Baumeister Solness - Frank Castorf inszeniert Henrik Ibsens Drama an der Volksbühne Berlin als großes Play-Off künstlerischer Erwartungen
Des Künstlers jüngstes Gericht
von Wolfgang Behrens
Berlin, 28. Mai 2014. 62 Jahre ist Frank Castorf jetzt alt, und – bingo! – damit ist er im besten Solness-Alter. Henrik Ibsen war nur unwesentlich älter, als er sich in seinem Baumeister ein Alter Ego schuf, dem er so ziemlich die miesesten Eigenschaften des alternden Künstlers mit auf den Weg gab. Denn dieser Solness ist ja nicht viel mehr als ein Kotzbrocken, der – von seiner Mission überzeugt – sich gerne und ausgiebig selbst bejammert, einer, der skrupellos Menschen für sich und seine Kunst instrumentalisiert und dabei auch mal jungen Mädchen an die Wäsche geht. Vor der künstlerischen Jugend allerdings hat er Angst, denn der junge Wilde ist doch eigentlich er. Na also! Wenn das nicht Frank Castorf ist, der Mann, der seit nunmehr 100 Jahren (genauer: seit 1992) berufsjugendlicher Intendant der Volksbühne ist und dieses Amt auch nie, nie, nie freiwillig abgeben wird.
Es war also klar, dass Castorf irgendwann zu Ibsens "Solness" greifen und sich die Chance zur radikalen Selbstentblößung nicht entgehen lassen würde. Und wir, die wir zu einem nicht geringen Teil im Volksbühnen-Parkett hockend mit Castorf älter geworden sind, wir erwarten hochgespannt das Porträt des Künstlers als alternder Regisseur. Und was müssen wir erleben? Dass uns der alternde Regisseur eine Nase dreht. Denn das Künstlerdrama scheint Castorf nur insofern zu interessieren, als er es lächerlich machen kann. Aber sowas von!
In vielfacher Ausfertigung
Es beginnt schon damit, dass Castorfs Solness gar nicht alt ist. Marc Hosemann ist Jahrgang 1970, und nichts liegt ihm ferner als die Rolle des zergrübelten Künstlers. Die Deppenbrille mit hochklappbaren Sonnengläsern auf der Nase, spult Hosemann stattdessen vier Stunden lang ein Witzfiguren-Repertoire ab. Er imitiert und imitiert und imitiert – mal Hitler, mal Heinz Rühmann, mal Didi Hallervorden –, und er arbeitet sich bis zur völligen Verausgabung an Darstellungsleistungen früherer Volksbühnenkollegen ab – man darf an Matthias Matschke denken und vor allem an Henry Hübchen. Der sitzt praktischerweise in vielfacher Ausfertigung in der ersten Reihe bereit, lebensgroße Punchingpuppen, die jederzeit auf die Bühne gezerrt und schön respektlos herumgeschleudert werden können.
Bert Neumann hat für die Inszenierung eine hübsch-hässliche Wohnzimmer-Welt mit Teakholz-Schrankwand entworfen, die durch einen beweglichen Regal-Raumteiler von einer ziemlich ältlichen Einbauküche getrennt ist. Es ist ein Setting, das – diesmal ganz auf verschachtelte Container und Livevideo-Einsatz verzichtend – durchaus eine gewisse Boulevardkomödien-Atmosphäre aufruft. Und über weite Strecken sieht das Ganze auch wie brutalisierter Brachial-Boulevard aus. Anstatt sich mit Psychologisierungen aufzuhalten – die nun auch wirklich niemand bei Castorf erwartet –, wird hemmungslos auf Pointe gespielt. Nur dass die Pointen hier aus der typisch schnodderigen Volksbühnen-Sprachlichkeit ("Ham'Se ma was Süßes mit bei?") und der typisch zappeligen Volksbühnen-Körperlichkeit erwachsen.
