Wo sind Deine Wurzeln?

3. Dezember 2023. Armin Petras setzt in Cottbus mit "Ich mach mir ein Lied aus Stille" einen großen Strittmatter-Abend an. Es geht um frühere und heutige Heimatgefühle in einer entkernen Region Brandenburgs. Ums Leben in der "dürren Zone".

Von Michael Bartsch

Der Strittmatter-Abend "Ich mach ein Lied aus Stille" von Armin Petras in Cottbus © Bernd Schönberger

3. Dezember 2023. Als die Türen im prächtigen Jugendstil-Staatstheater Cottbus halb acht geschlossen werden, schweift der Blick ungläubig durch den Saal. Es ist Premierenabend, und geschätzt ein Viertel der Plätze bleiben leer! Angekündigt ist nichts weniger als eine Heimat-Trilogie, und mit dem beschlossenen Ende des Kohleabbaus kämpft die Lausitz zumindest um eine Komponente gewachsener Heimatempfindungen. Da sollte das Publikum doch strömen, möchte man meinen.

Doch zweieinhalb Stunden später tritt Frieda aus Erwin Strittmatters Roman "Ole Bienkopp" an die Rampe, ob Originaltext oder nicht, und schleudert wie eine Publikumsbeschimpfung den Satz in den müden Saal: "Es sind noch nicht alle Plätze besetzt, und einige sind wohl schon wieder weg." Da waren jene, die zur zweiten Pause auch noch gingen, gar nicht einbezogen.

Triptychon zur brandenburgischen Heimat

Vier Stunden dramatischen Heimatexkurses in der Regie von Armin Petras standen also an. An sich eine hervorragende Idee: mit dem ersten und zweiten Teil des Abends das dialektische Anti-Paar Eva und Erwin Strittmatter für eine Beschreibung des heutigen Brandenburger Milieus heranzuziehen. Aber es greift zu kurz, bei Eva Strittmatters Gedichten zuerst eine landschaftliche Inspiration zu sehen und diese den Cottbusern zu suggerieren. Der legendäre Schulzenhof, die in der Region Rheinsberg in Nordbrandenburg gelegene Einsiedelei der Strittmatters, liegt in einer von der Niederlausitz gänzlich verschiedenen Wald- und Seenlandschaft.

Sensible Lyrik als Schlager-Show

Ein verschmerzbarer Fehlgriff, und ein geringer im Vergleich zum Versuch der ersten halben Stunde, die sensiblen und lebensklugen Gedichte Eva Strittmatters in einer meist inadäquaten Weise zu vertonen. Das sollte man aus Respekt vor dem intimen Genre Lyrik besser lassen. Schon der wohlgemeinte Vortrag von Gedichten bei Lesungen zwingt dem Hörer eine Rezeptionsgeschwindigkeit auf. Erst recht eine Instrumentalisierung nicht als Couplet oder Chanson gedachter Texte.

"Das Leben ist gut – dazu gehört Übermut": das Cottbusser Ensemble in Kostümen von Annette Riedel © Bernd Schönberger

Immerhin diente die Eva-Strittmatter-Zeile "Ich mach ein Lied aus Stille" der Titelgebung dieser Inszenierung. Und so vielen Zeilen möchte man unaufgepoppt nachlauschen: "Das Leben ist gut – dazu gehört Übermut" oder "Ich weiß nichts von mir, ich bin mir zu flüchtig" oder "Erst wenn man weiß, dass sie enden kann, hat man den Anfang der Liebe erreicht".

In der Vertonung von Juli Niemann und Andreas Wittmann zeigen sich im komplett agierenden Cottbuser Schauspielensemble Könner und Talente. Und dennoch wirkt dieser Einstieg wie ein überzuckerter Appetizer, das Publikum klatscht zum Teil sogar prompt mit. Eine zu poppige Anmache, die zudem darunter leidet, dass Ansätze von Live-Musik am Klavier, am Saxophon oder mit der Ukelele bald wieder von der Konserve zugedröhnt werden. Einiges klingt nach "Hair" und den Achtundsechzigern, peinlich wird es, wenn die Lyrik wie eine Parodie auf Schlagersendungen anmutet.

