The Mushroom Queen - Schauspielhaus Hamburg
Wesen aus der Unterwelt
26. Februar 2023. Eine Ehefrau will einfach nur weg, und wechselt ihren Platz mit einem Pilz (sic!). Aus der Kurzgeschichte "The Mushroom Queen" von Liz Ziemska entwickelt Marie Schleef in Hamburg eine surreale Liebesgeschichte und ein fantastisch-sinnliches Spiel mit Heteronormativen und Beziehungsmustern.
Von Stefan Forth
26. Februar 2023. Am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg scheinen sie so langsam wirklich die Nase voll zu haben von der Spezies Mensch und deren egozentrischer Weltsicht. Auf der Bühne des Malersaals lässt Regisseurin Marie Schleef jetzt stattdessen Pilzkulturen wuchern. Ihre Inszenierung "The Mushroom Queen" nach einer gleichnamigen Kurzgeschichte der US-amerikanischen Autorin Liz Ziemska feiert den Einbruch des Fantastischen in das langweilige Leben eines fürchterlich durchschnittlichen Mittelklassepaars.
An der Oberfläche ist fast alles da, was dem materiellen Glücksklischee des Globalen Nordens entspricht: ein Haus mit gepflegtem Garten, zwei Hunde und eine einvernehmliche heterosexuelle Beziehung, die den Normen des gesellschaftlichen Mainstreams entspricht. Mit dieser geballten Eintönigkeit halten sich konsequenterweise weder Erzählung noch Theaterfassung lange auf.
Kaum ist klar, dass sich die namenlose Frau woandershin sehnt, taucht auch schon im nächtlichen Mondlicht eine Doppelgängerin auf. Es handelt sich um die Mushroom Queen, die zum ersten Mal in ihrer Pilzexistenz menschliche Gestalt angenommen hat. Sie nimmt den Platz der Frau ein, die im Gegenzug allerdings konsequenterweise unter die feuchte Erde verbannt wird. So schnell kann ein Mensch also zum Pilzgeflecht werden.
In friedlicher Koexistenz
Noch erstaunlicher ist allerdings, dass sich der Mann an der dann doch nicht völlig spurlosen Verwandlung seiner Partnerin nicht weiter stört: Als Mushroom Queen im Frauenkörper verteilt Schauspielerin Ute Hannig mit weit aufgerissenen Augen wüst leckend Schleimspuren an Scheiben und Wänden, saugt, würgt, rülpst und lässt auch sonst alle möglichen Laute aus der Tiefe ihrer Kehle aufsteigen. Nur mit dem Sprechen hat sie’s als Pilzgeschöpf in Menschengestalt nicht so wirklich. "Viel einfacher zu nicken und zu lächeln; der Mann sorgt sowieso für die ganze Unterhaltung", steht dazu als Erzählkommentar in den projizierten Übertiteln.
Zu hören ist allerdings auch von den unterstellten männlichen Monologen so gut wie nichts. Geredet wird an diesem Abend insgesamt kaum. Auf der Texttafel oberhalb der Bühne laufen wesentliche Passagen der Kurzgeschichte in der leichtfüßig lakonischen Übersetzung von Helene Zuber halbwegs chronologisch mit - und ordnen mit feiner Ironie das ein, was sich darunter abspielt.
Bewegungen und Grimassen
Etwa wie die beiden Hunde des Hauses mit der Verwandlung ihres Frauchens umgehen. Der kleine braune ist ein Schlauberger. Ihn verkörpert die famose Bewegungs- und Grimassenkünstlerin Sachiko Hara in einem Ganzkörperfellanzug mit spitzen Öhrchen und flauschigem Baumelpenis aus der plüschigen Schneiderei von Kostümbildnerin Ji Hyung Nam. Lustig zu sehen, wie dieser Hundekerl immer wieder versucht, seinen großen weißen Artgenossen dazu zu bringen, seiner Nase zu trauen und nicht auf die oberflächliche Täuschungsshow der Mushroom Queen hereinzufallen. Dabei entstehen tolle Slapstickszenen in Slow Motion, denn der Pilz im Haus lähmt nach und nach alle Aktivität.
Zu retten ist der weiße Hund des wunderbar treudoofen Maximilian Scheidt allerdings sowieso nicht. Genau wie sein Herrchen ist er damit zufrieden, wenn ihn jemand ein bisschen krault und ihm seine Aufmerksamkeit schenkt. Der einigermaßen phlegmatische Mann des Markus John bekommt als Bonus auch noch eine Portion an frühmorgendlichem Sex dazu, an den in zurückliegenden Zeiten mit seiner Frau im Original nicht zu denken war. Und so gehen die beiden leicht zu befriedigenden Genossen der Mushroom Queen auf den Schleim.
So witzig es ist, wie die Inszenierung Klischeevorstellungen vom vermeintlichen Lebensglück vor- und ad absurdum führt, so albtraumhaft surreal entwickelt sich dieser Abend doch stellenweise auch. Die Videoanimationen von Seongji Jang auf einer riesigen Leinwand links erinnern mal an expressionistische Stummfilme à la Nosferatu, mal leuchten schrill stilisierte menschliche Augen Richtung Publikum, neon-bunt, wie von einer Wärmebildkamera unter der Erde eingefangen. Das große runde weiße Bett davor verwandelt sich im Laufe des Abends in ein bedrohliches Beet aus Pilzfruchtkörpern, unter deren Köpfen tierische und menschliche Überreste wie ein Fuß mit halbem Unterschenkel lauern.
