Häuptling Abendwind oder Das gräuliche Festmahl - Christoph Marthaler richtet Johann Nepomuk Nestroys Posse am Deutschen Schauspielhaus Hamburg an
Marthalergrütze für Selbstverzehrer
von Falk Schreiber
Hamburg, 16. Februar 2019. Christoph Marthaler gilt als Spezialist für stillen, hintergründigen Humor. Nun ja. In seiner Hamburger Inszenierung von Johann Nepomuk Nestroys Posse "Häuptling Abendwind" jedenfalls werden zunächst fröhlich Überbiss-Scherze gerissen, bis dann als Höhepunkt des Abends ein Menü folgt. Es gibt unter anderem: "Gauländer Pilzragout auf einem Schaum von tausendjährigem Vogelschiss." "Söderhoden auf Eichelkäse gratiniert." "Gepökelte Bandscheibe vom Weidel-Rind." Wohl bekomm's.
Spielen kann man das im Grunde nicht mehr
"Häuptling Abendwind oder Das gräuliche Festmahl" ist, um ehrlich zu sein, kein Stück, sondern ein Witz: Zwei Südseehäuptlinge treffen sich zum kannibalischen Beisammensein, und weil gerade kein Todgeweihter im Kerker sitzt, wird eben ein zufällig anwesender Fremder verspeist. In den sich leider kurz zuvor Atala (Sasha Rau), die Tochter von Häuptling Abendwind (Josef Ostendorf), verliebt hat. Und der sich später als der verlorengegangene Sohn Arthur von Häuptling Bieberhahn (Samuel Weiss) entpuppt. Gut, dass man es hier mit einer Komödie zu tun hat, die grundsätzlich gut ausgehen muss, und sei die Wendung zum Happy End auch noch so abstrus.
Die 1862 uraufgeführte Burleske ist zwar durchsetzt von beißender Kritik an Nationalismus, Kolonialismus und Rassismus, gleichwohl geht Nestroy (für die damalige Zeit nicht überraschend) in seiner Darstellung der Südseegesellschaft von einem ungebrochen eurozentrischen Weltbild aus. Spielen kann man so etwas heute im Grunde nicht mehr. Marthaler löst dieses Problem recht elegant, indem er Abendwind und Bieberhahn als Vertreter der Zivilisation inszeniert, während die Europäer (Ueli Jäggi als Arthur, Marc Bodnar als Abendwinds Koch Ho-Gu) näher am Wilden, Ungezähmten gebaut scheinen. Zudem hat Duri Bischoff einen klassisch-europäischen Salon in den Malersaal des Deutschen Schauspielhauses gebaut, mit Marmorboden, beleuchteter Vitrine und Samtvorhängen: Bei den Hottentotten (Verzeihung!) sind wir hier schonmal nicht. Aber was in der Vitrine ausgestellt ist, sind keine Perücken, das sind Skalps. Und als sich die Vorhänge einmal kurz heben, sieht man, dass direkt hinter dem sauberen Klassizismus das Schlachthaus wartet.
Wetternde Wutbürger
Außerdem haben die beiden Häuptlinge sich auch die unangenehmsten Eigenarten der westlichen Zivilisation angewöhnt: Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit. "Fremde Schiffe, auf denen ferne Völker daherschwimmen" bedrohen Bieberhahns Reich, und Weiss spricht diese Klage mit der bebenden Stimme des handelsüblichen europäischen Rechtspolitikers, bieder, selbstmitleidig und brutal. Das ist hübsch. Aber es ist kein echtes politisches Statement, es ist nur die Umkehrung von zwei rassistisch konnotierten Rollen.
Ansonsten rettet sich "Häuptling Abendwind" in das, was bei Marthaler immer geht: in Kabinettstückchen. Die getragen werden von den Schauspielern, von Clemens Sienknecht als Abendwinds Unterhaltungschef Hubert Casio, dessen Fiesheit nur noch getoppt wird von seiner Ekligkeit. Casio nämlich ist erstens "Selbstverzehrer", was Gelegenheit für ein paar wirklich unappetitliche Szenen gibt, und zweitens geschlagen mit der Inselbegabung, zwanghaft unzusammenhängende Medienberichte zu referieren. Was zur Folge hat, dass Sienknecht erst eine Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes zum Einsatz von Robotern in mittelständischen Unternehmen runterrattert, dann den Polizeibericht aus Sigmaringen und dann einen Leserbrief, in dem ein Wutbürger gegen "Frühsexualisierung" und "Gender Mainstreaming" wettert. Josef Ostendorf in der Titelrolle derweil ist immer angewiderter von diesem Nicht-Stück, so dass er bei fortschreitender Handlung den Text immer lustloser beiseite spricht. Und, ja, es ist eine Lust, einem Schauspieler wie Ostendorf beim lustlosen Nuscheln zuzuschauen. Bringt einen nur auch nicht weiter.
