Gerettet - Benedict Andrews inszeniert Edward Bond an der Schaubühne Berlin
Abwehrzauber auf ollem Sofa
von Simone Kaempf
Berlin, 19. Februar 2010. Kaum ein Dramatiker, der seine Stücke so kontinuierlich mit ausholenden Erklärungen, Bedeutungen, Weltdeutungen begleitet wie Edward Bond. Als ihm Leander Haußmann vor zehn Jahren mit seiner Erstaufführung von "Das Verbrechen des einundzwanzigsten Jahrhunderts" in Bochum noch einmal einen großen Auftritt beschert hatte, saß Bond in Haußmanns Büro, arbeitete Interviews ab, nicht müde, immer wieder zu erklären, worum es gehe: Gewalt auf der Bühne nicht zu protokollieren, sondern ihre Bedeutung aufzuzeigen. Gewalt nicht zu benutzen, sondern gewalttätige Vorgänge auszustellen.
Also nicht auf therapeutische Schockeffekte von Gewaltausbrüchen zu setzen, sondern sie durchschaubar zu machen. In der Vorbemerkung zu seinem mittlerweile vierzig Jahre alten Stück "Gerettet" ist es ein "fast unverantwortlicher Optimismus", mit dem Bond sein Stück erklärt: Die Hauptfigur Len laufe vor den Ereignissen nicht davon, wende sich nicht ab von Menschen, die sich in denkbar schlechter Lage befänden. In aller Munde geriet dann trotzdem jene Szene, in der fünf Jugendliche einen Säugling in seinem Kinderwagen steinigen.
Eine Geburtsstunde der Milieu-Dramatik
Angesichts dieser gewichtigen Vorgeschichte, der Geburtsstunde einer Dramatik, die nah ans Sozial-Milieu und seinen Jargon rückte und Vorbildfunktion für spätere Generationen ausübte, überrascht Benedict Andrews' Inszenierung an der Schaubühne Berlin erstmal mit einer Luftigkeit, ja nachgeraden Verspieltheit, die auf Null zurückspult und auf einer leeren Bühne beginnt. Auf der führt Stefan Stern als Len einige pantomimische Gesten vor, die Stückszenen vorweg nehmen: Baby schaukeln oder mit der Hüfte gen Boden rattern.
Auf einem Sofa, das Pam (Marie Rosa Tietjen) hereinrollt, beginnen beide eine erotische Sofaturnerei, die im Gestus lockeren Improvisationstheaters in eine Bootsfahrt übergeht. Das Boot wird auf Rollen über die Bühne gezogen von Fred (Sebastian Schwarz), einem ziemlich düsteren Typen, schwarze Lederjacke, gegelte Haare. Dunkle Vorahnung mischt sich unter die Leichtigkeit und ergibt durchaus ein kleines Minidrama.
Die ewige Weitergabe der Gewalt
Dann aber geht es weiter, und die Regie arbeitet sich ins Milieu vor, mit ollem Sofa, Fernseher und Frittenteller, den Mutter Mary serviert, wenn sie gekocht hat. Dieses Echo aufs Soziale macht es einfacher, den Ausbruch der Gewalt einzubetten, wenn die fünf Typen im Park beginnen, das Kind zu malträtieren. Die berühmte Szene funktioniert bei Andrews exzellent. Die vier Freunde von Kindsvater Fred spielen erst mit dem Kinderwagen, kicken mit seinem Teddy, zwicken den schlafenden Säugling. "Hau mal drauf", "Immer sachte", "Sieht doch keiner!" Die zunehmende Gewalt entwickelt sich ganz aus der Sprache, aus dem gegenseitigen Anstacheln, bis das Spiel in verbissenen Ernst kippt.
Die Familienszenen davor und danach bilden das erklärende Pendant, Hinweis auf die ewige Weitergabe von Sprech-, Verhaltens- und Denkweisen samt allen menschlichen Makeln. Pam ähnelt auf der Bühne nicht nur optisch ihrer Mutter. Im Laufe des Stücks, wenn sie laut mit Len streitet, ist unschwer der Duktus von Mutter Mary herauszuhören - Fluch der Abstammung.
Und die verbalen Streitigkeiten zwischen Pam und Len oder Mutter und Vater ähneln in ihrer Mechanik im Grunde dem Gewaltausbruch im Park. Es ist dann halt nur eine Teekanne, die Steffi Kühnert als Mutter Mary von einer Sekunde auf die andere an der Stirn vom Thomas Bading zerschmettert.
