Pulp Boulevard

29. Oktober 2023. Zwei bürgerliche Ehepaare treffen zwecks Aussprache über eine Schulhofprügelei der Söhne aufeinander. Bald liegen nicht nur die Nerven blank, sondern auch die Abgründe der Zivilisation offen. Jetzt jagt Jule Kracht Yasmina Rezas böses Stück durch den Tarantino-Schredder.

Von Falk Schreiber

"Der Gott des Gemetzels" von Yasmina Reza am Theater Lüneburg © Andreas Tamme 

29. Oktober 2023. Das Problem mit dem Edelboulevard von Yasmina Reza: Die Stücke sind einfach zu gut. Die Dialoge und die Figurenkonstellationen sind so raffiniert konstruiert, wenn nur die Uraufführung gelungen ist, dann müssen alle Nachinszenierungen bloß aussehen wie diese, schon hat man einen funktionierenden Theaterabend.

Bei "Le Dieu du Carnage" war die Uraufführung 2006 in Zürich von Jürgen Gosch – die war super, also gab es bald landauf, landab Inszenierungen, die sich an dieser orientierten, und alle waren glücklich. Spätestens, nachdem Roman Polanski den Stoff 2011 fürs Kino adaptiert hatte, mit Hollywood-Prominenz zwar, aber wie in der Vorlage als Kammerspiel, hatte tatsächlich jede:r gesehen, was das Stück hergab. Woraufhin es nicht mehr ganz so inflationär auf den Spielplänen stand. 

Wiedergeburt aus dem Geist von Tarantino

Jule Kracht lässt am Theater Lüneburg jetzt die Geschichte, in der sich zwei Paare aus dem gehobenen Bildungsbürgertum lustvoll zerfleischen, grundsätzlich unangetastet, sie erzählt sie jedoch anders: aus dem Geist von Pop und Pulp. Kracht kennt laut eigener Aussage Polanskis Verfilmung, fragt sich aber, wie es ausgesehen hätte, wenn sich Quentin Tarantino der Sache angenommen hätte. Wenn Gewalt und Zivilisationsbruch nicht nur in Gedanken, Bösartigkeiten, Beschimpfungen, später auch in körperlicher Entgrenzung (sprich: eine Figur kotzt ausgiebig) in Erscheinung träten, sondern in konkreteren Handlungen? 

Lustvoll fleddern Kracht und ihre Ausstatterin Nora Lau also das Bildreservoir von Tarantinos Filmen (die selbst große Zitatschätze sind, auch das weiß diese Inszenierung). Véronique (Beate Weidenhammer) trägt den gelben, zwischen Kampf- und Trainingsanzug schillernden Dress von Uma Thurman aus "Kill Bill", Alain (Gregor Müller) zieht sich, noch bevor die eigentliche Handlung einsetzt, eine staubige Line wie John Travolta in "Pulp Fiction", selbst der ausgeprägte Fußfetisch, der in praktisch allen Tarantino-Werken durch die Ästhetik tänzelt, taucht auf, und dass das Katana aus "Kill Bill"hier zunächst als Einrichtungsaccessoire eingeführt wird, lässt einen schon zu Beginn ahnen, dass es irgendwann noch drastischer zum Einsatz kommt. Mit anderen Worten: Es ist ein hübsches Spiel, zu decodieren, welches Ausstattungsdetail hier auf welchen Film verweist, und Max Mahlerts Musik spielt mit, indem sie die ausgesuchten Tarantino-Scores liebevoll dekonstruiert.