Unbeholfene Derbheit
Wer das Ganze zusammenhält, ist Josefine Israel, als "Mikrophonistin" eine Art Zermoniemeisterin des Nichts. Die sich als bebrillte und spitzmündige Intellektuellenkarikatur immer dann ein Rednerpult an die Rampe stellt, wenn die Inszenierung sich endgültig festgefahren zu haben scheint. Dann erklärt sie das eben Gesehene mit Sätzen aus dem theaterwissenschaftlichen Proseminar. "Hier zeigt die Inszenierung einen virtuosen Kunstgriff", doziert sie also. "Den Vorspuleffekt!" Oder: "Was haben wir gerade gesehen? Die Inszenierungstechnik der parallel geführten Spaltung." Und tatsächlich funktioniert das – die knapp zweieinhalb formlosen Stunden jedenfalls werden durch Israels Erklärungen halbwegs zusammengehalten.
Aber um welchen Preis? Um den, dass Marthaler hier einerseits auf eher unbeholfene Derbheit setzt, andererseits darauf, ernsthaftes Sprechen über Theater konsequent lächerlich zu machen. "Häuptling Abendwind" mag in Teilen virtuos sein, in Teilen nicht unsympathisch holpern, intellektuell aber ist der Abend ein Offenbarungseid.
Häuptling Abendwind
von Johann Nepomuk Nestroy
Regie: Christoph Marthaler, Bühne: Duri Bischoff, Kostüme: Sara Kittelmann, Licht: Björn Salzer, Musik: Bendix Dethleffsen, Clemens Sienknecht, Ton: Finn Corvin Gallowsky, Katja Haase, Dramaturgie: Malte Ubenauf.
Mit: Marc Bodnar, Bendix Dethleffsen, Josefine Israel, Ueli Jäggi, Josef Ostendorf, Sasha Rau, Clemens Sienknecht, Samuel Weiss.
Premiere am 15. Februar 2019
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, keine Pause
www.schauspielhaus.de
Kritikenrundschau
"Schon der Bühnenraum wirkt leicht aus der Zeit gefallen", berichtet Katja Weise im NDR (16.2.2019, 7:18 Uhr). Marthaler koste Nestroys "scharfe Kritik am Nationalismus, seinen Auswüchsen und der europäischen Selbstherrlichkeit" süffisant aus, doch da der Regisseur so oft auf Langsamkeit setze, komme die Posse nicht so recht in Fahrt. Fazit: "Kein großer Abend also, aber die beiden Häuptlinge Joseph Ostendorf und Samuel Weiss sind ziemlich toll."
Stefan Grund hat für die Welt (18.2.2019, 6:17 Uhr) einem "wahnwitzigen Festmahl" beigewohnt. In der Metapher des Stückes bleibend notiert Grund, Christoph Marthaler serviere die "Faschingsburleske" in Hamburg als "politisch aktualisierte, irrwitzig erweiterte, artistisch-avantgardistische Trashoperette", deren Darsteller mit Haut und Haaren dem Wahnwitz verfallen seien – und der Grund wünscht, sie möge doch bald "in den großen Schauspielhaus-Saal" wechseln.
Till Briegleb schreibt in der Süddeutschen Zeitung (19.2.2019): Während in deutschen Theatern eine "langsam hysterisch werdende Angst" umgehe, dass Darstellung diskriminierend sein könnte, wenn sie sich "irgendwelcher 'fremder' kultureller Symbole" bediene, leiste Marthaler "kannibalistischen Widerstand". Indem er seinem Stück die "bekanntesten Kinderbuchklischees menschlicher Rollenspiele" einverleibe, spotte er über den "rassistischen Stumpfsinn kolonialer Gewaltikonografie" ebenso wie über die "Scheuklappensicht der Political Correctness". Marthalers "Sticheleien" gegen "politische Eitelkeit und moralisch Humorlose" seien "sehr komisch und entkrampfend".
Bernd Noack schreibt in der Neuen Zürcher Zeitung (online 18.2.2019, 17:06 Uhr): Nestroys Witz sei "global", auch Marthaler könne ihn "nicht kleinkriegen". "Grenz- und mentalitätsüberschreitender Humor" sei das, wenn "die Menschenfresser ein Fass aufmachen" und den "Tisch mit abgeschmeckten Bonmots über den Zivilisationsirrsinn üppig und kalauernd decken". So banal wie 'bummelwitzig' sei das Ganze, "so gescheit wie abgrundtief blöd, so würzig und dann auch wieder streckenweise fad", dass Marthaler "nur noch" ein "paar musikalische und szenisch verschmitzte Kapriolen" hinzufügen müsse. Aus diesem Nestroy werde "ein schöner Jux ohne lästigen Gedankentiefgang".
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intellektuell ein Offenbarungseid? Im Duden steht: Eid, mit dem ein Schuldner [auf Verlangen des Gläubigers] erklärt, seine Vermögensverhältnisse wahrheitsgemäß dargelegt zu haben und nicht in der Lage zu sein, seiner Zahlungspflicht nachzukommen. Der Regisseur als Schuldner und die Zuschauer/der Kritiker als Gläubiger?
Kein guter Vergleich. Mir wird nicht klar, worin das intellektuelle Versagen des Abends besteht.
Schöne Grüße: Petra Tau
(Werte/r KH, der Ausdruck folgt bei Falk Schreiber ja aus einer längeren Argumentation, eben als Zuspitzung. Diese Einbettung macht's aus, denn sie schafft die Verständnisgrundlage. Mit besten Grüßen, Christian Rakow / Redaktion)