Lange Nasen
Auf diese Weise hätte Castorf dem Künstlerdrama das Künstlerdrama allein dadurch austreiben können, indem er es zum Chargenarsenal umfunktioniert. Aber irgendwie musste die einmal geweckte Erwartung, Castorf selbst sei ein Baumeister Solness, natürlich auch noch bedient werden. Und Castorf dreht uns eine Nase zweiter Stufe: Indem er uns mit theaterinternen Anspielungen überhäuft. Dann heißt der Solness plötzlich doch Frank, und er hat eine Sekretärin, die Elke Becker heißt, und er leidet darunter, dass man ihm vorwirft, sich nur noch zu wiederholen. Und der Henry hat doch früher dem Frank so gut geholfen, und jetzt ist er weg bzw. nur noch seine Puppen sind da.
Mit dem Drama des Künstlers Castorf – falls dieses denn stattfindet – hat das indes rein gar nichts zu tun. Castorf spielt nur ironisch mit öden selbstreferentiellen Versatzstücken, die nichts bedeuten. Es ist eine Reflexion über die Erwartung, dass sich Castorf im "Solness" selbst reflektieren werde. Eine Selbstreflexion aber ist es gerade nicht. Ätsch!
Künstlerische Schwerstarbeit
Ansonsten ist vieles wie immer: Die bommelbemützte Hilde Wangel, die doch den Solness so verehrt, aber mittlerweile längst mit einem "Nachfolger" Franks rummacht, spielt Kathrin Angerer, äh, nein, umgekehrt, Angerer spielt Hilde Wangel. Genau genommen spielt Kathrin Angerer freilich Kathrin Angerer, aber das macht sie nölig wie eh und je und zum Niederknien gut. Und natürlich gibt es die obligatorischen Zitate aus Heiner Müllers "Auftrag", und natürlich explodiert die Dramaturgie im zweiten Teil unter dem enormen Materialüberschuss ins Diffuse (von Freddy Quinns "Wir" bis zur Ibsen-Sekundärliteratur muss ja noch einiges untergebracht werden). Es gibt ein paar tolle Bilder – nach seinem Selbstmord etwa darf Hosemanns Solness in den weißen Volksbühnen-Rundhorizont entschweben und eine rote Fahne mit der Aufschrift "Krise" befestigen –, und es gibt unendlich viele Albernheiten, die das Pathos solcher Bilder schnell wieder zerstäuben.
Nicht zuletzt gibt es das Gefühl, dass man eigentlich einer Durchlaufprobe beiwohnt, bei der das Ensemble mal schaut, wie lange der Abend eigentlich dauert und ob der Text schon sitzt (die Souffleuse Christiane Schober jedenfalls verrichtete Schwerstarbeit). "Gerichtstag halten über das eigene Ich" hat Ibsen einmal von sich als Künstler gefordert. Wenn Castorfs "Solness"-Inszenierung etwas leistet, dann ist es die deutliche Absage an diese Devise. Und übrigens: Sollte Castorf doch einmal Gerichtstag halten wollen, dann sollte er das nicht an der Volksbühne tun. Denn hier wird er am Ende bejubelt, egal, was er macht.
Baumeister Solness
nach Henrik Ibsen
Regie: Frank Castorf, Bühne und Kostüme: Bert Neumann, Licht: Lothar Baumgarte, Musikalische Einrichtung: Klaus Dobbrick, Dramaturgie: Sebastian Kaiser, Soufflage: Christiane Schober.
Mit: Marc Hosemann, Kathrin Angerer, Volker Spengler, Daniel Zilmann, Jeana Paraschiva, Horst Lebinsky.
Dauer: 4 Stunden, eine Pause
www.volksbuehne-berlin.de
Kritikenrundschau
Von "Senioren-Melancholie mit Scherz-Appeal" spricht Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (30.5.2014). Ibsens Geschichte eines müden Erfolgsarchitekten überlebe bei Frank Castorf kaum als Baugerüst. "Die verlorenen Visionen des Baumeisters Solness erscheinen ... in einer ironischen Referenz an die Geschichte der Volksbühne." Ständig lasse "Frank Witzchen über Frank machen". Ganze Passagen sind Briegleb zufolge "als Reenactment alter Kollegenmarotten inszeniert. Die als Sex-Kindchen aufgemachte Kathrin Angerer zitiert sich selbst als ewigen Vorwurf gegenüber Castorf, seines 'sexistischen Frauenbilds' wegen." Dieser Prozac-Solness sei eindeutig ein Castorf im Moment seines zurückkehrenden Erfolgs. "Von hier aus rekapituliert er die Zeit, als er zum ersten Mal allein oben im Glockenturm das Heer seiner Bewunderer überblickte".
