Der haarige Affe - Am Hamburger Schauspielhaus koppelt Frank Castorf drei expressionistische Dramen Eugene O'Neills
Rausch bleibt Rausch
Von Falk Schreiber
Hamburg, 17. Februar 2018. Die Industriellentochter Mildred (Lilith Stangenberg) will schauen, "wie die andere Hälfte lebt". Und steigt mit ihrer Tante (Anne Müller) hinab in den Maschinenraum ihres Ozeandampfers, schleicht sich sozialvoyeuristisch erregt durch die Eingeweide des Schiffs und steht plötzlich in einer Szene von Eugene O'Neills zwei Jahre nach "Der haarige Affe" entstandenem Stück "Der große Gott Brown".
"Was ist das hier?", fragt die Tante.
Mildred: "Ich glaube, wir sind in der gottgleichen Phantasie eines expressionistischen deutschen Regisseurs."
"Erwin?"
"Nein, sein Sohn. Frank."
Frank Castorf sieht sich also als legitimen Erben von Erwin Piscator, der Eugene O'Neill einst in Deutschland durchsetzte. Das ist so durchgeknallt over the top wie es wohl theaterhistorisch korrekt ist, mit anderen Worten: Es ist ein ziemlich gelungener Witz, und genau den braucht Castorfs "Der Haarige Affe"-Inszenierung am Hamburger Schauspielhaus, die bis zu diesem Moment noch nicht so recht zu wissen schien, wo sie eigentlich hinmöchte.
Es gibt in Castorf-Inszenierungen stets den Punkt, an dem die Spannung ein wenig durchhängt, im überlangen Spätwerk des Regisseurs meistens nach drei, dreieinhalb Stunden. Diese Arbeit nun beginnt gleich mit einem Durchhänger: Castorf koppelt "Der haarige Affe" (1923) mit dem Künstlerdrama "Der große Gott Brown" und dem metaphysisch aufgeladenen Dschungelabenteuer "Kaiser Jones" (1920), und der Einstieg mit letzterem ist in Hamburg vor allem ödes Rampenspiel im Halbschatten. Jones (Marc Hosemann als ausgepowerter Straßenköter), sein Kompagnon Smitty (Abdoul Kader Traoré mit hintergründiger Verschlagenheit) und Cybel (Kathrin Angerer wie immer) zitieren Max Stirner (Hosemann: "Die hohlste Nuss unterm Philosophenhimmel"), dann dreht sich Aleksandar Denićs naturalistische 1920er-Straßenszenen-Bühne ohne Not einmal im Kreis, und als Traoré irgendwann afrofranzösischen HipHop performt, hat die Inszenierung im Grunde schon verloren als halbdurchdachtes Ideensammelsurium.
Schwitzende Zärtlichkeit
Dann aber wechselt die Handlung zum "Haarigen Affen", und die Regie übergibt an den Livefilm, ein prägendes Element von Castorfs Theatersprache. In Hamburg wird er elegant mit Alfred Santells 1944er-Verfilmung von O'Neills Drama eingeführt, damit ist der Stilwechsel ästhetisch begründet, und die Vorteile der Handkamera können hemmungslos ausgespielt werden: dass man den Figuren im Maschinenraum auf eine Weise nahe kommt, wie es das Theater nicht schaffen würde, ans bebende Gesicht Charlie Hübners als Heizer Yank, an die schwitzende Zärtlichkeit von Josef Ostendorf. Allerdings auch: ins Dekolletee Angerers, an die Pobacken Müllers. Der Abstieg der höheren Töchter in die Tiefen des Proletariats ist per se eine erotisch aufgeladene Szene, indem die Kamera allerdings den Blick vorgibt, zwingt sie dem Publikum eine einseitig objektivierende Perspektive auf die Frauenkörper auf. Bis dahin, dass Stangenberg erst begrapscht, dann mit Kohlen beschmissen wird und schließlich rund eine Viertelstunde nackt die Kessel befeuert. Da rutscht die Inszenierung in eine unangenehme Altmännerhaftigkeit, die nicht besser dadurch wird, dass in der zweiten Hälfte des Abends auch noch ein paar unlustige Scherze über den #MeToo-Komplex gerissen werden.
Aber ein objektivierendes Frauenbild war bei Castorf erwartbar – ebenso wie die Tatsache, dass es sich der Abend insbesondere bei der Musikauswahl allzu leicht macht. Mildred zu "Rich Bitch" von Die Antwoord einzuführen, ist jedenfalls so unoriginell wie Peter Toshs "Legalize it" zu spielen, nachdem sich Yank und Brown in eine Hanfplantage verirrt haben. Andererseits werden jedem abgedroschenen Einfall fünf originelle gegenübergestellt. Als Verbindung zwischen den drei Stücken etwa Arthur Rimbauds "Trunkenes Schiff" zu wählen ist einerseits dramaturgisch klug, andererseits schafft es einen Bezug zur Poètes-maudits-Ästhetik, die Castorf 2015 in Hamburg bereits mit Hans Henny Jahnns Pastor Ephraim Magnus zelebrierte.
