Nuancen der Bevormundung

31. August 2023. Eigentlich wird über das Kinderkriegen – oder auch das Nicht-Kinderkriegen – viel gesprochen. Allerdings nie so, wie es hannsjana und das inklusive Thikwa-Ensemble hier tun. Ihrem Abend über die Diskriminierung bestimmter Körper gelingt es, gleichzeitig komplex zu sein, politisch – und unterhaltsam.

Von Sophie Diesselhorst

"Bauchgefühl" von hannsjana und dem Thikwa-Ensemble im Berliner Theater Thikwa © Mayra Wallraff

31. August 2023. Das Kinderkriegen ist beileibe kein Thema, über das zuwenig geredet wird. Allerdings stehen dabei selten verschiedene Perspektiven ausgesprochen nebeneinander im Raum, sondern es wird sich eher unter Gleichgesinnten aufgeregt. Ob man nun Kinder hat, will, nicht hat, nicht will, nicht haben kann, aber will oder nicht haben will, aber muss – für jede dieser Situationen gibt es ein Betroffenheits-Narrativ. In den Begegnungen dieser Narrative werden die Visiere selten nach oben geklappt.

Umso toller, dass die bewährte Kombination des inklusiven Theater Thikwa in Berlin und des feministischen Kollektivs hannsjana, die nach "Diane for a day" und der kritischen Hommage an die ehemalige Bundeskanzlerin "Merkel" bereits zum dritten Mal zusammenarbeiten, jetzt mit "Bauchgefühl" einen Abend übers (Nicht-)Kinderkriegen auf die Bühne gebracht hat, der es schafft, multiperspektivisch zu sein und gleichzeitig stringent und unterhaltsam. Natürlich hat er politisches Rückgrat – geht es hier also viel um die Ausbeutung weiblicher und die Diskriminierung behinderter Körper.

Zusammengeschweißt zum Kollektiv

Es stehen ausschließlich weiblich gelesene Menschen und Menschen mit Behinderung auf der Bühne, und sie stehen dort als Performerinnen, beglaubigen ihre Auftritte also mit ihren persönlichen Lebensgeschichten. Aber sie haben sich zusammengeschweißt zu einem Kollektiv und zerfallen nicht in individuelle Leidensgeschichten, sondern nehmen einander die Last ab, von eigenen schmerzvollen Erfahrungen mit dem Thema zu berichten.

"Eine von uns vermeidet auf Familienfeiern, Babies auf den Arm zu nehmen, weil sonst die Tanten und Onkels sagen: Steht dir gut, so ein Baby!" – "Eine von uns findet es komisch, dass sie nie jemand fragt, ob sie schwanger werden möchte" – "Einer von uns wird immer von allen gesagt, dass sie selbst entscheiden kann, ob sie ein Kind will" – klingt es vom Band, während man verschiedene Performerinnen verschwommen als Fötus durch ein Ultraschallbild driften sieht.

Bauchgefuehl 04 805 Mayra Wallraff uEinschluss in die Solidargemeinschaft: Das Thikwa-Ensemble in Jelka Plates Bühnenbild © Mayra Wallraff

Gemeinsam ist ihnen allen, dass sie keine Kinder haben. Das Setting eines Geburtsvorbereitungskurses mit Yogamatten und Hüpfbällen ist also denkbar paradox, und schon die Vorstellungsrunde, in der jede Teilnehmerin sagt, warum sie kein Baby hat, stellt die Verhältnisse auf den Kopf. Später werden Theater-Kolleg:innen mit Kindern eingeblendet, die über das Verhältnis ihrer kinderlosen Freunde zum Theater sprechen wie sonst kinderlose Menschen über das Verhältnis von Menschen mit Kindern zu diesen Kindern: Sie haben kein anderes Thema mehr, sie haben einen völlig neuen Rhythmus und keine Toleranz mehr für andere Lebensentwürfe, und so weiter.

Queerfeministische Popkultur-Liturgie

Was den Abend über eine Abbildung von Nabelschauen erhebt, sind solche Kunstgriffe – sowie das Expert:innentum der Performerinnen im Von-Oben-Herab-Angeredet-Werden. Weiblich gelesene Menschen und Menschen mit Behinderung können ein Lied davon singen, wie es ist, gemansplaint, bevormundet und verkleinert zu werden. Thikwa und hannsjana drehen den Spieß einfach um und demonstrieren das, indem sie ab und zu einzelne Zuschauer:innen ansprechen, als säße da eine Horde Kitakinder. Aber vor allem exerzieren sie in den Stadien des Geburtsvorbereitungskurses parodistisch verschiedenste Nuancen dieser Bevormundung durch.

Getragen wird der Abend außerdem von Musik – jedesmal, wenn "Baby" im Text steht, erklingt ein Zitat aus einem der Abermillionen Popsongs, die das Wort enthalten. Eine Beichtszene, in der die kinderlosen Performerinnen ihre bösen Gedanken über Freund:innen mit Kindern loswerden, wird von der "Priesterin" mit Zitaten aus der queerfeministischen Popkultur und dem Amen "Es möge der Song erklingen!" liturgisch beantwortet. Und in einem eigenen Lied wächst etwas Großes im Bauch heran, das doch eigentlich nur ein Baby sein kann – aber am Ende einfach nur ein großer Furz ist.

