Schatten eines Jungen - In Göttingen bringt Ingo Berk den starken Text des norwegischen Dramatikers Arne Lygre zur deutschen Erstaufführung
Keine Erfüllung. Nirgends
von Michael Laages
Göttingen, 6. April 2018. Türöffner ins hiesige Theater-Repertoire ist für den norwegischen Autor Arne Lygre vielleicht tatsächlich die Inszenierung gewesen, mit der das Berliner Ensemble im vorigen Herbst in die erste Saison unter Oliver Reese startete. Aber auch schon lange vor "Nichts von mir" waren an deutschsprachigen Theatern erste Arbeiten zu sehen gewesen; allerdings ohne nachhaltigen Erfolg – in Karlsruhe, Dresden oder bei Erich Sidler, dem damaligen Berner Schauspielchef und jetzigen Göttinger Intendanten. Ans Deutsche Theater in Göttingen hat Sidler nun auch Lygre mitgebracht. Und "Schatten eines Jungen", der Text von 2006, hat durchaus das Zeug, den mittlerweile 50jährigen Dramatiker aus Bergen endlich durchzusetzen fürs Repertoire.
Teufelskreis beschädigter Leben
Wieder kommt Theater aus Norwegen vornehmlich finster daher – der Junge, dessen beschädigtes Leben im Zentrum steht, war wohl schon im Mutterleib Spielball falscher Emotionen. Unterkühlt blieb die Mutter, die das Kind wohl nie so recht wollte. Übersteigert stülpte sich Mutters Jugendfreundin von der anderen Seite des Fjordes schon früh über das Kind, ganz und gar aber, als die Eltern bei einem Unfall umkommen. Im Alter von 14 Jahren wird Tom also "Annas Kind"; doch diese Wiedergängerin von Mutter John aus Hauptmanns "Ratten" geht weiter – und mutiert von der ewigen Glucke zur ambitionierten Geliebten. Mit dem "Sohn" zeugt sie ein neues Kind, das wiederum der nicht will – "Ausschaben!" fordert er. Sie gebiert jedoch und stürzt sich dann in den Fjord. Wieder wird ein Kind bei der Nachbarin aufwachsen.
Das ist der Teufelskreis, den Lygre ausschreitet – in knappen Szenen, die einer perfiden, ungemein filigran gestrickten Zeit-Dramaturgie unterliegen. Am Beginn von "Schatten eines Jungen" steht Toms 14. Geburtstag – den keiner feiern mag, weil die Eltern gerade gestorben sind. Anna wohnt schon mit im Doppelhaus, das – sagt der Heranwachsende – nie verändert werden darf, weil es ihm gehört. Ingo Berk, Regisseur der deutschen Erstaufführung, nimmt Lygres nun einsetzendes Spiel aus Vor- und Rückblenden sehr ernst: mit projizierten Jahreszahlen auf dem Bühnenbild von Damian Hitz. Der 14. Schicksalsgeburtstag findet 2032 statt; Tom ist also 2018, in unserer Gegenwart, geboren worden – ein Kind unserer Zeit. Bis 2038 (da ist er 20, und das Drama um die Mutter-Geliebte Anna führt in die finale Katastrophe) schreitet die Fabel voran. Parallel führen die Szenen Schritt für Schritt zurück: bis Tom 2019 ein Jahr alt ist; und noch weiter zurück gedacht, rumort er noch im Bauch der von Schmerz genervten Mutter, die nicht richtig lieben kann.
Alle Sehnsucht liegt im All
Dieses Hin und Her auf dem Zeitpfeil fordert sehr viel Präzision in Spiel und Regie; und volle Konzentration vom Publikum. Ingo Berks "Schatten eines Jungen" ist herausforderndes, anstrengendes Theater – gut so. Und Marius Ahrendt, der Göttinger Tom, muss viel bewältigen: vom Kleinkind bis zum Vater wider Willen. Auch die Verletzungen, die ihm die falschen Mütter lebenslang zufügen, müssen durchgängig präsent bleiben – die Figur ist ja nicht nur vaterfixiert, sondern praktisch asozial, hat keine Freunde; und die erste "Liebe" ist die Ersatzmutter. Fataler geht's nicht.
Fluchtmöglichkeiten für Anna sind ihre Reisen, nach Ägypten zum Beispiel, mit der Nachbarin. Für Tom liegt alle Sehnsucht im All. Und weil "Schatten eines Jungen" in der Mitte der 30er Jahre dieses Jahrtausends spielt, kann das falsche, emotionale verkrüppelte Paar auch tatsächlich per Shuttle ins Weltall reisen, um sich den geschundenen blauen Stern aus der Ferne anzuschauen und romantisch im "Weltlicht" zu sitzen. Damian Hitz’ Bühne wirkt wie eine Wohn-Wabe auf Raumschiff Enterprise oder sonstwo in der Raumfahrer-Zukunft; und als alles verloren ist, nimmt Tom den Raumanzug aus dem Schrank, setzt den Helm auf und tappt hinaus aus der Welt, wie sie ist.