Am Abgrund
Und natürlich: die Schauspieler! Wieviel die Rettung dieser zunächst verloren wirkenden Produktion dem Ensemble verdankt, zeigt sich an der Tatsache, dass Kathrin Angerer kurzfristig für die erkrankte Thelma Buabeng einsprang und spielt als ob sie von Anfang an mitgeprobt habe. Dieses Ensemble denkt mit, ist nicht Material, sondern Teil der Inszenierung und prügelt am Ende drei kaum zusammenpassende Stücke zum Triumph. Hübner brüllt: "Hier kommt keiner lebend raus!", das Stück wird zum Gewerkschaftskrimi, zum Mitmachtheater, Hosemann singt "La Paloma". Schön. Abgründig.
Dass sich Castorf dabei mehr oder weniger geschickt um Problemstellungen herumdrückt, ums proletarische Selbstbewusstsein etwa oder um die Möglichkeit respektive Unmöglichkeit klassenübergreifender Solidarität – geschenkt. Je länger der Abend dauert, umso rauschhafter gerät diese hochkreative Selbstverschwendung, und dass im Rausch subversives Potenzial liegt, das darf ruhig auch mal wieder gesagt werden.
Der haarige Affe
von Eugene O'Neill
Regie: Frank Castorf, Bühne: Aleksandar Denic, Kostüme: Adriana Braga Peretzki, Licht: Lothar Baumgarte, Dramaturgie: Patric Seibert, Künstlerische Produktionsleitung: Sebastian Klink, Video und Liveschnitt: Marcel Didolff, Alexander Grasseck, Marek Luckow, Boris Preuschmann, Video-Assistenz: Verena Buttmann, Live-Kamera: Andreas Deinert, Severin Renke, Sounddesign: Dominik Wegmann, Tonangler: Michael Genter, Jochen Laube, Ton: André Bouchekir, Jesper Bryngemark, Roman Schneider.
Mit: Kathrin Angerer (regulär: Thelma Buabeng), Paul Behren, Marc Hosemann, Charly Hübner, Abdoul Kader Traoré, Anne Müller, Josef Ostendorf, Lilith Stangenberg, Michael Weber, Samuel Weiss, Daniel Zillmann.
Dauer: 5 Stunden 15 Minuten, eine Pause
www.schauspielhaus.de
"Lauter Identitätskatastrophen, die die expressiven Figuren bersten und Einsamkeit, Nacktheit, Leere und Wahrheit übrig lassen“, erkannte Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (18.2.2018). Die Castorf-Gäste und die Ensemble-Mitglieder des Hauses fänden großartig ins Glück und in den Exzess des gemeinsamen Spiels.
"Zuweilen wirkt der Abend wie ein ausgedehntes Delirium", so Michael Laages auf Deutschlandfunk Kultur (17.2.2018) über diese "Psycho-Finsternis der Verlorenen". Adriana Braga Peretzki habe ein Pandämonium an Kostümen beigesteuert, die auch jede #metoo-Debatte befeuern könnten. Lilith Stangenberg führe ihn auch provokativ im Spiel, gegen Hübner, dessen Monster-Macho-Marotten das politisch Allerinkorrekteste seien in diesem hysterischen Affentheater. "In einer der stärksten Szene schütten die Heizer-Affen die nackte weiße Frau mit Kohle praktisch zu – Castorfs Bild-Gewalt hat nicht seinesgleichen. Auch wenn Ostendorf und Zillmann zum Soul-Sängerwettstreit anträten, bebe das Haus. "Toll. Wo gibt's sowas sonst außer bei Castorf, bei dem alles möglich ist."