Mit robustem Comic-Gestus
Ganz im Sinne Edward Bonds wird hier in wenigen Szenen die Dynamik von Gewalt skizziert. Und doch ist die Inszenierung ein Kompromiss. Das Soziale soll als Basis dienen, aber nur ein wenig. Ein Tick Marzahn ist angedeutet, jedenfalls ein Ort, wo man Glitzerjacken zum Minirock trägt, und die Ausstattung von Magda Willi frisch eingekauften Modernismus ausstrahlt. Jede psychologische Entwicklung wird verwehrt und das heiter-komödiantische in den Familienszenen bis zur Satire betont. Die Inszenierung scheut keineswegs das große Gelächter. Und doch wird man den Verdacht nicht los, dass viel Abwehrzauber produziert wird, um nur ja kein Sozialstück zu zeigen.
Der Slapstick hängt sich an wenige Objekte und ihre Tücken: das Sofa, den Fernseher, die Fernbedienung, die während der Premiere ausfiel, zur Erheiterung von Schauspielern und Zuschauern. An den robusten Comic-Gestus von Steffi Kühnert als Mutter Mary muss man sich erstmal gewöhnen, genauso daran, dass Stefan Stern seine Klassenclownerien bis zum Ende strapaziert. Im Komischen ermüdet der Abend. Die wenigen Szenen, in denen sich düstere Kräfte Bann brechen, setzen sich umso geglückter davon ab.
Gerettet
von Edward Bond
Aus dem Englischen von Klaus Reichert
Regie: Benedict Andrews, Bühne und Kostüme: Magda Willi, Musik und Video: Malte Beckenbach, Dramaturgie: Maja Zade.
Mit: Marie Rosa Tietjen, Steffi Kühnert, Lena Vogt, Stefan Stern, Sebastian Schwarz, Thomas Bading, David Ruland, Franz Hartwig, Nico Selbach, Matthias Lamp.
www.schaubuehne.de
Mehr zu Benedict Andrews' Arbeit an der Berliner Schaubühne? Von nachtkritik.de besprochen wurden seine Inszenierungen von Endstation Sehnsucht (mit einer herausragenden Jule Böwe), Der Hund, die Nacht und das Messer von Marius von Mayenburg, Betrunken genug zu sagen ich liebe dich? von Caryl Churchill sowie Stoning Mary von Debbie Tucker Green.
Kritikenrundschau
Den Grund, warum Edward Bonds Stück derzeit wieder vermehrt gespielt wird, sieht Harald Staun in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (21.2.2010) in seiner Aktualität des Stückes. Doch so gruselig es auch ausfallen könne, moderne Klassiker "in Jargon und Kostüm der Zeitgenossenschaft" zu stecken, so hilflos findet der Kritiker, "sich vor den ganz offensichtlichen Gegenwartsbezügen von "Gerettet" so zu drücken, wie es der australische Regisseur Benedict Andrews in der Berliner Schaubühne getan hätte." Das fängt für Staun schon mit den Dialogen an, "die die Schauspieler im rastlosen Schlagabtausch herausrotzen, damit ja nicht der Verdacht aufkommt, sie könnten noch etwas bedeuten." Und es endet für ihn "bei den im wahrsten Sinne aufgesetzten Hip-Hop-Kappen, die Freds Freunde tragen: Sie sehen damit so lächerlich aus, wie Bildungsbürger in Getto-Klamotten, und das sollen sie vermutlich auch." Andrews nehme die Aktualität des Stoffs zwar zur Kenntnis, "aber sie interessiert ihn nicht. Als ob er mit jedem Versuch, sich der Authentizität zu nähern, nur verlieren kann, setzt er alles in Anführungszeichen. Und weil er sich nicht traut, das Stück in der Gegenwart anzukommen zu lassen, bleibt es in einer schlecht zusammengesampelten Welt stecken, die höchstens noch ästhetisch brutal ist."
Benedict Andrews bleibe die Antwort schuldig, was ihn an dem Text interessiert, findet auch Katrin Pauly in der Berliner Morgenpost (22.2.2010). "Die Milieustudie war es sicher nicht, zu offenkundig vermeidet er das Idiom der Unterklasse, für eine rein psychologische Annäherung dagegen ist gerade die Schlüsselszene des Kindsmords mit Licht und Ton zu distanzierend durchchoreographiert." Dabei habe der Abend durchaus seine Momente. Als Pam anfangs mit Len zu einer romantischen Ruderpartie aufbriche, "da wird das Unheil in Gestalt des Bootsverleihers Fred von Andrews gut vorbereitet, indem er ausgerechnet Fred die Strippe in die Hand drückt, an der er das Paar über (...) die Bühne zieht. "Der Rest verliert sich in Unschärfe."