Eindrücklicher Stoff: Erwin Strittmatters "Ole Bienkopp"

Einen eigenen Abend statt eines aufgeblasenen Triptychons verdient hätte die Umsetzung von Erwin Strittmatters "Ole Bienkopp". Das ist nun wirklich eine Südostbrandenburger Geschichte aus der Nachkriegszeit und der ihr folgenden DDR.

Der Stoff aus der "dürren Zone" mit Sand und Kiefern wirkt zeitlos, weil er in der Person des Landwirtschafts-Kollektivierungspioniers Ole Bienkopp den Dauerkonflikt zwischen starken Individuen und dem Kollektiv, mithin mit dem herrschenden Mainstream, beschreibt. Solchen Typen und Unikaten trauert man in der heute uniformierten, idealfreien Konsumgesellschaft unwillkürlich nach.

Stille 2 c Bernd Schönberger.jpgErneuerer der Landwirtschaft: Kai Börner als Ole Bienkopp © Bernd Schönberger

Armin Petras ist es gelungen, diese für die 1950er Jahre typische DDR-Geschichte überwiegend chorisch wie im kommentierenden antiken Modell nachzuerzählen und zugleich die Individuen in einer Dorfgemeinschaft zu schildern, die nur in Gestalt aufgesetzter Funktionäre gleichgeschaltet wirkt. Ungewöhnlich genug, dass man ohne vorheriges Lesens der Romanvorlage deren Dramatisierung sofort versteht. Ole Bienkopp initiiert eine Genossenschaftsinitiative, die als eine Art Modell für die späteren forcierten Zusammenschlüsse der Bauern in Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) gelten kann.

Die Ausstattung trägt zur Anschaulichkeit bei: Das "Volk" führt Hacken, Hammer, Sensen, Mistgabeln und Schreibmaschinen (!) mit. Unverständlich, dass insbesondere ältere Besucher, die Strittmatter noch als Schulstoff kennen, wegen dieser Bühnenadaption zur Pause gehen, wie zu belauschen war.

Verzichtbarer Ausflug in die Gegenwart

Im dritten Teil ist die ebenso zweckmäßige wie symbolträchtige halbkreisförmige aufsteigende Rampe auf der Drehbühne verschwunden. Es geht wiederum um eine Romanumsetzung: "Daheim" von Judith Hermann, erst vor zwei Jahren erschienen. Gezeigt wird eine Musterfrau, die im Westen oder irgendwo eine Heimat sucht. Ein einziger Fragesatz weist darauf hin: "Wo sind Deine Wurzeln? – Vielleicht habe ich gar keine!"

Die schwer zu fassende Frau jenseits der 40 steckt in einem kaum nachvollziehbaren Liebschaftslabyrinth. Man stößt auf austauschbare Kindheitserinnerungen, inkommensurable Versatzstücke, überfrachtet mit Belanglosigkeiten. Alles im heute üblichen Konversationssound, der klingt, als befände man sich in einer Comedy-Show. Dazu in Castorf'scher Manier Dauerkino per Live-Kamera. Völlig verzichtbar unter dem Aspekt des gestellten Heimat-Themas, und die Bewunderung gilt einem begabten Ensemble, das sich auch dieser undankbaren Aufgabe stellt.

In summa: Das Cottbuser Theater war an diesem Abend für zu viele leider keine Heimat.