"Ist jetzt bloß der Regisseur heruntergewirtschaftet oder schon das ganze Haus?" fragt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (30.5.2014). Doch da der Regisseur Frank Castorf heiße, integriere er solche Fragen gleich "keck" in seine Inszenierung. Was vom Originalstück übrig bleibe, habe dann auch mehr mit Castorfs Privatmythologie als mit Ibsens Vorlage zu tun. Die Souffleuse Christiane Schober habe sehr viel Arbeit. "Vermutlich reichte dem Ensemble die Zeit nicht, um den gesamten Text zu lernen, und Frank Castorf nicht, um die fast vierstündige Aufführung fertig zu inszenieren. 'Ich finde das alles viel zu privat', nöle Kathrin Angerer "einmal völlig zu Recht über seine aktualisierte Fassung – und larmoyant-hohl ist sie auch."
Um "eine absichtlich nicht in Form gebrachte Komödienetüde, mehr nicht" handelt es sich bei diesem Abend für André Mumot in der Sendung Fazit vom Deutschlandradio (28.5.2014). "Dementsprechend ist auch kein komplettes Haus von Bert Neumann auf die Bühne gestellt worden, und die charakteristischen Videoprojektionen fallen ebenfalls weg. Das kombinierte Architekten-Wohn-und Arbeitszimmer samt Dusche und Teeküche ist schlicht bis an die Rampe geschoben worden: Hier wird Frontalgroteske gespielt. Das ist, wie der ganze Abend, vor allem vordergründig."
Viel zu tun mit Ibsens Stück über Bürgertum und Schuld habe der Abend nicht, stellt Philipp Kohl im Berliner Boulevardblatt BZ (30.5.2014) fest. "Und doch ist es großes Gegenwarts-Theater, wenn Hosemann alias Pannen-Architekt Solness mit Roboterbewegungen 'Schö-ne-feld' ruft und sich 'Klaus' nennt." "Gaudi-Theater" heißt es an anderer Stelle.
"Was für ein Altherren-Kulturpessimismus!" ruft Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (30.5.2014) aus. "Um Castorf, fast nur um ihn, geht es in seiner Inszenierung von Ibsens Spätdrama, in dem es eigentlich um niemand anderem als Ibsen geht, auch wenn es von einem Baumeister namens Halvard Solneß handelt", fasst er den Diskurs des Abends zusammen. "Halvard ist (wie Ibsen, wie Castorf) auf dem Gipfel seiner Karriere, vielleicht auch schon ein Stückchen weiter." Castorfs Theater habe keine Reserve und gehe dennoch immer weiter. Doch Berlin ist aus Seidlers freundlicher Sicht ein "geduldiger und lustvoll-genervter Zeuge der Dauerselbstzerschmetterung eines grandiosen Narziss'."
"Hier funktioniert wieder die alte jazzige Methode des Meisters, einen Text zu nehmen und darüber mit einem Kollektiv zu improvisieren", schreibt Matthias Heine auf Welt-Online (30.5.2014) "Wobei man sich den Castorf-Jazz keineswegs als smooth und loungig vorstellen darf, vielmehr wird einem die Aufführung um die Ohren gebrötzt wie ein vierstündiges lautes Free-Jazz-Saxofon-Solo inklusive Spucke und missglückten Tönen, die ein Comiczeichner als krakelige Noten darstellen würde." Wer noch nie ein Freund von Castorfs Theater gewesen sei, der werde es auch nach diesem Abend nicht mehr werden. "Aber endlich ist der Regisseur wieder auf der Höhe seiner eigenen Kunst, und das ist hoch genug, um den Rest wie langweilige kastrierte Zwerge aussehen zu lassen."
"Castorf, ein Puppenheim", heißt es für Rüdiger Schaper vom Berliner Tagesspiegel (30.5.2014), der alles zu harmlos findet, "und zu lang sowieso". Castorf werfe jede Menge Trash und Zitate in diese Intendantenzimmerschlacht. Grundsätzlich aber hält es dieser Kritiker mit Mephistopheles, der nach einem Besuch beim Herrn im Himmel sagt: "Von Zeit zu Zeit seh' ich den Alten gern."