Bonds "Milieustück aus den vernagelten Ich-Universen postmoderner Konsumgesellschaften zeigt unter Andrews' subtiler Regie plötzlich auch seinen komödiantischen Kern", so Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (22.2.2010). "Vor dem gigantischen Hintergrundbild einer William Turnerschen Landschaftsstimmung aus Sturm und Idylle, Heiterkeit und undurchdringlichem Nebel" behalte die tragikomische Doppelbödigkeit stets Oberhand. "Eine Gratwanderung, die auch durch jene Textstreichungen gelingt, die alle direkten Kriegsbezüge entfernen und die bröckelnde Industriegesellschaft der 60er in die prekäre Niedriglohn-Servicehölle von heute verlegen." Wie Thomas Bading als Familienvater Harry in bester Buster-Keaton-Manier über jeden Strohhalm stolpere, sobald er sich nur vom Fernsehsofa aufrafft, "lässt bloßen Realismus weit hinter sich". Das sei fein gemacht, allerdings wendet die Kritikerin auch ein: "je näher das Stück an die halbironische, selbstreflexive Stimmung heutigen Gegenwartstheaters heran kommt, um so läppischer wird es.
Die "witzige Pantomime", in der Len schnell noch Umarmen, Küssen, Beischlaf übt, gebe die Atmosphäre der Inszenierung vor, die zwar "Milieu und Prekariat betont, dabei aber gekonnt die komischen Zwischentöne und den schwarzen Humor des Textes unterstreicht", so Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen (23.2.2010). "Dezent aktualisiert, wenn etwa im Fernsehen über den Klimawandel gesprochen wird", zeige sich einerseits, wie verständig Andrews das Stück "aus heutiger Perspektive zu interpretieren vermag", und andererseits, "wie gültig es nach wie vor ist". Die "sozial benachteiligten Unterschichtsfiguren" seien "so gegenwärtig wie allgemein typgerecht gezeichnet". Stefan Stern gebe Len den "einzigen emotionalen Feinmotoriker" unter lauter "traurigen Rohlingen, erträgt alles, alle und sich in seiner anstrengenden Menschlichkeit dazu". Steffi Kühnert und Thomas Bading glänzten als Elternpaar "mit hinreißenden Slapstick-Einlagen". Hier werde Bonds "Gerettet" "putzmunter vom Blatt gespielt, Benedict Andrews drängelt sich nicht vor den Autor. Gerade dadurch wird seine Inszenierung unangestrengt maßgeblich."
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Ich empfinde es als schwierig, den Kontext der Dritten Welt thematisieren zu wollen, wenn man gar nicht dort lebt. Ist den dort lebenden Menschen denn tatsächlich mehr geholfen, indem man hier ÜBER sie Theater macht? Da ist die Spendensammlung für die Erdbebenopfer Haitis durch die Schauspieler der "Heiligen Johanna der Schlachthöfe" nach Ende der Vorstellung am dt vielleicht eben doch hilfreicher als die von Stemann dekonstruierte "Bühnenshow".
Nochmal anders verhält sich das im Bereich des zeitgenössischen Tanzes (zum Beispiel von Constanza Macras). Diese Truppen sind von der kulturellen Herkunft der Tänzer her meist so vielfältig zusammengesetzt, dass sich daraus gleichsam automatisch eine autorisierte "Sprecherposition" ergibt.
Bei Edward Bond schließlich gehts um den europäischen Raum, wo der Klassenbegriff mittlerweile durch den Milieubegriff ersetzt bzw. im Kontext der Herausbildung der sogenannten "Dienstleistungsgesellschaft" völlig aufgelöst wurde. Ich würde sagen, dass Agamben mit seinem Begriff des "planetarischen Kleinbürgers" möglicherweise genau darauf abzielt. Diesen globalen Dienstleister gibts zum Beispiel auch in den Callcentern von Kalkutta (Rimini Protokoll).
