Auszeit vom Ökozid

21. Januar 2023. Wie wäre es, wenn die Totengräber unseres Planeten, also wir Menschen, für eine gewisse Zeit mit einem Gas in einen langen Winterschlaf versetzt würden? Damit das Ökosystem sich erholen kann? Philipp Stölzl inszeniert Finegan Kruckemeyers radikales Gedankenspiel zur Klimakrise.

Von Andreas Schnell

Die Öko-Parabel "Der lange Schlaf" von Finegan Kruckemeyer in Hamburg © Knut Koops

21. Januar 2023. Wir schreiben das Jahr 2030. Es sieht eher schlecht aus. Während die Menschheit sich unverdrossen selbst optimiert, fallen Felder brach, Bäume und Meere sterben. Sogar die Hunde sind enttäuscht von uns, die wir diesen Planeten eher sicher als langsam zugrunde richten. Die Politik spielt mit der Idee, ferne Planeten urbar zu machen. Doch dann kommt eine junge Referentin auf eine bessere Idee: Warum nicht der Natur eine Auszeit gönnen?

Ökologischer Winterschlaf

Besichtigen ließen sich die Effekte einer solchen Zwangspause der Wertschöpfung ja tatsächlich im großen Lockdown vor nun bald drei Jahren: Sogar aus dem Weltall war zu sehen, wie sich der Smog über Peking verzog – und in Venedigs Kanälen war das Wasser bald so klar, dass man die Fische darin sehen konnte. Der australische Autor Finegan Kruckemeyer spinnt den Gedanken in seinem Stück "Der lange Schlaf" (im Original "Hibernation", uraufgeführt im August 2021 in Adelaide) aus. Die ganze Menschheit soll mit einem Gas in den Winterschlaf versetzt werden.

Sehnsucht nach dem Blockbuster

Philipp Stölzl hat Kruckemeyers Stück nun am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg in deutschsprachiger Erstaufführung auf die Bühne gebracht. Der Regisseur hat in der Vergangenheit vor allem in der Oper und nicht zuletzt mit Filmen wie "Der Medicus", "Winnetou", "Ich war noch niemals in New York" oder zuletzt "Die Schachnovelle" reüssiert. Und seine erste Arbeit am Schauspielhaus wirkt dann auch wie der Versuch, einen Blockbuster auf die Bühne zu bringen. Kostüme, Ausstattung und Spiel sind einem geradezu filmischem Realismus verpflichtet.

Es lässt sich ganz gut an: Lina Beckmann erzählt uns in poetischen Bildern von der Welt, in der wir leben – zumindest bald. Und macht durchaus Hoffnung – zumindest auf einen interessanten Theaterabend.

DerlangeSchlaf17 1000 KnutKoopsAnsichten einer untergehenden Welt: Das Ensemble spielt im Bühnenbild von Philipp Stölzl und Franziska Harm © Knut Koops

Dann heißt es allerdings Vorhang auf für theatrale Biederkeit: In offenen Würfeln, die munter über die Bühne geschoben werden, wird die Geschichte erzählt. Ein generisches Büro und ein Café von der Stange in Adelaide, ein Kinderzimmer in der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe, ein Fernsehstudio in Los Angeles, das Innere eines Flugzeugs, eine Küche in Bogota und – ein geradezu peinliches Klischee – ein Steg mit Kanu und Bambusbank in Lagos, Nigeria. Zwischen diesen Orten wechselt die Erzählung hin und her, zeigt uns die Folgen des Klimawandels und die Menschen, die mit der politischen Vorgabe des ökologischen Winterschlafs zurechtzukommen haben. Während über einen Bildschirm zwischen Zeit- und und Ortsangaben sämtliche Umweltsünden und ihre Folgen (vom Ahrtal bis zur Zerstörung einst blühender Landschaften) ziehen.

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Aber da geht noch mehr: Zum Personal gehören ein schwules Pärchen, eine ehrgeizige junge Frau, die sich gegen die alten weißen Männer durchsetzen muss, ein kleines Mädchen, eine kranke alte Dame, ein zynischer Politiker – dargestellt von einem reichlich diversen Cast, der allerdings gegen die Langeweile des Regiekonzepts kaum anspielen kann. Die Figuren bleiben Klischee, wie die Räume, in denen sie agieren. Die äußere Bewegung der Kuben findet keine Entsprechung im Innenleben des Personals. Der Realismus verfällt zur Schablone, kein Raum für so etwas wie Entwicklung.

