Die Schritte der Nemesis - Staatstheater Braunschweig
Wahrheit ist willfährig
5. Juni 2022. Der russische Dramatiker und Regisseur Nikolaj Evreinov war ein früher Anhänger des Reenactments. Über die Stalinistischen Schausprozesse schrieb er das Stück "Die Schritte der Nemesis". Regisseurin Yuri Birte Anderson macht daraus ein großes Lehrstück über Wahrheits-Manipulation und die Macht des Storytelling.
Von Frank Kurzhals
Braunschweig, 4. Juni 2022. Die ganze Welt, sie ist ein einziges Theater. Und das ist schlimm so. Denn was ist mit der Wahrheit, wenn alles Theater ist? Wenn vor lauter Spiel die Wirklichkeit auf der Strecke bleibt, weil sie an die Wand gespielt wird? Dann ist alles nur noch verkehrte Welt. Und genau um die geht es im Staatstheater Braunschweig bei der deutschen Uraufführung von "Die Schritte der Nemesis". Einem Stück, das als eine "Dramatische Chronik aus dem Parteileben der UdSSR (1936-1938) in sechs Bildern" von Nikolaj Evreinov 1953 geschrieben wurde und im Jahr 1955, nach dem Tod von Evreinov (1879 – 1953), in einem russischsprachigen Verlag in Paris publiziert werden konnte. Für die Uraufführung in Braunschweig wurde "Die Schritte der Nemesis" von Regine Kühn erstmals aus dem Russischen ins Deutsche und Englische übertragen.
Die zentrale Frage, die sein Stück über viele Ebenen auffächert, ist gleichzeitig seine Lebensfrage: Was kann man noch glauben, wenn alles Theater ist und alle sich etwas vormachen? Vor allem in der Politik. Am Beispiel der Stalinistischen Schauprozesse in der UdSSR hat Evreinov das Spiel zwischen Wirklichkeit und alternativen Wirklichkeiten als Kampf um Deutungshoheit in der Politik in Szene gesetzt. In Braunschweig ist bei der Inszenierung von Regisseurin Yuri Birte Anderson viel Brecht dabei, Verfremdungseffekte, die dem Stück Aktualität geben, es von der dort konkret verhandelten Vergangenheit in die Gegenwart holen. Und damit zeigen, es gibt doch nichts Neues unter der Sonne. Machtstrukturen bleiben als Kommunikationsmuster erhalten.
Macht des Storytelling
Evreinov beobachtete die Schauprozesse ehedem sehr genau, bevor er sein Stück schrieb. Aus der Pariser Emigration. Dorthin hatte er sich 1924, bevor Stalin an die Macht kam, abgesetzt. Zuvor war er selber noch ein Handlanger des Systems, ein Befürworter der "Theatralisierung des Lebens". Es ging ihm darum, Deutungshoheit darüber zu erlangen, wie, und vor allem durch wen der Kommunismus an die Macht kam. In seiner Darstellung war es die Erstürmung des Winterpalastes als Volkssturm. Und des Volkes Wille zählt. Seine als Massenspektakel inszenierte machtvolle Deutung wirkt als Mythos noch immer im russischen Reich der Legendenbildung. Dann wechselte er die Seiten. Storytelling wurde von ihm nicht mehr genutzt, um zu beeinflussen, sondern um Beeinflussungsstrategien aufzudecken. Die "Nemesis" ist sein Paradestück.
Auf einer mit einigen grauen Stühlen bestückten und ansonsten inselartig leeren Bühne (Ulrich Leitner), die eingerahmt ist von einer hölzernen Amtsstubenbande, als wäre es eine Arena, wechseln statt seiner jetzt Schauspieler die Seiten, ständig. Mal sitzen sie fest auf den Stühlen, dann machen sie sich ihre Plätze streitig, ringen ganz wundervoll mit sich und an den 0815-Stühlen, schieben sie zur Seite, heben sie aus dem Bühnenfeld heraus an die Seite. Lauter Perspektivwechsel. Eine beeindruckende Metapher für die ewig ergebnislose Suche nach dem richtigen Platz in der Welt.
Mit ihren grauen Hosen und weißen Blusen oder Hemden sind sie die Allerweltsmenschen. Raisonnieren oder kommentieren großartig pantomimisch das Geschehen. Und sie verschwinden immer mal wieder hinter der großen und ein wenig hochgezogene Leinwand am Ende des Bühnenraums. Durch den unteren Schlitz kann man gerade noch erkennen, dass sie hinter der Leinwand stehen, auf der das, was dahinter stattfindet, nur noch in schwarz-weiß reproduziert wird (Video: Zee Upitis).