Warum diesen Handwerks-Begriff so abwerten? Kunst ist eben nicht nur reine Psychologie (Einfühlung), sondern vor allem auch Gestaltung und Formung. Man kann dieses Milieu natürlich auch einfach als "Dreck" abtun. Ist klar.
Und einfach "dem System" die Schuld zu geben, das ist gegenüber dem dialektischen Verfahren Brechts zu vereinfacht gedacht. Wenn sich das individuelle Denken nicht ändert, wird sich auch an den materiellen Verhältnissen nichts ändern. Und umgekehrt.
Besten Dank, meine Herrschaften. Zumindest ist ein Diskurs entbrannt. Ich werde heute mal mit dem Heidegger´schem Besteck zu dem Begriff Befindlichkeitstheater hantieren. Hoffe, ich komme dem Begriff näher. Wenn´s nicht zu vermessen erscheint.
Susi, Sie benutzen recht gewöhnliche Worte, sagen aber manchmal ungewöhnliche Dinge, d.h. Sie treffen den Kern, ohne die umständliche wissenschaftliche Seminar-Sprache zu benutzen (in der ich auch mal schreiben musste und die ich auch kann).
Sie haben ja fast schon ein Grundproblem der Schaubühne in ihrer aktuellen Verfassung angesprochen:
"sone probleme hat die volksbühne viel weniger, da da eben viel mehr riskiert wird, weil die selbsbewusster sind [...] die schaubühne ist total ängstlich und will immer anständige abende machen, aber trotzdem immer von unanständigen sachen handeln, das wirkt hat dann doch ziemlich verklemmt und spießig."
Ich denke auch, dass in "Gerettet" - dem vorläufigen Tiefpunkt der Schaubühne - die Gewalt teilweise wie von außen aufgeklebt wirkt, so dass ihr durch die Art, wie mit ihr umgegangen wird, durch den spielerischen Charakter wieder viel an Wirkung verlorengeht. Die großen Abende der Schaubühne sind leider vorbei, wären wir jetzt in der 70er oder 80er-Jahren, würde ich sagen: das Theater ist im Umbruch, befindet sich in einer Identitätskrise. Wie das Befinden dort ist, weiß ich nicht. Vielleicht kommt bald die eigene Befindlichkeit auf die Bühne.
Susi, da bleiben Sie doch besser bei Ihrem Brecht, z. B. "Heilige Johanna der Schlachthöfe" am Dt ist eine hervorragende Inszenierung. Der Chor war fast so gut wie der bei "Maßnahme/Mauser" in der Volksbühne.
Im Übrigen geht es hier möglicherweise auch um die Frage, inwiefern eine "authentische" Darstellung von Gewalt auf dem Theater die medialen Mechanismen der Manipulation des Zuschauers nicht bloß weiterführen würde. In dieser Inszenierung dagegen geht es nicht um die heimliche Faszination an der bzw. um die Verurteilung von Gewalt, sondern um deren gestische Ausstellung (inklusive einer intelligenten Lichtregie), um das Denken dazwischen kommen zu lassen. Man könnte sich zum Beispiel einerseits fragen, welche Strukturen eine solche "Verwahrlosung" begünstigen. Und man könnte andererseits nach der Verantwortung des einzelnen für sein Handeln fragen.
Brecht mit Überschuss, meinen Sie da so etwas wie Robert Wilsons Dreigroschenoper mit viel Musik und tamm tamm am BE, oder eher so was wie Die heilige Johanna am DT.?
Da muss ich auch mal drüber nachdenken.
Es soll also um eine "gestische Darstellung" der Gewalt gehen. Solch ein Vorhaben kann man bei jedem zweiten Stück konstatieren, wenn einem nichts Besseres einfällt.
Nachdenken lässt sich immer etwas, beispielsweise auch, was sich aus einer derartigen Verwahrlosung ergibt. Vielleicht noch mehr Verwahrlosung oder eine Rückbesinnung auf mehr Moral mit dem Resultat der Sehnsucht nach einem starken Staat? Und wer trägt nun die Verantwortung? Der Einzelne, die kleine Gruppe, der man angehört, die Gesellschaft oder das System? Das sind Fragen, die sich ebenfalls bei etlichen Stücken stellen lassen.
Man kann an "Gerettet" durchaus Gefallen finden - ich tue es nicht -, aber man sollte diesem Stück nicht seltsame Gründe zu seiner Verteidigung unterschieben.
