom schmalen Potenzial des Stücks etwas abzulenken, lasse von Mayenburg "seine bestens konditionierten Spieler alle möglichen Hits und Schlager parodistisch backplayen, karaoken und o-tönen. Von Elvis bis Tina. Von 'Schöner fremder Mann' bis zu 'Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt'." Das Publikum quietsche vor Vergnügen. "Oder fragt sich, ob es auf dieser Höhe des Kurfürstendamms im richtigen Theater sitzt."
Ulrich Seidler hätte es – er gesteht es in der Berliner Zeitung (9.3.2009) – nicht erwartet: "Wir haben einen der komischsten Theaterabende der Saison erlebt." Es gehe in den "Tauben" "kreuz und quer, doch ohne dass man den Anschluss verliert". Virtuos lasse Gieselmann "die Situationen entgleisen, spielt genüsslich mit den ohnehin angeschlagenen Nerven seiner Figuren". Und Uraufführungsregisseur Marius von Mayenburg habe "in kollegialer Verbundenheit (…) jeden Satz zärtlich auf seine Pointen abgeklopft. Die Stichworte drängeln sich, liefern sich ein irres, wunderbarerweise unfallfreies Rennen." Man komme "mit der Lobhudelei überhaupt nicht hinterher!" Das sei "ultimatives Well-made-Boulevardtheater, das sich in seiner umwerfend-fröhlichen Albernheit sinnvollen Deutungsversuchen nicht verschließt, aber auch ganz gut ohne sie auskommt".
Marius von Mayenburg habe aus Gieselmanns "amüsant-verschachtelter Bagatelle", die allerdings mit "nicht gerade tiefgründigen Erzählsträngen" aufwarte, "eine federleichte Revue exquisiter Identitätskrisen" gemacht, schreibt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen (9.3.2009). Während sich unter der Judith Engel, der Darstellerin der Gerlinde, "der doppelte Boden jeder besseren Komödie" öffne, bringe Mayenburgs "putzmuntere" Inszenierung "das diesmal hinreißende Ensemble wie eine glückliche Kurkapelle zum Singen und Klingen: Im lässigen Dry-Viertel-Takt".
Auch Matthias Heine von der Welt (11.3.2009) befindet Mayenburgs Regie für sehr "beschwingt, mit Neigung zum liebevollsten Auspinseln des Irrwitzes", für "Schauspieler befeuernd und Zuschauer beglückend". Damit rette er den "ramponierten Ruf der Schaubühne als Hort der Komödie". Man spüre zu Beginn allmählich, "dass die Reise diesmal ganz woanders hingehen wird als bei den bisherigen Komödienunglücken", indem hier nämlich "paradoxerweise gleichzeitig mit mehr Rasanz und mit mehr Disziplin zu Werke" gegangen werde. Außerdem überfrachte man "Gieselmanns ergötzlich schäumendes Nichts (...) auch nicht mit unnötiger Interpretation". "Kein Wunder, dass bei so viel Speed und Schleuderfahrt der eine oder andere Witz mal unverstanden vom Laster fällt. Aber 'Die Tauben' hat mehr als reichlich davon geladen." Zwischendurch Popsongs, die "so wunderbar und schmissig" geraten, dass sich Heine "widerspruchslos ergibt". Bei diesem "extrem amüsanten Abend" hat das "Theater als moralische Anstalt" – zur Freude des Kritikers – "total versagt".
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nachtkritikvorschau
Was die konkrete Gieselmann-Kritik betrifft: Seidler schreibt doch gerade, dass man sich bei den TAUBEN nichts denken müsse, und wolkig ist sein Text nun gerade nicht, sondern ziemlich klassisch und klar. Wer auf peinlich-bemühte Weise um eine Deutung des Gieselmann-Schmarrens bemüht ist, ist Wolfgang Behrens in seiner Nachtkritik, so dass man fast annehmen müsste, dass er vorher vom Autoren gebrieft oder gekauft wurde - oder mit ihm die Schulbank gedrückt hat.
Ein paar Bemerkungen noch zu den Klogemäuern der Volksbühne: der Einsatz von Kampferkugeln zur Geruchsbeseitung wurde vermieden, es roch stets erträglich. Dieses Klo hinter der Bar war für mich immer ein Ort der Befreiung. Angesichts der - mitunter - grandiosen Mammutvorstellungen ohne Pause sehnte man sich förmlich nach einem Ort der Erleichterung, wo die verbrauchte Materie ausgehaucht werden konnte. Entzücktes Gruppenpissen nach Castorf. Hätte ich mehr Wortgewalt, würde ich ein Gedicht darüber schreiben.