"Ist das 'unbedingt modern' im Sinne Rimbauds, für den 'modern' ja eher ein Synonym für libertinäre Versprechungen und individualistische Befreiungsbestrebungen aus der biederen französischen Mittelklasse bedeutete? Oder ist dieses moralische Versteckspiel in einer gewohnt opulenten Zeichen-Bühne von Aleksandar Denić einfach nur Castorf-Routine mit altbekannten Versatzstücken aus seiner langen Beschäftigung mit dem Outsider-Rebellen Eugene O’Neill und dem Prinzip der gebildeten Assoziation?", fragt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (19.1.2018). Die vielen schönen und anrührenden Szenen, die seltenen intensiven und die 40 Prozent überflüssigen, die diesen Vierteltag im Theater ausmachten, verbände trotz der klassenkämpferischen Grundstimmung vor allem die Wahrung der Distanz. "Aber ist dieses ständige ironische Ausweichen vor Stellungnahmen und das Auflösen von Haltung in stur erregter Ambivalenz wirklich noch mehr als Unterhaltungstheater für Regietheatergeschulte?“ Die Klassenkampf-Romanze losester Zusammenhänge erscheine jedenfalls 'unbedingt modern' vor allem in dem Versuch des Regisseurs, vor dem Hintergrund drohender Gewalt Boheme zu bleiben.
Vor allem der Anfang gerate Castorf reichlich zäh, so Katja Weise vom NDR (18.2.2018). "Vor allem im zweiten Teil wird der Abend dann doch noch zum Fest. Die großartigen Schauspieler treiben ihn voran, fallen immer öfter aus der Rolle – spielen sich frei – inklusive politisch unkorrektem Kommentar auf die aktuelle #metoo-Debatte." Und weiter: "Darauf, Lilith Stangenberg fast eine Viertelstunde lang splitternackt Kohlen schaufeln zu lassen, hätte Castorf allerdings wirklich verzichten sollen. Hier bekommt der Abend einen unguten Beigeschmack."
Udo Badelt scheibt im Berliner Tagesspiegel (online 9:20 Uhr, 20.2.2018): Der neue Castorf-Abend nehme erst mit dem "Haarigen Affen" Fahrt auf. Wichtigstes Element von Aleksandar Denic "hochtürmendem Drehbühnenbild" sei der New Yorker Subway-Eingang. Lilith Stangenberg müsse 15 Minuten lang "splitternackt Kohle schaufeln". Das sei ein "schwieriger Moment. Altherrenfantasie, gemischt mit Selbstironie?" Ob Castorf das "problematische Frauenbild", das ihm vorgeworfen werde, "sprichwörtlich auf die Schippe" nehme? Er lasse Stangenberg aus "Ingrid Steegers Brief zitieren, mit dem sie Dieter Wedel verteidigt", vermutlich, "um Steegers Worte bloßzustellen". In der zweiten Hälfte steigere sich der Abend "ins Glückhafte", auch weil es mehr "direktes Spiel" gebe.
Simone Kaempf schreibt in der taz (21.2.2018): Der Abend beginne mit "Kaiser Jones" einem "überfrachteten Verwirrspiel aus Namen, Handlungsfetzen, widersprüchlichen Bedeutungsebenen". Der drauf folgende "Haarige Affe" trage Castorfs Handschrift wiedererkennbar: "der appellierende Ton, der ins Pathetische führt, die Ultragroßaufnahmen, mit denen der Abend nicht geizt". An "Pathos, Ideen und Text" spare Castorf nicht. Es entspinne sich ein "Sammelsurium gegensätzlicher Themen um den aufbegehrenden Menschen". Doch verbänden sich die Handlungsstränge einfach nicht. Die "sinnsuchende Grundhaltung des Abends" steigere sich zum Ende zwar in "grandiosen Monologen", doch das "rauschhafte Philosophieren" verpuffe zwischen "blinkender Zigarettenreklame und dem Heizerkeller, zwischen Zeitungskiosk und einer Hanfplantage".
Irene Bazinger schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (21.2.2018): "Heitere Trunkenheit" löse Castorfs "entspannt-intensive" Inszenierung beim Publikum aus. O'Neills "komödiantisch zugespitztes Lehrstück" über fehlendes Klassenbewusstsein werde bei Castorf zu einer "wild mäandernden Expedition durch die Manifestationen westlicher Weltherrschaftsanmaßungen". Souverän füge er die "verschiedenen Textteile" mit "schöner dramaturgischer Konsequenz" zu einem "so nonchalanten wie unterhaltsamen Bilderbogen" zusammen, den das elfköpfige, "sich entschlossen überfordernde Ensemble virtuos stemmt". Trotz einiger inhaltlicher Längen werde die Inszenierung von einem "furiosen intellektuellen Elan" und von "unglaublicher Spielfreude" getragen: "theatralisch mitreißend - ein kluger Spaß ebenso wie eine Lektion in Sachen ungemütlich ungebundener politischer Kunst".