Ging es dem Regisseur überhaupt um einen Verfremdungseffekt? Jeder, der sich dieses Stück angesehen hat, wird wohl gemerkt haben, dass es sich um eine künstliche Herstellung von Realität handelt, da brauchen keine "künstlichen Produktionsmittel" wie Requisiten herumgetragen zu werden. Im Übrigen habe ich noch nie ein Theaterstück für nackte Realität gehalten, und für die Demonstration, dass hier eine künstliche Realität aufgebaut wurde, braucht es keine Extrabemühungen, die als Dreingabe und Bonus für geistig Hungrige noch einen Verfremdungseffekt liefern.
Den letzten Anflug eines geistigen Rausches hatte ich in der Schaubühne bei "Kabale und Liebe", "Hamlet" und "Trust" waren auch noch ganz passabel, keine Meisterwerke wie in früheren Zeiten zwar, aber goutierbar.
Da haben Sie sich einen der wenigen Lichteffekte herausgegriffen, der allerdings kaum darüber hinwegtäuschen kann, dass die Bühne fast die ganze Zeit über in eine übertriebene Helligkeit getaucht war und eine aseptische Atmosphäre wie im Krankenhaus herrschte. Von punktuellen Lichtquellen hat der Lichtmeister offensichtlich noch nicht viel gehört. Immerhin, ich konnte bei den Akteuren jeden Pickel und jede Regung des Mienenspiels deutlich erkennen. Auch die angegessenen Mc Donalds-Produkte (wahrscheinlich von der U-Bahn-Station Adenauerplatz), von Ruland und seinen Proll-Kollegen mit scheinbarem Heißhunger vertilgt, stachen ins Auge. Angesichts der Bühnenbeleuchtung war, was diesen Abend anbelangt, das Sitzen im Café schon der Gipfel der Romantik. Mehr hatte dieser Abend dann nicht mehr zu bieten.
Schwarz sollte seine Schauspielerkarriere als Rocker fortsetzen. In diesem Terrain liegen seine wahren Talente.
Bevor Sie sich Ihren Lichteffekt beim Baby-Mord noch einmals ansehen, gehen Sie doch besser in "Entgrenzung". Ein sehr leichtes, flockiges Stück ohne Tiefgang, aber recht unterhaltsam.
Schade das es keine Slow Motion an der Schaubühne gibt, dann hätten wir jetzt wahrscheinlich gewusst, ob das Licht an oder aus war und ob dabei Musik gespielt wurde.
Was wollen Sie denn jetzt noch aus dieser Inszenierung rausholen. Das war wirklich alles sehr solide gemacht aber das interessanteste war wirklich noch das Programmheft.
@Flohbär: Von welcher früheren Zeit an der Schaubühne schwärmen Sie denn so? Von der vor Ostermeier oder sind die Anfänge von ihm jetzt wirklich schon so lang her, das man früher sagen muss?
Ja das ist so eine Sache mit dem wollen und können. Verbieten will ich Ihnen nichts, aber ob Sie deswegen trotzdem können? Für mich war übrigens Agamben noch nicht ganz aus erzählt. Sie haben ja nun schon lang und breit über das Erreichen des Möglichkeitsraums durch das Spielen auf der Bühne geschrieben. Wie erreichen Sie denn eigentlich den, um den es eigentlich geht, der aber gar nicht anwesend ist? Heidegger sagt, dass das Vermögen einer Möglichkeit, dann hinfällig wird, wenn sie Wirklichkeit wird. Also wie trage ich den Möglichkeitsraum nun nach draußen?
Nicht das ich die Diskussion über Gerettet wieder aufleben lassen möchte, aber ich wir Ihnen wohl noch eine Antwort schuldig. Ich versuche beim analysieren des im Theater gesehenen immer auch die Konsequenz mit zu denken. Deshalb mein Beharren auf der Auflösung des Möglichkeitsraumes. Der ist im Theater natürlich nicht möglich, aber Sie kommen dann mit Schulklassen. Es gibt nicht Schlimmeres als uninteressierte Schüler im Theater. Ich kann mir auch schlecht einen Obdachlosen unter den Arm klemmen und ins Theater schleppen. Wenn der, um den es geht, nicht ins Theater kommt, muss das Theater vielleicht zu ihm kommen. So etwas wie Schaubühne in den Bezirken. Die Volksbühne hat so was ja mit ihrer rollenden Roadshow mal versucht. Ich kann für mein Leben natürlich was aus dem Theater mitnehmen und mich für bestimmte Sachen, die mir wichtig sind, einsetzen, aber es geht ja nicht immer nur um einen selbst.