Herausfordernde Sprünge durch Raum und Zeit
Ein wirklich starker Text ist das; nicht ganz so radikal-reduziert wie bei Lygres zeitweilig auf deutschen Bühnen sehr modischem Kollegen Jon Fosse, aber auch sehr bewusst einfach im Ton, durchsetzt mit reichlich Wiederholungen in Fragen und Antworten. Hinrich Schmidt-Henkel hat übrigens Fosse wie Lygre übersetzt. Die dramaturgische Herausforderung liegt ganz und gar bei den Sprüngen durch Raum und Zeit; Marius Ahrendt und Andrea Strube in der Rolle des zunehmend in Machtanspruch und Eifersucht versinkenden Mutter-Tiers Anna stehen im Zentrum, Ahrendt immer ein bisschen verwirrt, Strube stets unter Überdruck. Gitte Reppin und Benjamin Kempf zeigen langsam zerrüttende Profile als richtige (und eben tote) Eltern, Angelika Fornell kommt als keinerlei Vergnügen abgeneigte Nachbarin ins Spiel. "Wir zwei" – das sind zum Schluss sie und das neue, schon wieder verlorene Kind. Wirkliche Gemeinschaft gab’s wohl nie und für niemanden in dieser Geschichte, dieser Welt, die Lygre zufolge heute beginnt.
Regisseur Ingo Berk hält das kluge Stück gedanklich in der Schwebe. Mehr "action" wäre mitunter möglich: bei der Reise nach Ägypten, in der Verführung und danach. Aber einen Dramatiker lässt uns Berks Göttinger Team kennenlernen, der in der Tat alle Aufmerksamkeit der Theaterwelt verdient hat. Lauter beschädigte Leben zeigt er. Und Anna, diese Wiedergängerin von Mutter John, kann auch im Weltall keine Erfüllung finden.
Schatten eines Jungen
von Arne Lygre, Deutsch von Hinrich Schmidt-Henkel
Deutschsprachige Erstaufführung
Regie: Ingo Berk, Bühne und Kostüme: Damian Hitz, Musik: Patrik Zeller, Dramaturgie: Sara Örtel.
Mit: Marius Ahrendt, Angelika Fornell, Benjamin Kempf, Gitte Reppin, Andrea Strube.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause
www.dt-goettingen.de
Kritikenrundschau
"Lygre spielt virtuos mit den Zeitebenen der Handlung, was sowohl die Regie als auch den Zuschauer herausfordert", bemerkt Michael Schäfer vom Göttinger Tageblatt (7.4.2018). Das artifiziell Stilisierte bei Lygre übersetze Regisseur Ingo Berk in eine ebenfalls stilisierte, bisweilen sogar ritualisierte Bühnensprache. "Auswege gibt es in diesem Geflecht von Beziehungen nicht, alle sind tragisch ineinander verstrickt." Marius Ahrendt differenzie die unterschiedlichen Altersstufen Toms vom Kleinkind bis zum herangewachsenen jungen Mann mit feinen darstellerischen Mitteln. "Die großartige Andrea Strube (Anna) spricht immer ein klein wenig zu schnell, ein wenig abgehackt, sie verdeutlicht damit perfekt den Zustand des ständigen Getriebenseins."
Auf www.kulturbuero-goettingen.de schreibt Tina Fibiger (online 7.4.2018, 22:18 Uhr): Ingo Berk kämpfe im Bündnis mit "seinem leidenschaftlich engagierten Ensemble" für das, was die Figuren vermissen, "wenn sie sich gegenseitig die Hölle bereiten obwohl sie das oft gar nicht wollen". Berk erzählt das Stück als "schaurige Vision vom Zusammenleben in einer Gesellschaft von Einzelkämpfern". Was seine Inszenierung so "berührend und beklemmend" mache seien die "vielen vertrauten Reaktionsmuster". Die Visionen, die dieser Theaterabend "klarsichtig und einfühlsam" herauf beschwöre, gäben "keinen Anlass zu optimistischen Spekulationen".
Auf NDR Kultur sagte Eva Werler (7.4.2018): Eine "gegenwärtige Szenerie" hätte die "Aktualität" des "hochbrisanten Stoffes" besser transportiert. Aber die Inszenierung sei sehr "eindringlich" und die "herausragenden" Darsteller zeigten dem Zuschauer Toms vollkommene Ausweglosigkeit auf.
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