Lediglich Beckmann und Mehmet Ateşçi haben in einer langen Szene Gelegenheit, die Charaktere Maggie und Pete auszuspielen, die als einzige gegen das Gas immun sind. Nach Monaten begegnen sie sich in der schlafenden Welt, umkreisen sich vorsichtig, bevor sie übereinander herfallen – einsame Seelen mit tiefen Abgründen. Pete hat die Zeit genutzt, um Waffendepots zu plündern, Maggie sammelt eher Kronleuchter, 600-Dollar-Weine – und Benzinkanister, mit denen sie unfreiwillig einen ganzen Wohnblock in Brand setzt. Hier scheint auf, was Kruckemeyer wohl eigentlich vor allem umtreibt: Der Mensch an und für sich muss sich ändern, wenn sich etwas ändern soll.

Der Rest bleibt Holzschnitt. Die Dringlichkeit des Anliegens, die sich gar in Anzeigen einschlägiger Kollektive wie "Letzte Generation", "Extinction Rebellion" und "Ende Gelände" im Programmheft ausdrückt (wenn's nicht der beste Witz des Abends ist), verpufft im Bemühen, auf der Bühne großes Kino mit Gehalt zu zaubern.

Der lange Schlaf
von Finegan Kruckemeyer
Deutsch: Thomas Kruckemeyer
Deutschsprachige Erstaufführung
Regie: Philipp Stölzl, Dramaturgie: Ralf Fiedler, Christian Tschirner, Bühne: Philipp Stölzl, Franziska Harm, Kostüme: Kathi Maurer, Musik: Tristan Breitenbach, Licht: Annette ter Meulen, 3D-Visualisierung: Melwin Noe.
Mit: Lina Beckmann, Sandra Gerling, Abak Safaei-Rad, Paulina Alpen, Josef Ostendorf, Mehmet Ateşçi, Samuel Weiss, Daniel Hoevels, Matti Krause, Benito Bause, Alisha Balde / Aliya Funda Gökce.
Premiere am 20. Januar 2023
Dauer: 2 Stunden 40 Minuten, eine Pause

www.schauspielhaus.de

 

Kritikenrundschau

Für den NDR (21.1.2023) berichtet Katja Weise: "Philipp Stölzl bekommt diesen märchenhaften, episodischen und dabei so düsteren Dreiakter insgesamt gut in den Griff. Er inszeniert fast filmisch, mit einem starken Soundtrack: Tristan Breitenbach am Klavier und das Streichquartett sind klasse. Auch das divers besetzte Ensemble spielt stark. Wohltuend, dass der Regisseur es auch die komischen Momente auskosten lässt, denn eigentlich gibt es nichts zu lachen: 'Es ist an der Zeit, dass wir uns in Nichts entwickeln."

"Recht hinkonstruiert" vom Autor sei die Begegnung der Figuren Maggie und Pete, findet Katrin Ullmann in der taz (23.1.2023), allerdings: Lina Beckmann und Mehmet Ateşçi machten aus ihr "eine großartige, zärtliche, anrührende, wilde und fremdelnde Kennenlernszene zwischen Rotwein und Rucksack (...)". Trotz einer schablonenhaften Setzung sei der Abend – streckenweise – sehenswert, meint die Kritikerin. "Schlaglichtartig und erzählerisch zugleich skizziert er Einblicke in verschiedene Leben, mit einem Ensemble, das alles leistet, um zumindest ein paar Figuren-Untiefen auszuloten". Aber: "(...) je länger der Abend andauert, desto mehr will er erklären, will nicht nur erzählen, sondern auch schockieren", schreibt Ullmann. "Sodass man sich bald fragt, ob man mit groben Klischees, großartigen Schauspieler:innen, der stimmungsvollen Live-Musik (Tristan Breitenbach) eines Streichquintetts und hochästhetischen Fotografien von Umweltkatastrophen wirklich vom Weltuntergang erzählen kann", resümiert die Kritikerin.

Von Ferne erinnere die Dystopie, die schon 2021 Uraufführung im australischen Adelaide feierte, an José Saramagos "Die Stadt der Blinden", schreibt Maike Schiller im Hamburger Abendblatt (23.1.2023). Nur sei sie in dieser Inszenierung viel weniger brutal, viel weniger roh oder schonungslos. "Auch ist sie, wenn man sich an die existenzielle Entschlossenheit von Kay Voges' Saramago-Inszenierung am Schauspielhaus erinnert, mit viel weniger theatralem Formwillen auf die Bühne übersetzt." Im Grunde erzählten Kruckemeyer und Stölzl, ergänzt um den Soundtrack eines Live-Orchesters am Bühnenrand, eine Art Märchen, eine gegenwärtige " Dornröschen" -Variante, resümiert die Kritikerin. Das Ensemble sei dabei "ein echter Genuss, Matti Krause und Daniel Hoevels gleich in diversen Rollen, Josef Ostendorf als bärbeißige Seniorenheimbewohnerin".