Ich mach ein Lied aus Stille – eine Heimat-Trilogie
mit Texten von Eva Strittmatter, Erwin Strittmatter und Judith Hermann
Regie: Armin Petras, Bühne: Julian Marbach, Kostüme: Annette Riedel, Musikalische Leitung: Juli Niemann, Andreas Wittmann, Choreografie: Berit Jentzsch, Video und Live-Kamera: Rafael Ossami Saidy, Dramaturgie: Franziska Benack.
Mit : Torben Appel, Manolo Bertling, Sophie Bock, Kai Börner, Thorsten Coers, Sigrun Fischer, Gunnar Golkowski, Charlotte Müller, Juli Niemann, Ariadne Pabst, Markus Paul, Johannes Scheidweiler, Nathalie Schörken, Lucie Luise Thiede, Susann Thiede, Maria Tomoiagǎ , Eric Werchan.
Premiere 2. Dezember 2023
Dauer: 4 Stunden, zwei Pausen

www.staatstheater-cottbus.de

 Kritikenrundschau

"Petras setzt auf das Disparate, den Theater-Tanz auf der Rasierklinge, kurz vorm Absturz in den Kunst-Kitsch und die Polit-Propaganda", schreibt Frank Dietschereit im rbb Kultur (4.12.2023). Das Premierenpublikum habe darauf "etwas ratlos" reagiert: "Vielleicht war die musikalische Heimat-Lyrik einigen zu launig, die reanimierten Polit-Phrasen des sozialistischen Realismus zu vorgestrig, das Kamera-Chaos des digitalen Kapitalismus zu krude." Petras aber wolle "uns nicht erklären, was Heimat ist", sondern er vermittele "Varianten, stellt Fragen und verweigert Antworten". Der Abend sei "ein wahnwitziges Panoptikum" und "unbequem, aber ungemein anregend".

Petras zentrale "Ole Bienkopp"-Variation sei eine "sehr auf die Dialoge fokussierte", aber auch "manchmal so verrätselte, dass nicht ganz einfach ist, der Story immer zu folgen", so Michael Laages im Deutschlandfunk Kultur (2.12.2023). Der Chor bringe es aber "immer wieder auf den Punkt". Das sei eine "interessante Mischung", die der Kritiker in dieser Trennung zwischen sprechenden Figuren und dem, "was der Roman sagt", lange nicht mehr gehört habe. Zum dritten Teil mit der Judith-Hermann-Bearbeitung sei es allerdings "auch ästhetisch ein ziemlich weiter Sprung". Aber so "unzusammenhängend" die Teile auch sein mögen – sie schafften es doch, von Heimat zu erzählen, so der Kritiker.

Kommentare  
Ich mach ein Lied aus Stille, Cottbus: Unverständlicher Einwand
Zuerst einmal: Die Auflistung der Besetzung ist nicht vollständig und teilweise falsch. Könnte das bitte korrigiert werden?

„Unverständlich, dass insbesondere ältere Besucher, die Strittmatter noch als Schulstoff kennen, wegen dieser Bühnenadaption zur Pause gehen, wie zu belauschen war.“

Das lässt ja sehr tief blicken, inwiefern ist das unverständlich? Seit wann ist die Tatsache dass etwas Schulstoff war, zwingend dafür dass man nicht in der Pause gehen sollte? Unverständlich, was der Kritiker hier unverständlich findet…

(Anm. Redaktion: Welche Positionen fehlen im Besetzungskasten? Musikalische Leitung: Juli Niemann und Andreas Wittmann? Sind nachgetragen. Mit freundlichen Grüßen, Christian Rakow)
Ich mach ein Lied aus Stille, Cottbus: Gratulationen!!
DANKE FÜR DIE TOLLE BÜHNE!!! DANKE AN DAS TOLLE ENSEMBLE!!! DANKE FÜR DAS WUNDERBARE VIDEO. DANKE FÜR DIE KOSTÜME, DANKE FUR UNGLAUBLICHE MUSIK. DANKE FÜR 4 STUNDE IM THEATER!!! DANKE REGIE FUR 3 VERSCHIEDENE WELTEN!! WAHNSINNIGE LEISTUNG!!! GRATULATIONEN STAATSTHEATER COTTBUS!
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