Woher wissen Sie eigentlich, dass "alle Schüler" am Theater uninteressiert seien? Schließen Sie da nicht vielleicht ein wenig vorschnell von sich selbst auf "alle Anderen"? Schließlich, um realistisch zu bleiben, wieviele Obdachlose gehen Ihrer Meinung nach denn wohl im Schnitt ins Theater, sei es nun die Freie Szene oder die Großen Bühnen? Ihr Idealismus in Ehren, aber so würde sich kein Theater auf Dauer halten können. Das finanziert sich alles nicht von allein.
Ist es dann nicht vielleicht sinnvoller, ein Theater allein von, mit und für die Betroffenen (und andere interessierte Zuschauer) zu machen? Wie es zum Beispiel das Obdachlosentheater die "Ratten 07" praktiziert? Es kommt auf die Vielfalt der Theaterformen drauf an. Jeder sucht sich das raus, was ihm entspricht.
Pams Schrei ist auch nur so ein emotionales Stilmittel. Kann man machen, kann man aber auch lassen. Mich stört das eher beim nachdenken. Das Stück liefert fertige Denkansätze wie am Fließband, auf die man sich prima verständigen kann. Allgemeingültige Wahrheiten, es herrscht der totale moralische Konsens. Das ist auf Dauer langweilig und deshalb bleibt nicht viel von dieser Inszenierung haften.
@ Rosa L.
Ich glaube nicht, dass Schüler generell uninteressiert am Theater sind. Nur man sollte niemanden gegen seinen Willen dorthin zwingen, das fällt mir nur hin und wieder auf.
Das Obdachlose nicht ins große Theater gehen ist mir klar. Die Ratten 07 kenne ich auch, eben so wie das Projekt Aufbruch das mit Strafgefangenen arbeitet. Diese Projekte von freien Trägern sind begrüßenswert und bedürfen unser aller Unterstützung. Das Mitwirken Betroffener im Stadttheater sollte sich ja eben nicht nur im Ausstellen dieser als Unterstützung des Gezeigten erschöpfen.
Und was war jetzt Ihrer Meinung nach der "moralische Konsens" dieses Stücks? Dass es ohne Verantwortung und individuelle Entscheidung keine Ethik und Moral gebe?
Ich möchte das Stück oder die Inszenierung gar nicht interpretieren, das haben Sie doch hier schon so schön für uns erledigt. Ich rede von den Stilmitteln der Inszenierung, die uns die Moral Verantwortung zu Übernehmen gerade zu aufdrängen. Hier ist eben keine freie Entscheidung mehr vorgesehen, die hat Andrews dem Zuschauer bereits abgenommen. Genau so arbeite auch Volker Lösch mit seinen Chören. Das ist das Bequeme am moralischen Konsens, immer auf der richtigen Seite zu stehen, aber so einfach ist es eben nicht. Übrigens ich bin weder das eine noch das andere, ich interessiere mich nur wie Sie für das Theater, mehr nicht.
Ich finde nicht, dass Andrews uns hier etwas aufzwingt, er eröffnet bloß einen alternativen Handlungsraum gegenüber dem vermeintlich einzigen Ausweg der immer nur gewaltsamen Lösung. Sie dürfen gern so weiterleben wie die Figuren auf der Bühne (wenn Sie denn so leben/leben wollen). Ich möchte nicht so leben, und eine solche Haltung spüre ich auch auf Seiten des Regisseurs. Eine solche klare und entschiedene Stellungnahme gegenüber dem postmodernen anything goes muss doch erstmal nichts Schlechtes sein, oder?
Vielleicht könnte man hier ja auch die These aufstellen, dass eine demokratische bzw. globalisierte Gemeinschaft eben tatsächlich nur dann funktioniert, wenn individuelle Entscheidung und soziale bzw. globale Verantwortung zusammenkommen. Ethik ist etwas, das man nicht lassen kann, auch wenn darunter immer auch die Gewalt schlummert und durchbrechen kann. Auch ich hab mal meine aggressiven Seiten, keine Frage. Aber das muss ja nicht sein. Oder?
Oder wie schreibt Edward Bond dazu?: "I write about violence as naturally as Jane Austen wrote about manners." Das heisst für mich übersetzt: Du musst mich nicht töten, auch wenn du es könntest.