Schwarz-Weiß-Projektionen
Doch dieses Schwarz auf Weiß ist das Gegenteil von Wirklichkeit. Hier residiert die Geschichtsfälscherwerkstatt. Die Chargen, die die Schauprozesse planen, agieren in vielen kleinen Szenen hinter der Leinwand. Sprechen russisch und deutsch, mal ist auch amerikanisches oder kontinentales Englisch dabei, und sogar Evreinov (Tobias Beyer) tritt auf, gibt von oben herab Anweisungen. Er herrscht Stalin (Thomas Behrend) an, damit der sich rhetorisch wirkungsvoller verhält, verteilt Punkte für gelungen gespieltes Leiden wie bei einem Grand Prix des Schmierentheaters. Klavier und Schlagzeug (Jonas Burgwinkel und Lukas Pergande) erschaffen kontinuierlich und vortrefflich einen atmosphärischen Raum, begleiten kongenial die große Show um den Schein.
Die queere Performerin Antonina Romanowa sollte ursprünglich in der Inszenierung mitspielen, aber wegen des Krieges in der Ukraine hat sie sich entschieden, in einer Bürgerwehr zu kämpfen, um das Land gegen den Angriffskrieg von Putin mit zu verteidigen. Via vorproduziertem Videobild ist sie nun trotzdem dabei. Und Andrey Urazov, auch das ein Teil der verkehrten Welt, er verließ mit seiner Familie kurz nach Kriegsausbruch Belarus, spielt jetzt in Braunschweig, er gibt mit überzeugender Hingabe einen russischsprachigen Part. Das bei ihm so schön klingende Russisch hat dadurch keine Künstlichkeit.
Schein und Wirklichkeit
Die Gegenläufigkeit beider Biographien spiegelt die Absurdität des politischen Alltags. Immer wieder spricht Romanowa mit leiser nachdenklicher Stimme über die Leinwand zu ihrem Publikum, mit einem grünen Armee-T-Shirt plakativ gekleidet. Ihre Botschaft, jeder Mensch entscheidet sich selber für eine Rolle im Leben, und wenn das nicht selbstbewusst geschieht, dann sorgen andere dafür. Und, als zweites Statement: Es gibt kein Theater, das unpolitisch ist. Und die Theater, die unpolitisch bleiben wollen, sind dadurch erst recht politisch.
Die Inszenierung lässt das den Raum gerade mal zur Hälfte füllende Premierenpublikum mit einer bitteren Erkenntnis zurück: Alles ist Theater, im Alltag noch mehr, als auf der Bühne. Aber, ist das Aufklärung, oder schon wieder Verklärung? Verklärung der Wirkungsmacht von Kommunikation? Wahrheit wird hier als willfährige Verfügungsmasse dargestellt. Aufklärung bleibt dadurch auf der Strecke. Und in Erinnerung bleibt ein faszinierendes Lehrstück über die Macht des Storytelling an einem historischen Beispiel.
Die Schritte der Nemesis
Uraufführung
Dramatische Chronik aus dem Parteileben der UdSSR (1936-1938) in sechs Bildern
von Nikolaj Evreinov, aus dem Russischen von Regine Kühn
Regie: Yuri Birte Anderson, Bühne und Kostüme: Ulrich Leitner, Musik: Jonas Burgwinkel, Lukas Pergande, Video: Zee Upitis, Licht: Rasmus Huxhagen, Dramaturgische Beratung: Christoph Hilger, Historische Beratung: Gleb J. Albert.
Mit: Thomas Behrend, Tobias Beyer, Gina Henkel, Marin MacLennan, Antonina Romanova, Alina Tinnefeld, Andrey Urazov, Janet de Vigne, Ana Yoffe. Eine Kooperation mit der Universität Zürich und dem International Laboratory Ensemble
Premiere am 4. Juni 2022
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.staatstheater-braunschweig.de
Kritikenrundschau
Eine "eigenwillig gebrochene Form" habe, was das Staatstheater Braunschweig hier zur Diskussion stellt, schreibt Martin Jasper in der Braunschweiger Zeitung (8.6.2022). Der Versuch, das "historische Phänomen auf drei Ebenen zu realisieren", sei zwar "nicht unbedint zwingend", suggeriere aber "immerhin historische Entfernung" und mache zugleich "das Polit-Theater jedes einzelnen Betroffenen quasi filmreif". Das sei in seinem "beträchtlichen Kunstwollen" und in der "Monomanie des Autors" zwar "anstrengend", aber dennoch ein "sehenswerter Abend", so der Kritiker.
"Nemesis" ist "ein beklemmendes Lehrstück über die gesellschaftlichen und psychologischen Auswirkungen einer von Propaganda inszenierten und durch Einschüchterung geprägten Realität", formuliert es Christoph Weissermel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (9.6.2022). "In Zeiten russischer Kriegspropaganda, die von 'Entnazifizierung' schwafelt und Oppositionelle mit konstruierten Vorwürfen vor Gericht zerrt, ist es ein Stück von bitterer Aktualität." Zudem finde die Inszenierung für Verzweiflung, Angst und die fürs Überleben notwendige Selbstverleugnung passende Ausdrücke jenseits des Textes.
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