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Auch wenn diese Castorf-Inszenierung nicht mit einer All-Star-Besetzung wie „Brüder Karamasow“ oder seine „Kabale der Scheinheiligen“ aufwarten kann, gibt es doch einige Punkte, die den Abend sehenswert machen:
Daniel Zillmann gab in diesem Stück sein Volksbühnen-Debüt. In einer Doppelrolle (als Ragnar Brovik und Aline Solness) entert er in einem an Beth Ditto/Gossip erinnernden Kostüm raumgreifend die Bühne. In den vergangenen Jahren erspielte er sich einen festen Platz in den Inszenierungen von Pollesch und Castorf.
Wenn das Publikum die Freddy Quinn-Schlager-Seligkeit, mit der die letzte Stunde eingeläutet wird, und eine nicht ganz so in die Länge gezogene Heinz Rühmann-Parodie von Marc Hosemann überstanden hat, gibt es zum großen Finale noch als Hommage an David Bowie die „Space Oddity“-Hymne.
Zu dem Zeitpunkt sieht die Bühne längst wie ein Schlachtfeld aus: die Henry Hübchen-Puppen, die zu Beginn sauber aufgereiht neben der vielbeschäftigten Souffleuse saßen, wurden von Angerer, Hosemann und Co. längst in einer Mischung aus Voodoo-Zauber und Stoffpuppen-Weitwurf auf der Bühne verteilt: hier stapeln sich drei, dort liegen einige quer, wohin mit dem verlorenen Schuh?
Vor allem ist dieser „Baumeister Solness“ aber voll mit selbstironischen Insider-Gags.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/10/29/baumeister-solness-castorf-inszeniert-ibsen-ohne-video-und-mit-henry-huebchen-puppen-weitwurf/
Wolfgang Behrens ist auch nach fast zweieinhalb Jahren recht zu geben, dass Frank Castorf kein Baumeister Solness ist. Während letzterer Angst davor hatte, dass die JUGEND bei ihm anklopft, weil sie ihn vernichten will, ist Frank Castorf zwar genervt, wenn in der Kantine und bei den Proben, wenn überall Hospitanten herumlungern, aber für die sind wahrscheinlich die leeren Heftchen und das gespitzte Bleistiftchen gedacht, damit sie alles schön mitschreiben und abkupfern können, aber das Format, um im oben beschriebenen Sinn an die Tür zu klopfen, dieses Format hat keiner von denen.
Obwohl es schon nicht schlecht wäre, wenn man den Frank mit seinem wuchernden „Bonusmaterial“, mit dieser Ideenflucht, mit diesen Sandmalereien, die oft schneller wieder ausgelöscht werden, als sie ein Mensch mit durchschnittlicher Auffassungsgabe wahr- geschweige denn ernstnehmen kann und die – so ahnt man – wahrscheinlich ziemlich viel damit zu tun haben, dass sich der Arbeitsschrank durch einen Schwenk zur Bürobar umfunktionieren lässt, wenn man diesen Endlosschleifer mal ordentlich in die Ecke treiben und festnageln könnte, wie sich Solness selbst festnagelt, wenn er sagt, dass sein Glück eine große, hautlose Stelle auf der Brust ist: Und die Diener und Helfer laufen herum und stehlen bei anderen Menschen Hautstücke, um die Wunde zu schließen, aber sie, diese Amfortas-Wunde, heilt nie.
Auch wenn es zum Publikumskonformismus der Volksbühne gehört, alles vom Frank toll zu finden, für mich war lehrreich, dass dieser Improvisationswahn bis zu Willi-Schwabes-Rumpelkammer (bei mir ist das Stichwort Kinder hängengeblieben und dass man ordentlich zahlen muss, denn eine Kuh, die gemolken wird, entgeht der Schlachtung) und gleich drei dilettantischen Freddy-Quinn-Karaokes (Stichwort – vielleicht: unbelehrbarer deutscher Grundcharakter), dass das nicht das ist, was ich vom „Bayreuth des Sprechtheaters“ erwarte. Vielleicht geschieht ja doch das Wunder und es klopft einer an und die Volksbühne wächst über Frank Castorf hinaus.