Liebesgeschichte mit vielen Wirklichkeiten
Die Bühne von Lina Oanh Nguyen lässt aus scheinbar Alltäglichem Schauermomente wachsen. Die Schiebetüren zum Garten sind grünlich-gelb getönt. Wenn dahinter Gestalten im Bühnennebel gegen die transparenten Scheiben hauchen, hat das schon einen gewissen Gruselfaktor - wenn auch einen augenzwinkernden. Im Garten: ein sauber pyramidenförmig zugeschnittener Busch und eine (Leucht-)Kugel, die sich das Inszenierungsteam aus der barocken Parkarchitektur des französischen Kunstfilmdramas "Letztes Jahr in Marienbad" ausgeliehen hat, auf das auch der Text anspielt - ein Mann und eine Frau in einem traumartigen Spiel mit Wirklichkeitsebenen. Noch so eine geheimnisvolle Liebesgeschichte, die möglicherweise mit der Realität nicht viel zu tun hat. Oder wie die Mushroom Queen feststellen muss: "Im Übrigen schmeckt Liebe so viel besser auf Buchseiten."
Was wie ein kalenderspruchartiger Allgemeinplatz klingen mag, entfaltet in der Gesamtkomposition der Inszenierung doch seine augenzwinkernde Wirkung. Dazu trägt auch der Soundteppich des Duos Nguyen + Transitory bei, mit dem Regisseurin Marie Schleef auch bei dieser Inszenierung wieder zusammengearbeitet hat. Da tropft es längere Zeit psychedelisch im modularen Synthie-Ton aus dem Hintergrund, dann wieder werden Schlürf- oder Essgeräusche von der Bühne verstärkt, und nur selten wird das wiederholte Wabern auch mal eine Spur zu aufdringlich.
Fantastischer Abend
Erst vor wenigen Monaten hat die britische Regisseurin Katie Mitchell am Deutschen Schauspielhaus mit einer neuen Perspektive auf Čechovs "Kirschgarten" die manchmal absurde Eitelkeit menschlichen Geredes vorgeführt. Nur wenig später kommt Marie Schleef jetzt mit einem neuen Stoff in Hamburg zu ähnlichen Befunden. Und auch ihr Theater findet zu seiner ganz eigenen Stimme. Ein fantastischer Abend, eine irre Geschichte, ein sinnlicher Angriff auf unsere alltägliche Oberfläche!
The Mushroom Queen
von Liz Ziemska, Deutsch von Helene Zuber, in einer Fassung von Marie Schlief und Finnja Denkewitz Regie: Marie Schleef, Bühne: Lina Oanh Nguyen, Kostüme: Ji Hyung Nam, Video und Animation: Seongji Jang, Sounddesign: Nguyen + Transitory, Dramaturgie: Finnja Denkewitz:
Mit: Ute Hannig, Sachiko Hara, Markus John, Maximilian Scheidt.
Premiere am 25. Februar 2023
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.schauspielhaus.de
Kritikenrundschau
Zwar werde hier hervorragend gespielt, doch fehle ein Überraschungsmoment. "Für 90 Minuten ist der Stoff ziemlich dünn und vorhersehbar. Die Handlung zieht sich schon arg in die Länge", schreibt KAM in der Hamburger Morgenpost (27.2.2023).
Poetisch oder choreografisch sei dieser Theaterabend gänzlich uninteressant, findet Peter Helling vom NDR (26.3.2023). "Was hier als Tiefenforschung versprochen wird, bleibt ein putziges Theatererlebnis ohne Erkenntnisgewinn." Und weiter: "Es ist ein bisschen wie im Musical ‚Der kleine Horrorladen‘, nur ohne Musik. Der Abend kapert die Sinne und lässt Leere zurück."
Als "eine ästhetisch höchst eigenwillige, fast wortlose Kunst-Installation“ beschreibt Annette Stiekele vom Hamburger Abendblatt (26.2.2023) den Abend. "Marie Schleef beherrscht ihre Mittel aus Spiel, Film, Video und Musik mit sicherer Hand, vor allem aber schafft sie in der tiefen Durchdringung der unbewussten Sehnsüchte der Frau wie auch des Pilz-Wesens ein Gesamtkunstwerk."
"Marie Schleef hat diese groteske Liebeserklärung an die heimliche Weltherrschaft der Pilze fast ohne Worte, aber mit schmatzendem Dauersound, als Slo-Mo-Pantomime inszeniert," schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (28. Februar 2023). "In dem sehr in die Länge gedehnten Kurzereignis sorgen die lustigen Hundekostüme von Ji Hyung Nam, in denen Sachiko Hara und Maximilian Scheidt mehr oder weniger schlaue Tiere spielen dürfen, für das Amüsement. Und das kleine Erlebnis dieses Abends ist ansprechend verpackt in bunte Videos mit Märchenwald und Mikroskopischem (Seongji Jang) sowie eine Vielfalt von Pilzkissen (Bühne: Lina Oanh Nguyen)." Im Gegensatz zum langsamen Tempo dieser Zimmerreise zersetzt sich Brieglebs Erinnerung an dieses Pilzbett eher schnell.
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