Golden Heart - In Bremen tritt Alize Zandwijk bei ihrem spartenübergreifenden Versuch über die Menschenfreundlichkeit auf der Stelle
Anrufung der großen Liebesmüh
von Tim Schomacker
Bremen, 13. Januar 2017. Kaum hat der Abend begonnen, ist die Luft auch schon wieder raus. Ein Bild wie das allererste kriegt die regelmäßig in Bremen arbeitende niederländische Regisseurin Alize Zandwijk in zwei Stunden Erzählen, Sagen und Zeigen nicht noch einmal hin. Diesmal. Dieses erste Bild geht so: In einen Reinemachkittel gekleidet, geht Nadine Geyersbach an der blaugrün gemaserten Bühnenwand entlang. An einer goldglänzenden Einbuchtung bleibt sie stehen. Irgendwie tastend. Sie legt ihre Brille auf eine Stufe. Sie nimmt eine große Pappe. Und wedelt mit einer knappen Bewegung alle zwei, drei Dutzend Kerzen aus, die in der Nische auf einem Gestell stehen. Diese unvermittelte Eigenartigkeit holt "Golden Heart" nicht wieder ein.
Mängelanzeige
Da hilft alles nichts: Nicht das hehre Ziel, aus Motiven und Motivationen von Hingabe, Aufopferung und Nächstenliebe im Alltäglichen einen Abend zu bauen. Nicht die Integration von Tanz, Schauspiel und Performance. Nicht der Verweis auf die Filme von Ulrich Seidl und Lars von Trier – denn diese Inspirationsquellen versiegen zusehends. Und da hilft auch nicht der Umstand, dass ein Fuder Schauspieler*innen und Tänzer*innen – nebst Maartje Teussink als virtuose aber dezente Singer-Songwriter-und-Geräusche-Unit auf der Bühne – selbstverständlich in der Lage ist, "Momente" herzustellen. Die aber nicht entwickelt, kontrapunktisch beleuchtet oder szenisch wie diskursiv durchgearbeitet werden, sondern einfach ins Sonstwohin katapultiert werden und verpuffen.
Seltener Kippmoment
Ich weiß, was Sie jetzt denken. Und Sie haben Recht! "Wie schaut das denn nun eigentlich alles aus?"
Nach dem Kerzenauswedeln spannt Geyersbachs Figur – die sich locker an Lars von Triers Selma aus "Dancer in the Dark" anlehnt – Wäscheleinen an den Wänden. Als sie die dritte Leine fast mit Wäscheklammern bestückt hat, steht ihr plötzlich ein Akteurs-Oktett im Nacken. Es tauchen Ensemblechoreographien auf. Von hübsch verschachtelten Kniefall-Figuren bis hin zu einem sich in den Gruppenkörper fortpflanzenden verschämten Tanz der Geyersbach-Figur oder dem gemeinschaftlichen Nachvollzug der Gesten von Fania Sorel, die von der Kindheitserinnerung an gerettete Seesterne erzählt.
Wiederkehrende Motive werden ineinander verschränkt. Sorel variiert das Märchen vom Mädchen, das wegen seines titelgebenden Goldenen Herzens Essen, Kleidung und Liebe verschenkt, bis hinein in die Gegenwart des Palästinakonflikts oder eine chinesische Straßenszene. Oder ein Vater-Sohn-Duett, das Robin Sondermann und Guido Gallmann Mal um Mal erneut aufnehmen. Hier gibt es auch einen tatsächlich berührenden Kippmoment zu bestaunen, wenn Gallmanns väterliche Verzweiflung über den Verfall seines Körpers (er muss dauernd aufs etagenhoch in den Bühnenraum gebaute Klo, weigert sich aber standhaft eine Inkontinenzwindel zu tragen) mit der Verantwortungsüberdosis des von Sondermann gespielten Sohnes enggeführt wird – die karge, auch klanglich interessante Waschung des toten Vaters inklusive.
Nur die Summe
Aber ob's die technisch raffinierten, ebenso ausdrucksstarken wie wenig eindringlichen Tanzsoli Lotte Rudharts und vor allem Szu-Wie Wus sind, die stimmlichen "Momente" des ivorischen Ginsterdorfer/Klaßen-Routiniers Gotta Depri oder Teussinks innige Songs – dieser Abend will und will nicht ein Hauch mehr werden als die Summe seiner Teile. Und möchte es doch so gern.
Mitmenschlichkeit und Hingabe sind ebenso wichtig wie anstrengend und bisweilen schwierig. Aber so wie die Zuschauenden einerseits mangels philosophischer Durchdringung der Motive für Selbstlosigkeit nicht herausgefordert werden, fehlt andererseits auch der performative und dramaturgische Sog, den ein solcher aus sich lose aufeinander beziehenden Elementen, Bildern, Szenen bestehender Abend unbedingt bräuchte.
Golden Heart
von Alize Zandwijk
Regie: Alize Zandwijk, Bühne und Kostüme: Thomas Rupert, Musik: Maartje Teussink, Dramaturgie: Liet Lenshoek.
Mit: Gotta Depri, Guido Gallmann, Nadine Geyersbach, Miquel de Jong, Lotte Rudhart, Robin Sondermann, Fania Sorel, Maartje Teussink, Szu-Wie Wu.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.theater-bremen.de
"Zandwijk bleibt ihrem Kernthema auf überzeugende Weise treu: Geschmeidigkeitsübungen im Dienste des Guten", schreibt Hendrik Werner im Weser-Kurier (15.1.2017). Mehr einem assoziativen Szenenreigen als einer stringent erzählten Geschichte gleiche die "mal traurig, mal frohgemut" stimmende Produktion. "Auch ohne nähere Kenntnis einzelner kulturhistorischer Stimmen, die in dem sorgsam aus Tanz, Musik und Schauspiel gewobenen Abend echoen, stellen sich für das Publikum intensive Stimmungen her."
Rolf Stein von der Neuen Osnabrücker Zeitung (15.1.2017) sieht einen formal und darstellerisch anregenden Abend, der auch irritieren könne. Leitgedanke sei die Frage, "welcher Art denn eine Gesellschaft ist, die offenbar regelmäßig die Notstände hervorbringt, die so viel Altruismus erst erfordern". 'Golden Heart' erschöpfe sich auf der theoretischen Ebene in einem fatalistischen 'Muss ja'.
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