Was hat das mit Authentizität zu tun, Rosa? Mag sein das Andrews das ganz diffizil macht. Aber er macht es eben. Ich möchte immer noch selbst entscheiden, wann ich betroffen bin, und ob ich Ihre so gepriesene demokratische Grundordnung wie sie sich jetzt darstellt mag, entscheide ich auch lieber selber. Dieses Selbstverständnis von Ihnen das könnte man ja fast beneiden. Aber ist das nicht auch ein bisschen feige, sich immer auf der richtigen Seite zu wähnen? Das meine ich mit moralischem Konsens. Der schließt ja mal eben die anderen, die sich nicht genau danach verhalten, aus. Wenn Sie sich nur so wohlfühlen, bitte, es ist nicht wirklich was dagegen zu sagen, nur ist mir das irgendwie zu einfach gedacht.
Übrigens zur "Authentizitätsdebatte" habe ich etwas in den Wirklichkeitswahn-Thread (#9) geschrieben. Ist Authentizität erstrebenswert oder gar überhaupt möglich? Was halten Sie davon?
Und was heisst Ihrer Meinung eigentlich "richtige Seite"? Für mich ist das keine Frage von "richtig" oder "falsch", sondern eine Frage des dialektischen Denkens, also des Denkens in Widersprüchen. Bloß, irgendwann muss man dann vielleicht auch mal von diesen reflexiven Aporien der Unentscheidbarkeit zu den klaren Urteils- und Entscheidungsprozessen der politisch-gesellschaftlichen Praxis gelangen, oder? Oder wollen Sie nur darauf warten, dass irgendwann "das Proletariat" wie der Messias auf Erden erscheint und Sie erlöst?
Hier wird auch niemand ausgeschlossen, im Gegenteil, hier wird darauf verwiesen, dass jeder Mensch ein politischer Bürger ist und sich als solcher eben auch kritisch gegenüber politischen und strukturellen Fragen artikulieren kann. Sie müssen ja nicht immer nur die RAF kopieren, oder? Fällt Ihnen wirklich nichts Besseres dazu ein?
Zu Lösch habe ich schon eine klare Meinung geäußert. Ich finde sein Theater mit seiner ausgestellten und überlegen Moral nicht authentisch. Aber Rimini Protokoll kann man schwer mit dieser Art Theater vergleichen. Es entzieht sich konsequent einer klaren Einordnung. Ich halte es aber trotzdem für hoch politisch, obwohl keinerlei Wertungen abgegeben werden. Die Leute definieren sich aus sich selbst heraus, ohne Einwirkung eines klaren Konzepts. Es wird nur ein vermeintliches Überthema ausgewählt, zu dem jeder Protagonist aus seiner Perspektive heraus frei assoziiert. Ob das authentisch ist kann ich natürlich als Außenstehender nicht wirklich beurteilen, aber das ist den Machern auch nicht wichtig.
Richtige Seite, falsche Seite, Dialektische Denken? Was für Widersprüche gibt es denn in Gerettet? Lesen Sie bitte noch mal, was ich unter 17 gesagt habe. Genau das selbe versuchen Sie mir jetzt aufzutischen, „...zu den klaren Urteils- und Entscheidungsprozessen der politisch-gesellschaftlichen Praxis gelangen,... Von was rede ich denn die ganze Zeit, doch von notwendigen Konsequenzen. Ich warte auf das Proletariat? Hatten wir das nicht gerade erst mit Hilfe der These von Agamben abgeschafft? Ich warte auf niemanden. Ich kann mir selber helfen, und dafür brauche ich auch nicht Denkanstösse durch gut gemeinte Theaterinszenierungen a la Lösch und Andrews. Das führt zu nichts.
Und wie kommen Sie denn jetzt auch noch auf die RAF, die haben sich doch auch auf der richtigen Seite gewähnt. Nur weil ich geschrieben habe, das ich unter Umständen die demokratische Grundordnung wie sie sich zur Zeit entwickelt in Frage stellen würde? Da ist es aber noch ein weiter Weg bis zur Anwendung von Gewalt. Nicht jeder extreme Denkprozess muss wie im Falle von Ulrike Meinhof zwangsweise in die Gewalt gegen den Staat und somit in die eigne Isolation und Entfernung von den Massen, für die sie eigentlich kämpfen wollte, führen. Das Grundkonzept der wehrhaften Demokratie verbietet ja auch noch nicht den Gedanken, sondern nur die aggressive Tat. Kritisches Denken widerstrebt noch nicht dem grundsätzlichen Bekenntnis zur Demokratie. Das nennt man dann Ausübung seiner Grundrechte. Aber das wird jetzt zu einem Seminar über Verfassungsrecht.