Bauchgefuehl 02 805 Mayra Wallraff uDie Thikwa-Performer:innen drehen den Spieß einfach um © Mayra Wallraff

Der Ernsthaftigkeit ihrer künstlerischen Forschung tun solche bewusst albernen Exkursionen keinen Abbruch. In der Schwangerschaftsmeditation wird mit säuselnder Stimme über Zwangssterilisation von Menschen mit Behinderungen in der Nazizeit berichtet. Erst in den Nullerjahren wurden ihre Schicksale anerkannt und geringe Entschädigungen gezahlt. Noch härter wird es, als eine der Thikwa-Performerinnen eine als Punksong performte Solidaritätskundgebung gegen das Abtreibungsverbot in Polen unterbricht und fragt, warum eigentlich in Deutschland bei der Bestrafung von Spät-Abtreibungen Ausnahmen gemacht werden, wenn beim Fötus eine Behinderung nachgewiesen werden kann. Kann es sein, dass sie und ihre Kolleg:innen eigentlich immer noch als "unwertes Leben" gelten, wie damals bei den Nazis? Diese Frage muss sie gar nicht aussprechen, damit sie überdeutlich im Raum steht.

Hallo Mama, ich brauche Geld!

Doch am Ende wollen sie uns gewinnen und in ihre Solidargemeinschaft einschließen, und so ist die schönste Szene des Abends ein Handychat, in dem eine der Thikwa-Performerinnen auf eine typische Phishing-SMS ("Hallo Mama, das ist meine neue Handynummer, ich brauche dringend Geld") reagiert, erst scheinbar naiv eine längere Diskussion mit dem betrügerischen Bot eingeht, in dem sie versucht ihm zu erklären, warum sie als Frau mit Behinderung kein Kind hat – nur um ihn am Ende darüber aufzuklären, dass ihr natürlich klar ist, dass er sie einfach nur abzocken wollte: "Wenn es für Frauen mit Behinderung einfacher wäre, Kinder zu kriegen, hätte ich vielleicht ein Kind und würde ihm im Notfall auch 2000 Euro überweisen – was nichts daran ändert, dass Du ein kleiner Betrüger bist." Touché!

Bauchgefühl
Konzept und Regie: hannsjana, Kostüm & Bühne: Jelka Plate, Licht: Katri Kuusimäki, Technik: Holger Duhn, Eric Scheller, Christoph Wüst, Assistenz: Inge Pabel, Kimberley Süptitz.
Von und mit: Laura Besch, Heidi Bruck, Kristin Feuerer, Jule Gorke, Hannah Grzimek, Merete Kaatz, Jasmin Lutze, Mereika Schulz, Katharina Siemann, Marie Weich.
Premiere am 30. August 2023
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.thikwa.de

Kommentare  
Bauchgefühl, Berlin: Bestes Infotainment
Bemerkenswert ist diese Stückentwicklung allein schon, weil der Kooperation des Theater Thikwa mit dem feministischem Freie Szene-Kollektiv hannsjana etwas gelingt, was sich jedes Inklusionsprojekt vornimmt, aber nur selten erreicht. Zu oft sind behinderte Spieler*innen nur dekoratives Anhängsel oder mit gewaltigen Textmassen überfordert. In „Bauchgefühl“ stehen behinderte und nichtbehinderte Spielerinnen hier gleichberechtigt nebeneinander und berichten über ihre eigenen Erfahrungen. Daraus entsteht ein Mosaik aus ganz verschiedenen Perspektiven rund um die Themen Schwangerschaft und Abtreibung. Dramaturgisch ist der 80 Minuten kurze Abend so geschickt gebaut, dass die Spielerinnen wie ein organisches Ganzes wirken und keine Sichtweise dominiert: Mal werden einzelne Erfahrungen aus der Ich-Perspektive klar markiert, mal bleiben sie anonym, wenn mit einem von She She Pop mehrfach verwendeten Kunstgriff davon die Rede ist, dass „eine/einige von uns…“ dies oder jenes erlebt haben.

Unter den Performances der Freien Szene und des Stadttheaters ragt diese dritte Zusammenarbeit von Theater Thikwa und hansjanna aber auch heraus, da sie noch etwas anderes schaffen, was auch sehr viele versuchen und selten einlösen. Der Abend ist ebenso unterhaltsam wie lehrreich: Infotainment der besten Sorte. Zum Gelingen des Abends trägt entscheidend bei, dass das Ensemble mit ironischen Zustimmungen und Brechungen arbeitet. Einzelne aus dem Publikum werden genauso von oben herab angeredet, wie die Gesellschaft oft mit Menschen mit Behinderungen oder kleinen Kindern umgeht. Ein kleines Highlight dieses Abends voller gelungener Perspektivverschiebungen ist zum Beispiel die Videosequenz, in der junge Eltern ihr Unverständnis beklagen, wie sich Kolleginnen, seit sie am Theater arbeiten, keine anderen Themen mehr haben und sich völlig vereinnahmen lassen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/09/07/bauchgefuehl-theater-thikwa-kritik/
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