Krieg der Bilder

24. September 2023. In Nino Haratischwilis Georgien-Roman ist Geschichte das, was passiert, während Menschen versuchen, ihr Leben zu Leben. Wie dabei Krieg und Gewalt immer stärker in den Vordergrund rücken, zeigt Intendantin Dagmar Schlingmann in Braunschweig.

Von Jan Fischer

"Das mangelnde Licht" in der Regie von Dagmar Schlingmann in Braunschweig © Joseph Ruben Heicks

24. September 2023. "Das ist keine Ausstellung, das ist eine Totenwache", befindet Nene, nachdem die drei Freundinnen Keto, Ira und Nene sich die die Fotos ihrer verstorbenen Freundin Dina angeschaut haben. Denn die Fotos wecken Erinnerungen – an ihre Freundschaft, damals, im georgischen Tblissi, als sie in den botanischen Garten eingebrochen sind, damals, als sie alle auf dem Abschlussball getanzt haben, als sie sich verliebten und ihre Leben vor ihnen lagen. Aber eben auch an damals, als die Sowjetunion sich auflöste, als Bürgerkriege, Proteste und Gewalt Georgien in Unruhe stürzten.

Das blutige Rad der Geschichte

Nino Haratschiwilis 800 Seiten starker Roman "Das mangelnde Licht" erzählt von den Umbruchjahren in Georgien zwischen 1987 und den 1990er Jahren. Und er erzählt von den drei Freundinnen, die sich 2019 auf der Ausstellung wiedertreffen und ihre Freundschaft erneuern.

Die Adaption der Intendantin Dagmar Schlingmann – in Braunschweig die erste Inszenierung auf der großen Bühne in dieser Spielzeit – folgt dem Roman in seiner Struktur: Die erzählerische Klammer bildet die Ausstellung. Dazwischen werden im Rückblick die verflochtenen Geschichten der vier und ihrer Familien und Liebschaften erzählt, während außen herum sich die Welt neu ordnet.

Das mangelnde Licht2 1200 Joseph Ruben Heicks uDas Private ist politisch: Mariam Avaliani, Georg Mitterstieler, Naima Laube, Ivan Marković © Joseph Ruben Heicks

Anfangs klappt das auch ganz gut: Die Weltpolitik scheint fern, wichtiger ist, wer in wen verliebt ist, wer mit wem tanzt, die ersten Lieben, die Affären, Küsse, Tänze. Die Politik allerdings ist auf der Bühne von Sabine Mader immer präsent – in Form von groß auf eine weiße Flucht gezogenen Fotos von Soldaten, zerstörten Gebäuden und Autos, deren Wände die Bühnengrenze bilden. Darunter rotiert eine Drehbühne, auf der die Figuren der Inszenierung sich immer wieder in den Fokus der Geschichte bewegen. Anfangs ist der Umbruch darin zwar präsent – aber nicht bestimmend. Hintergrundrauschen.

Doch die Fallhöhe kommt, das Rad der Geschichte läuft unaufhörlich weiter, in immer größeren Dramen: Plötzlich sind da Waffen im Spiel, wird Gewalt ausgeübt, sind Vergewaltigungen und Morde nicht selten, taucht Heroin auf, blüht das Verbrechen in den zerstörten Straßen. Und die Politik, die bis dahin immer nur auf den Bühnenwänden präsent war, beginnt das Leben der Menschen zu bestimmen, so lange, bis die Drehbühne in blutig-rote Blätter getaucht ist, die unaufhörlich aus dem Bühnenhimmel rieseln.

Fotos, flüchtig an der Wand

Die Handlung erinnert dabei eine Seifenoper, bei der unterschiedliche Figuren eine Erzählerstimme übernehmen: Verbotene Liebe zwischen mehr als nur einem Paar, eine Schwangerschaft, Drogengeschäfte, Erpressung, Morde. Alles das wird in einem halsbrecherischen Tempo abgehandelt, während die äußeren Umstände sich ständig verschärfen und die Freundschaft der vier irgendwann auseinanderbricht, weil alle ihre unterschiedlichen Wege gehen, Ira als frisch gebackene Staatsanwältin Nenes Bruder anklagt, während Dina mit ihrer Kamera loszieht, um das Leid zu dokumentieren.

