Sofja - ein schnelles charmantes Biopic von Anne Jelena Schulte uraufgeführt von Antje Thoms im Deutschen Theater Göttingen
1+1 = Revolution
von Cornelia Fiedler
Göttingen, 22. Dezember 2016. Von der "gläsernen Decke", an der sich hochqualifizierte Frauen heute kurz vor der obersten Führungsetage den Schädel blutig stoßen, können Sofja, Anjuta und Julija nur träumen. In ihrer Welt ist die Decke aus Stein, eine Karriere jenseits von Brautkleid und Babybauch nicht vorgesehen und Denken ein überflüssiger Luxus im hübschen Köpfchen. Und doch spuken 1868 unerhörte revolutionäre Hirngespinste durch diese Welt, bis hinein in die tiefste russische Provinz. Wirre Ideen von sogenannter, äh, individueller Freiheit und von der Gleichheit aller Menschen, aller, ja, sogar dieser, naja, dieser weiblichen! Folglich bildet sich die gerade mal 17-jährige Sofja doch tatsächlich ein, studieren zu wollen, nur weil sie von klein auf eine geradezu nerdige mathematische Begabung aufwies. Autorin Anne Jelena Schulte und Regisseurin Antje Thoms finden am Deutschen Theater Göttingen lässige, patinafreie Bilder für die Geschichte der weltweit erste Professorin für Mathematik: Sofja Kowalewskaja.
Die drei jungen Russinnen sind informiert: Im latent liberalen Deutschland, in diesem "Heidelberg" sollen sich angeblich auch Studentinnen einschreiben können. Problem: Frauen dürfen nicht einmal alleine reisen. Also muss ein Mann her, klar. Aber doch nicht etwa durch eine "Lie-bes-hoch-zeit", ein Wort, so bürgerlich, dass Felicitas Mandl als kommunistisch versierte Anjuta es augenrollend in bedeutungslose Silben zerbröseln lässt? "Liebeshochzeit? Was soll das sein? Der erste Spatenstich zur Familiengruft."
Versprengte verschworene Viererbande
Da hilft nur eine sogenannte Konserve, ein Mann mit revolutionärem Background, der bereit ist, eine Scheinehe einzugehen. Dass sich Konserve Vladimir in Sofja verliebt, ist nicht vorgesehen. Konsequent schicken ihn die Ladies nach erfolgreicher Heirat, Emigration und einem langen Marsch durch die Instanzen der Männerdomäne Universität weiter, ans Geologie-Institut nach München. Sofja, lebhaft und leicht abwesend zugleich gespielt von Christina Jung, taucht derweil ganz in die Sphären der Mathematik ein und wird in Heidelberg, später in Göttingen und Berlin als Wunderkind mit Exotinnencharme zum Stadtgespräch. Ihre zurückhaltende Freundin Julija, Dorothée Neff, bleibt bei ihr, schmeißt den Haushalt und arbeitet trotz eigener hochgesteckter Ziele nur als Chemielaborantin. Anjuta zieht weiter nach Frankreich, sie schließt sich 1871 der revolutionären Pariser Commune an. Diese versprengten, verschworenen, präfeministischen Vier, die trotz aller Zwistigkeiten und Rückschläge letztlich fest zusammenhalten, müssen ihrem Umfeld wie durchgeknallte Zeitreisende vorgekommen sein.
Immer wenn die Bande der Jungwissenschaftler*innen weiter vorandrängt, schiebt sie den drehbaren Kubus an, den Bühnenbildner Jeremias Böttcher wie eine fluoreszierende Konstruktionszeichnung aus Kreide in die Mitte der schwarzen Bühnenfläche platziert hat: vorwärts immer, rückwärts nimmer – und irgendwie auch im Kreis. Es sind verschlungene Wege bis zu Sofjas Professur in Schweden. Antje Thoms und ihr Dramaturg Matthias Heid präsentieren die Stationen in schnellen Schlaglichtern mit leichtem Tschechow-Touch und einem klaren Blick für die vielfältigen Abhängigkeiten der Figuren: der Tod des Vaters, die Rückkehr nach Russland, eine Phase wirklicher Liebe zwischen Vladimir und Sofja, Familienleben, finanzieller Abstieg, Sofjas Karriere-Neustart, für den sie alle Weggefährt*innen zurücklässt.
Die Evolution als Hoffnungsspenderin
Was in der Inszenierung fast komplett wegfällt, ist der "Chor der Mathematikerinnen". Schulte hat dessen Texte aus Interviews mit Göttinger Studentinnen kompiliert. Sie lässt sie im Netz nach Infos über die heute fast vergessene russische Mathematikerin stöbern, sarkastisch Statistiken zu den Karrierechancen von Wissenschaftlerinnen in den Raum werfen, herumalbern oder sich Gedanken über den Beitrag der Mathematik zur modernen Kriegsführung machen. Die Streichung dieser Passagen historisiert den Abend unnötig – dennoch bleibt "Sofja“ ein lebendiges, zugängliches Biopic. Immer ist eine große Nähe zu den Figuren, ein Verstehen Wollen spürbar.
Selbst Vladimir, der sich irgendwann in Spekulationsgeschäften mit Immobilien und Öl selbst verliert, darf sich mit einer zarten, leicht delirierenden letzten Vorlesung verabschieden. Einen Krähenflügel in der Hand hält er eine Liebeserklärung an die Evolution – und an die Sehnsucht als deren Triebfeder. Und nein, das ist nicht kitschig, einfach weil Bardo Böhlefeld es so unendlich verzweifelt, so im Wortsinne todtraurig spielt, das sogar dieser Satz sagbar wird: "Aus Reptilien wurden Vögel – alles ist möglich. Alles ist möglich, hört nie auf, daran zu glauben – das ist wissenschaftlich."
Sofja – Revolution of a stare Body
von Anne Jelena Schulte
Uraufführung
Regie: Antje Thoms, Bühne und Kostüme: Jeremias Böttcher, Musik: Andreas Jeßing, Dramaturgie: Matthias Heid.
Mit: Christina Jung, Felicitas Madl, Dorothée Neff, Bardo Böhlefeld, Andreas Jeßing, Lutz Gebhardt.
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, eine Pause
www.dt-goettingen.de
"Ein bewegtes Stück über ein bewegtes Leben", sah Jorid Engler vom Göttinger Tageblatt (24.12.2016). Mal traurig, mal unterhaltsam zeichne es die Biografie von Sofja nach. "Mit Nachdruck, Energie und Lebensfreude verkörpern Jung, Madl, Neff und Böhlefeld die Hauptfiguren."
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Herzlichen Dank an die Beteiligten
Jedenfalls braucht Göttingen sich nicht zu verstecken.
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Lieber M. Bartsch,
vielen Dank für das Kompliment, und/aber so selten sind wir ja dann doch nicht in der sogenannten Provinz. In Göttingen z.B. waren wir ja schon drei mal in dieser Spielzeit.
Herzlich
miwo/Redaktion