"Der lange Schlaf sei "ein originelles Gedankenexperiment darüber, wie die Umweltzerstörung gestoppt werden könnte", so Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (26.1.2023). In seiner bemühten dramaturgischen Heterogenität sei es zwar kein gutes Stück, und auch die bieder erzählende, zunehmend leerlaufende Inszenierung sei künstlerisch eher mau. "Aber in der Summe ist die Aufführung ein toller Coup: thematisch aktuell und aufrüttelnd, glänzend gespielt und ein kollektiv herausfordernder Denkanstoß"

Kommentare  
Der lange Schlaf, Hamburg: Kein Netflix-Sog
Die Figuren wirken zu sehr wie Thesenträger. Philipp Stölzls Stärke, mit einem großen Ensemble sehr lebendige Tableaus zu schaffen, kommt hier zu wenig zur Geltung. Zu hölzern sind die Dialogszenen in Bogotá, Duschanbe, Lagos oder Los Angeles, zwischen denen die Handlung hin und her springt. Ein erzählerischer Netflix-Sog, wie er Stölzl in seiner zum Theatertreffen eingeladenen Münchner Inszenierung „Das Vermächtnis“ gelang, stellt sich diesmal nicht ein.

Richtig auf Betriebstemperatur kommt der Abend nur in der längeren Szene nach der Pause: bei zwei Menschen wirkte das von den Regierungen versprühte Schlafmittel wegen ihrer Lungen-Vorerkrankungen nicht. Maggie (Lina Beckmann) trifft auf Pete (Mehmet Ateşçi), sie stalkt ihn, da sie es für Vorsehung hält, dass die beiden als einzige Menschen wach blieben, zeigt ihm stolz ihr Raubgut aus den Villen der Schläfer und drängt ihn, seine Familie zu verlassen. Das tolle Schauspiel-Duo Ateşçi/Beckmann spielt die ganze Tragikomik ihrer Figuren aus, bevor der Abend wieder in Thesentheater zurückdämmert.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/02/05/der-lange-schlaf-schauspielhaus-hamburg-theater-kritik/
Der lange Schlaf, Hamburg: Programmheft
„Der lange Schlaf“ von Finegan Kruckemeyer in der Regie von Philipp Stölzl befasst sich mit der Idee, die Klimakatastrophe durch regelmäßige Hibernation in den Griff zu bekommen. Doch die Tragweite dieses dystopischen Theaterstückes lässt sich nur erschließen, wenn man das Programmheft (Ralf Fiedler, Christian Tschirner) zu dieser Inszenierung gelesen hat. Das Programmheft ist der Schlüssel zur dystopischen Apokalypse, die der Menschheit droht, wenn nicht schleunigst die Ernsthaftigkeit der Situation erfasst wird, bevor der „Point of No Return“ erreicht wird. Im Vergleich zum Programmheft bleibt die Inszenierung weitgehend harmlos. Faszinierend fand ich die Szene zwischen Maggie (Lina Beckmann) und Pete (Mehmet Atesci) auf großer, leerer Bühne, fast ausschließlich getragen von Gestik, Mimik und Körperlichkeit. Diese Szene war Theater mit allen seinen Stärken und bedurfte nichts, außer grandioser Schauspieler*in. Den Tableaus in den sechs Quadern merkte man die cineastische Kompetenz Stölzls an, was aber einer theatralen Wirkung nicht dienlich war. Stölzls „langer Schlaf“ blieb für mich eine weichgespülte, märchenhafte, dystopische Inszenierung, die unsere Situation der Klimakrise, gesellschaftsfähig macht. Klimakrise als kulturelles Ereignis mit ästhetischen Mitteln verdaubar gemacht, um Publikum nicht zu verschrecken. Schön, dass wir mal wieder über die Probleme der Zeit nachgedacht haben und abschließend wieder mit unseren SUVs heimgekehrt sind. Da fahre ich insgesamt 300 km aus der sogenannten Provinz, um mir ein aktuelles Theaterstück anzuschauen, nur weil ich nicht die Möglichkeit habe, so etwas digital zu nutzen, mit deutlich geringerem Einsatz von Umweltressourcen. Da fand ich „Stadt der Blinden“ ehrlicher und auch schockierender. Die „ästhetischen Bilder“ der Umweltzerstörung, die auf der Leinwand projiziert wurden, empfand ich als Sarkasmus gegenüber der bereits zerstörten Natur. „Der Kirschgarten“ am DT in Hamburg auch mit seinen lieblichen Naturbildern weichgespült, für das zahlende Bildungsbürgertum und zum ästhetischen Erlebnis stilisiert. Was geschieht hier am DT in Hamburg? Kämpft man um Zuschauerzahlen oder muss man sich politisch liberalisieren, um in der kulturpolitischen Szene Hamburgs Bestand zu haben? Das Programmheft hat mir den Abend gerettet, dort habe ich mehr Anregungen zum Klimawandel erhalten als in den 160 Minuten Theaterabend. Merci & Chapeau an die Dramaturgie.
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