Chor des Hasses - Beim Hamburger Theaterfestival versucht Zeit-Chef Giovanni di Lorenzo mit Promibesetzung Hassreden zu dekonstruieren
Schlagwortwolke der Niedertracht
von Falk Schreiber
Hamburg, 7. Oktober 2018. Im antiken Theater ist der Chor der Begleiter des Stücks. Der Chor kommentiert, er erklärt und beschreibt, aber er agiert nicht selbst. In "Chor des Hasses" ist der Chor vor allem ein Pöbler. Ein Pöbler, ein Leserbriefschreiber, ein Internettroll, der Politikern Hassmails schickt, mal an den Bundestagsabgeordneten Cem Özdemir (Grüne), mal an Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU), an Außenminister Heiko Maas (SPD) und an Andreas Hollstein, CDU-Bürgermeister des sauerländischen Städtchens Altena, der vor knapp einem Jahr von einem Rechtsradikalen mit einem Messer attackiert wurde.
Schauspieler lesen, Politiker diskutieren
Der "Chor des Hasses" ist eine Idee von Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo: Schauspieler lesen aus solchen Hassmails, und im Anschluss diskutieren die Adressaten über das Gehörte. Realisiert wurde das Projekt im Rahmen des Hamburger Theaterfestivals, was kein Festival im eigentlichen Sinn ist, sondern eine sich über zwei Monate hinziehende Gastspielreihe, bei der Theater in die Hansestadt geladen wird, das gut ist, teuer und vor allem längst durchgesetzt, Schauspielhaus Zürich, Burgtheater Wien, Deutsches Theater Berlin, immer gut besprochen, immer mit ganz großen Namen. "Chor des Hasses" war insofern eine Ausnahme, als dass es sich hier um eine Eigenproduktion des Festivals handelte, eingerichtet von St.-Pauli-Theater-Intendant Ulrich Waller, gezeigt im Kulturzentrum Kampnagel, live übertragen vom NDR. Aber ebenso wie das übrige Programm mit großen Namen: Gelesen wurden die Mails von Iris Berben, Claudia Michelsen, Dietmar Bär und Robert Stadlober (der kurzfristig für den erkrankten Jörg Hartmann einsprang).
Die vier also lasen, eine halbe Stunde lang Hass, Wut, Frustration. Es gab unzählige Vergewaltigungs- und Tötungsphantasien, es gab Häme, falsch verstandenen Sarkasmus, abstruse Aluhuttheorien, und damit man diese Widerlichkeiten auch wirklich verstand, wurden die drastischsten Passagen auf die Leinwand hinter den Lesenden projiziert, wo sich nach und nach eine Schlagwortwolke der Niedertracht manifestierte. Ein halbe Stunde, dann verließen die Schauspieler die Bühne. Schauspieler, die zwar als Fernsehgesichter bekannt sind, die aber zumindest in Teilen auch eine durchaus bemerkenswerte Theaterexpertise mitbringen, die hier freilich nicht einmal in Ansätzen genutzt wurde: Tatsächlich waren sie mit ihren vorgelesenen Texten reine Stichwortgeber für die sich nun anschließende Diskussion – die in ihrem nachgereichten Charakter ein wenig an eine Anne-Will-Sendung erinnerte, die das Thema des zuvor gezeigten "Tatort" noch einmal aufbereitet.
Darauf einen Schluck Zeitgeist
"Kaum ein antikes Drama, in dem nicht der Chor eine entscheidende Rolle spielte", behauptete der Programmzettel zu "Chor des Hasses", was erstens theaterhistorisch falsch ist, vor allem aber auf eine ganz falsche Fährte führt: "Er (…) stand stellvertretend für die Meinung des Volkes", heißt es weiter, und für den Abend ist diese Aussage fatal: Sie gibt nämlich all denjenigen Recht, die glauben, dass diese irrsinnigen, bösartigen, brutalen Mails die Meinung des Volkes repräsentieren würden. Außenminister Maas immerhin wandte ein, dass es sich bei den Autoren um eine lautstarke, aber kleine Minderheit handle. Ein Hinweis darauf sind Formulierungseigenarten, seltsame Wordings, die im normalen Politdiskurs praktisch nie auftauchen: Dass etwa Maas immer wieder als "Maasmännchen" bezeichnet wird, deutet darauf hin, dass all diese unterschiedlichen Mails vom gleichen Absender kommen, der diese Wortschöpfung unglaublich geistreich findet, oder aber es handelt sich hier um eine Gruppierung, die diese Namensverballhornung etablieren möchte. "Chor des Hasses" aber war blind für diese Erkenntnis.