Dünner Firnis der Zivilisation

Besonders edel ist der Boulevard nicht mehr, nachdem Kracht ihn durch die Tarantino-Mühle gedreht hat. Dafür ist er ziemlich fies, dreckig und lustig. Auch für das Ensemble: Nachdem das Figurenquartett während der ersten Viertelstunde noch in den Spaßkonventionen steckenbleibt, die Augen rollt und zu zielsicher auf die Gags hinspielt, schaffen es die Schauspieler:innen in der Folge, sich von der Komödie freizuschwimmen. Die emotionalen Tiefschläge sitzen, das Spiel trägt sich von selbst. Und lässt einen fast vergessen, dass dieses Stück bei aller formalen Brillanz ein seltsam gestriges Gesellschaftsbild repräsentiert: Männer und Frauen können einfach nicht miteinander, der Firnis der Zivilisation ist sehr dünn, und im Zweifel sind wir alle Steinzeitmenschen, die mit Keulen aufeinander losgehen. 

Gott des Gemetzels 1 AndreasTamme uThe Fab Four: Gregor Müller, Elisa Reining, Beate Weidenhammer, Jan-Philip Walter Heinzel © Andreas Tamme

Die Inszenierung allerdings löst sich an einer Stelle dann doch von der Vorlage. Und zwar, indem sie eine weitere Figur einführt, Knusperinchen, einen Hamster, der bei Reza nur kurz erwähnt wird – Michel Houillé (Jan-Philip Walter Heinzel) hat das Haustier seiner Tochter auf der Straße ausgesetzt, was ihn von Anfang an unsympathisch macht. In der Darstellung von Corinna Langhammer aber geistert Knusperinchen ums Haus, nagt sich durch die Zwischendecken und wird am Ende reinen Tisch machen.

Vor allem aber wirkt das eklig-abgerissen aussehende Wesen als Katalysator für die Aggressionen zwischen den Figuren. Und verweist damit auf ein weiteres Filmvorbild, jenseits von Tarantino und Polanski: auf "Sitcom" (1998) von François Ozon, in dem eine mutierte Ratte erst die Ordnung einer großbürgerlichen Familie und dann die des Genres Sitcom zernagt. Angesichts der Tatsache, dass das Haupthaus des Theaters ein ehemaliges Kino ist, gebaut in der Nachkriegszeit vom britischen Militär, ist solch ein Durchdringen des Komödienstoffs mit Filmbezügen jedenfalls eine kluge Lösung.

Jubel beim Schlußapplaus

Das Theater Lüneburg steckt in der Krise. Die Tariferhöhungen im öffentlichen Dienst brachten das Dreispartenhaus an den Rand der Insolvenz, zuletzt hatte eine Unternehmensberatung Spartenschließungen empfohlen. Vorerst scheint der Spielbetrieb zwar gerettet, das strukturelle Problem ist aber weiter vorhanden. Angesichts von klugen, mutigen und nicht zuletzt unterhaltsamen Zugriffen wie bei "Der Gott des Gemetzels" allerdings sollte man sich wenigstens um Publikumszuspruch nicht sorgen – beim Schlussapplaus zur Premiere jedenfalls jubelt der ausverkaufte Saal begeistert.

Der Gott des Gemetzels
von Yasmina Reza
Aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel
Regie: Jule Kracht, Ausstattung: Nora Lau, Musik: Max Mahlert
Mit: Beate Weidenhammer, Jan-Philip Walter Heinzel, Elisa Reining, Gregor Müller, Corinna Langhammer
Premiere am 28. Oktober 2023
Dauer: 1 Stunde 55 Minuten, eine Pause

www.theater-lueneburg.de

Kritikenrundschau

Regisseurin Jule Kracht knacke Rezas Kammerspiel "lustvoll auf", lasse es "explodieren" und folge dabei der Dramaturgie von Quentin-Tarantino-Filmen, schreibt Hans-Martin Koch in der Landeszeitung für die Lüneburger Heide ( 30.10.23, €). Deshalb nehme die Regisseurin "zugunsten äußerer Effekte" viel "innere Spannung" aus dem Geschehen: Ein Zugriff, über den sich "herrlich streiten" lasse, findet der Kritiker. "Nicht streiten" lasse sich hingegen über die "vier Darsteller, die jede Menge Körpereinsatz zeigen, sich in ihre Figuren stürzen" und "ihnen Farbe geben".

Kommentar schreiben