Also zur Authentizität von Theater können wir gerne noch im Wirklichkeitswahn-Thread weiter diskutieren, mit Gerettet bin ich durch.
Und es ist ja auch die Frage, wie das funktionieren soll, dieses abstrakte "für die Massen kämpfen". Für mich fängt das eben schon bei der Erkämpfung der individuellen Würde an, ganz klein, im alltäglichen Miteinander (wie Len) und nicht gleich mit der roten Fahne in der Hand. Wer groß denkt, kann auch groß irren.
Schließlich, Ihre Formulierung von der "wehrhaften Demokratie", die gefällt mir irgendwie überhaupt nicht. Klingt leider sehr rechts. Ich würde dagegen eher vom rechtlichen Begriff des "Gewaltmonopols des Staates" sprechen.
Da sehen Sie, dass schon Begrifflichkeiten zu Missverständnissen führen können. Den Begriff wehrhafte Demokratie habe ich direkt aus dem Verfassungsschutzgesetzt entlehnt. Er ist sehr abstrakt und man assoziiert damit gleich staatliche Gewalt. Rechts finde ich das nicht, nur etwas gruselig und habe damit eben auch so meine Probleme. Sie können den Begriff auch mit streitbarer Demokratie übersetzen. Darin findet sich dann doch eher auch das Recht auf freien Gedankenaustausch unter der Prämisse der Beibehaltung der freiheitlich demokratischen Grundordnung wieder. Und davon haben Sie ja geschrieben.
In diesem Sinne, Ihr Stefan.
Zudem habe ich gestern zufällig bei Alexander Kluge etwas gefunden, was ebenfalls eine dialektische Perspektive auf die "wehrhafte Demokratie" eröffnen würde. Zitat Kluge:
"Mangels eines besseren Zugangs zur Wirklichkeit lernen Roswitha und Silvia ein Lied von Bert Brecht auswendig." Es folgt das Lied "Zu Potsdam unter den Eichen" von Bertolt Brecht, von dem ich hier nur die letzten beiden Strophen zitiere:
"5. Gekrochen einst mit Herz und Hand
Dem Vaterland auf den Leim
Belohnt mit dem Sarge vom Vaterland:
Jedem Krieger sein Heim!
6. So zogen sie durch Potsdam
Für den Mann am Chemin des Dames
Da kam die grüne Polizei
Und haute sie zusamm'."
Um so brutaler brechen die Wolken herein, um so drastischer ist der Bruch, wenn aus Unschuld und Hoffnung Apathie, Abstumpfung, Verzweiflung wird, die sich in blindem Hass entlädt. Dass der Abend über weite Strecken funktioniert, ist der urückhaltenden Regie Andrews ebenso zu verdanken wie den starken Darstellern. allen voran die Pam der Marie Rosa Titjen, schwankend zwischen rebellischer Neugier und verzweifelter Hilflosigkeit, und Stefan Sterns Lenny, schüchter, hilflos, auf der Suche nach Geborgenheit, ein tastender Blinder, der am Ende in Regungslosigkeit erstarrt. Auch das Elternparr, Steffi Kühnert und Thomas Bading, überzeugen zwischen Clownerie undhasserfüllter Leere.
Leider hält Andrews die Leichtigkeit nicht durch und das zeigt sich vor allem in der Schlüsselszene, in der Pams Baby aus Langeweile zu Tode gefoltert wir und die damals zum Verbot führte. Plötzlich setzt eine aufdringliche Lichtregie ein, erhält die Szene eine starre Choregrafiert, wird mit Verlangsamen und Standbildern gearbeitet. Dies soll die Szene abheben und das tut es, aber wohl nicht wie intendiert. Der plötztliche Aufwand rückt das geschehen weit weg vom Zuschauerund minimiert die Wirkung. Der Fluss ist gebrochen, die Charaktere ebenso, die Fäden kommen nicht mehr zusammen, die Dramaturgie fragmentiert sich. Plötzlich findet sich der vorherige Rhythmus nicht wieder. Das ist folgerichtig, schließlich sind auch die Charaktere nach diesem Grenzübertritt nur noch Fragmente. Und doch ist diese Szene ein Fremdkörper, gegen den der rest der Inszenierung ankämpft.
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