Die Diskussion zog sich hin. Von der Leyen durfte pathosschwer betonen, dass bei allen politischen Unterschieden der Auftakt des Grundgesetzes, "Die Würde des Menschen ist unantastbar", Richtschnur politischen Handelns bleiben müsse, und unterschlug dabei, dass sie und Maas mit Horst Seehofer am Kabinettstisch sitzen, einem Innenminister, der sich darüber freut, dass an seinem 69. Geburtstag 69 Afghanen in ein Bürgerkriegsland abgeschoben werden. Di Lorenzo wies darauf hin, dass auch linke Gewalt schlimm sei, ein Stöckchen, über das Özdemir beflissen hüpfte. Außerdem wurde Schnaps verteilt, aus der Zeit-Redaktion, mit dem Namen "Zeitgeist", weil di Lorenzo der Meinung war, dass das jetzt nötig sei. Es war, schlicht, unvorstellbar öde. Aber gut, dass wir mal darüber geredet haben.
Chor des Hasses
Nach einer Idee von Giovanni di Lorenzo
Eingerichtet von: Ulrich Waller
Mit: Giovanni di Lorenzo, Ursula von der Leyen, Heiko Maas, Cem Özdemir, Andreas Hollstein, Iris Berben, Claudia Michelsen, Dietmar Bär, Robert Stadlober.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.hamburger-theaterfestival.de
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"Bei den Aufführungen im Dionysos-Theater vertrat der Chor den Standpunkt der Polis-Gemeinschaft, deren Probleme hier öffentlich verhandelt wurden. Für die Bürger von Athen stellten sich in dieser Zeit radikaler politischer und sozialer Umbrüche eine Fülle fundamentaler Fragen, deren Lösungsmöglichkeiten am Modell der überlieferten Mythen durchgespielt wurden. Die Tragödie trug zur Ausbildung der Fähigkeit bei, die Dinge von verschiedenen Seiten zu sehen, die Alternativen gegeneinander abzuwägen und so auf rationalem Weg zu den notwendigen politischen Entscheidungen zu gelangen. Weil sich dieser Prozeß in der Öffentlichkeit des Theaters vollzog, ging davon eine integrative und demokratisierende Wirkung auf die attische Bürgerschaft aus. So ist das Theater des Aischylos und seiner Nachfahren als ein wichtiger Teil des Lebens in der Polis zu verstehen, als eine Angelegenheit der gesamten Bürgerschaft und nicht eine für spezielle Interessenten, wie das heute der Fall ist." (Peter Simhandl, Theatergeschichte in einem Band)
Und es muss folgendes hinzugefügt werden. Die polis schloss auch soziale Gruppen aus:
"Die Einwohner der Polis waren Männer, Frauen und Kinder mit Bürgerrecht, Metöken bzw. xenoi (= ortsansässige freie Fremde ohne das lokale Bürgerrecht), Periöken (= Umwohnende der Polis Sparta) und Sklaven. Als Personenverbandsstaat umfasste jede Polis nur die vollberechtigten, volljährigen männlichen Bürger (Politen) als Teilhaber an der 'Herrschaft'. Frauen, Kinder, Metöken, vorübergehend in der Stadt als 'Touristen' weilende Ausländer und Unfreie waren vom Vollbürgerrecht und damit von jeder Beteiligung an der Selbstverwaltung ausgeschlossen. (Quelle: Polis, Wikipedia)
Liebe*r Hanseat, online finden sich nur Berichte, keine Kritiken – zum Beispiel diese beiden: https://www.ndr.de/kultur/Chor-des-Hasses-,chordeshasses104.html, https://www.mopo.de/hamburg/ausgehen/buehne---show/morddrohungen--vergewaltigungsfantasien-buehnen-stars-lesen-hass-post-an-politiker-vor-31408066
Mit freundlichem Gruß, sd/Redaktion