Oswald Demattia schreibt im Wiener Standard (20.2.2018): Frank Castorf schaue dem "gesellschaftlichen Verblendungszusammenhang" mal wieder tief in die Augen, aber Antworten auf seine Fragen finde er dort nicht – "weil er sie gar nicht sucht". Vielleicht sei das auch "der tiefere Grund", warum einen das Castorf-Theater, "obwohl es so anstrengend und mitunter auch ziemlich wirr ist", so heiter stimme: "weil es ihm auf die B-Note ankommt und nicht auf die Botschaft". Die "Performance" müsse stimmen, dann stelle sich "jener Sog" ein, der dieses Theater "so einzigartig" mache.
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Made my day. Danke.
In der ersten halben Stunde gibt es ein Wiedersehen mit Marc Hosemann und Kathrin Angerer, die bei dieser Produktion kurzfristig für Thelma Buabeng eingesprungen ist. Die Bühne ist fast so dunkel und die Textfetzen sind fast so kryptisch wie in Albert Serras „Liberté“, das derzeit am Rosa-Luxemburg-Platz im Stammhaus von Hosemann/Angerer/Castorf so sehr polarisiert. Obwohl sich Hosemann und Angerer natürlich nicht auf Sänften dahinschaukeln lassen, sondern im typischen Castorf-Sound brüllen und nölen, bleibt dieser Auftakt, der auf „Kaiser Jones“ basiert, sehr zäh. Die Hänger und Längen gibt es natürlich auch bei Castorfs prägenden Großtaten, Henry Hübchen empfahl in der Doku „Der Partisan“ dann wie beim Fußball einfach dran zu bleiben und darauf zu hoffen, dass wieder ein Tor fällt. Es tut dem Abend aber nicht gut, dass schon der Einstieg statt eines furiosen Monologs wie z.B. von Jürgen Holtz in „Les Misérables“ diesmal so schleppend ist.
Immerhin erreicht „Der haarige Affe“ dank der hervorragenden Spielerinnen und Spieler bis zur Pause doch noch die mittlere Castorf-Betriebstemperatur. Bemerkenswert ist, mit welcher Chuzpe Castorf gleich mehreren aktuellen gesellschaftspolitischen Debatten den Stinkefinger zeigt.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/03/31/der-haarige-castorf-mit-volksbuehnen-stars-im-exil-in-hamburg/
Erstaunlich wie wenig Respekt da vor einem künstlerischen Werk am Schauspielhaus scheinbar vorherrscht. Oder wurde das mit Castorf besprochen, was da rausgeschnitten wird?
Das Gute beim Streaming - wenn's mir zu blöde, zu langweilig wird, ich kann 'vorrücken'oder gar die Chose eigenhändig (sic) beenden.
Eine neue Freiheit für den Zuschauer, die nicht zu unterschätzen ist!
Das Gefesselt-Sein an den Sitzplatz entfällt, bis endlich die erlösende Pause kommt oder das sehnsüchtig erwartete Ende der Vorstellung.
Großes Bedauern bei diesem Stück für die unermüdlichen Schauspieler.
Wie ätzend muss das gewesen sein, da mitzuspielen... so was kann doch einfach keinen Spaß machen.
Interessant wäre es, mal aus Schauspieler Mund zu hören, wie man/frau sich fühlt bei solchen Berserkereien. Aber die machen da meistens dicht. Hauptsache, das Wohlwollen des, dieses Regisseurs bleibt ihnen erhalten. Verständlich. Wobei wir wieder mal bei der (Un-)Freiheit dieses Berufs wären. Aber das ist ein anderes Thema.
'Meine SchauspielerInnen' aus meiner Stadt darf ich bedauern wie's mir passt, ob Ihnen(9) das nun passt oder nicht.
Das Volksbühnenensemble interessiert mich dabei weniger. Allerhöchstens insoweit, dass auch sie mein Mitleid haben ob des "Hysterischen Affentheaters" (Deutschl.Funk), der "40 Prozent überflüssiger Szenen" (Süddeutsche), des "reichlich zähen" (NDR), des"Sammelsuriums gegnsätzlicher Themen" (taz) und last not least der "unangenehmen Altmännerhaftigkeit" (F. Schreiber) bezüglich der 15 minütigen "splitternackten Kohlenschaufelei". Wahrhaftig das "ein unguter Beigeschmack" (NDR).
Aber super, wenn vom 'heiligen' Volksbühnenensemble alles mitgetragen und ertragen wird! Was will dieser Regisseur mehr...?!
Ich bin kein Freund der Kürzungen und frage mich, warum man sich die Mühe gemacht hat. Castorf im griffigen 2-Stunden-Format "für die Hosentasche"? Vielleicht gut gemeint, aber ich bevorzuge die volle Länge.
(Anm. Redaktion: Eine User-Schelte ist aus diesem Kommentar entfernt worden. Mit freundlichen Grüßen, Christian Rakow / Redaktion)