So ausschweifend die Geschichte ist, so zurückgenommen ist die Bühne: weiß mit grob pixeligger Kriegsfotografie; selbst Dinas Bilder in der Ausstellung bleiben schwarze Quadrate. Die einzigen Extravaganzen sind elektrische Heizkörper und Fotos, die Dina während – meist – glücklicher Momente schießt und die kurz danach flüchtig an die Wand geworfen werden, aber die Kriegsbilder immer nur kurz überdecken.

Alte und neue Kriege

"Das mangelnde Licht" ist eine Geschichte darüber, wie Krieg und Gewalt sich in eine Gesellschaft einfressen, wie sie Hoffnung und Träume zerstören und Elend zurücklassen – auch bei denen, die nicht direkt betroffen sind. Gleichzeitig ist es auch eine Sozialskizze Georgiens, in der eine alte Generation sich an den Kommunismus erinnert und eine neue Generation einen Aufbruch versucht, der brutal verhindert wird.

Das mangelnde Licht3 1200 Joseph Ruben Heicks uNina Wolf als Keto Kipiani © Joseph Ruben Heicks

Aktuell wird "Das mangelnde Licht" auch dadurch, dass vor dem Fall der Sowjetunion die Rote Armee dortige Aufstände brutal niedergeschlagen hat – und Russland ab 2008 begehrliche Blicke auf das durch ständige Bürgerkriege geschwächte Georgien warf und einmarschierte. Zwar ist "Das mangelnde Licht" keine Geschichte über den Krieg in der Ukraine. Dass dieser hier durchschimmert, liegt auf der Hand.

Zwar hätte der Inszenierung sicherlich etwas mehr Mut zu einer Bewegung weg von der Vorlage gutgetan, genau wie Kürzungen und ein etwas kleinerer Fokus auf die von Zeit zu Zeit doch recht breit gelatschten seifenoperigeren Aspekte der Geschichte, die die Figuren kaum entwickeln. Dennoch ist "Das mangelnde Licht" eine gelungenen Inszenierung, die in einer einfachen, figurengetriebenen Geschichte von der zerstörerischen und gesellschaftszersetzenden Kraft des Krieges erzählt. In der der Krieg zwar nie richtig stattfindet, dafür aber umso intensiver präsent ist – nicht auf den Schlachtfeldern, sondern in den Leben der Menschen, die eigentlich nur ihren Alltag bewältigen wollen, während anderswo Geschichte passiert.

Das mangelnde Licht
von Nino Haratischwili
Regie: Dagmar Schlingmann, Bühne: Sabine Mader, Kostüme: Inge Medert, Musik: Alexandra Holtsch, Licht: Tobias Krauß, Dramaturgie: Katharina Gerschler.
Mit: Nina Wolf, Ivan Marković, Mattias Schamberger, Nino Burduli, Lea Sophie Salfeld, Gertrud Kohl, Naima Laube, Lina Witte, Daniela Gancheva, Georg Mitterstieler, Mariam Avaliani, Valentin Fruntke, Roman Konieczny.
Premiere am 23. September 2023
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

staatstheater-braunschweig.de

 

Kritikenrundschau

"Die regieführende Generalintendantin Dagmar Schlingmann hat eine ungemein intensiv agierende Riege junger Darstellerinnen zur Höchstleistung animiert", lobt Martin Jasper in der Braunschweiger Zeitung (25.9.2023). Das Stück erzähle einen extrem prallen Roman nach, der wiederum einen sehr turbulenten Abschnitt der georgischen Geschichte Revue passieren lasse. "Da kommt viel zusammen, da ballt sich die Action oft unübersichtlich. Die verschachtelten Freundschafts-, Liebes- und vor allem Verwandtschaftsbeziehungen parat zu behalten, ist auf Dauer anstrengend." Zum anderen entgehe die Inszenierung nicht "der Gefahr, die in allen Roman-Dramatisierungen lauert", so Jasper. "Es wird viel referiert." Es gebe aber durchaus "starke szenische Einfälle, etwa mit einem irre gewordenen Vergewaltigungs-Opfer (Mariam Avaliani). Oder mit den dramatischen Figuren, wie sie sich vergeblich auf der Drehbühne gegen den Sog der Ereignisse, des Nicht-Zueinander-Findens stemmen."

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