Krise als Chance

26. Oktober 2023. Nach diversen Schicksalsschlägen stellt sich das transnationale Hamburger Kollektiv Hajusom der verfahrenen Situation. Und feiert mit seiner neuen Produktion das Janusköpfige von Chaos und Zerstörung.

Von Falk Schreiber

"(Broken) Bridges" von Hajusom auf Kampnagel in Hamburg © Mokhdar Namdar

26. Oktober 2023. Übrig sind nur noch Ausstattungsreste aus alten Arbeiten der Hamburger Gruppe Hajusom. Ein T-Shirt aus "Aller et Retour" (2016), eine Jacke aus "Silmandé" (2017) hängen an einer Wand aus Pappkartons im Hamburger Produktionshaus Kampnagel, eine Art Museum früherer Stücke des transnationalen Theaterprojekts Hajusom. Vorbei.

Existenzielle Krise

Vor ein paar Jahren waren Hajusom eine große Nummer in der Freien Szene: ein loses Kollektiv um die Theatermacherinnen Ella Huck und Dorothea Reinicke, das fiebrige, vibrierende Arbeiten zu den Themen Flucht und Vertreibung entwickelte und dabei auf Protagonist:innen zugreifen konnte, für die diese Themen tatsächlich relevant waren, auf (meist jugendliche) Geflüchtete nämlich. Zuletzt aber geriet das Kollektiv in Schieflage: die Corona-Pandemie und eine Krebserkrankung auf der Führungsebene sorgten dafür, dass die Gruppe längere Zeit orientierungslos trudelte. "Den empfindlichen transnationalen Mikrokosmos Hajusom hat nach 25 Jahren erfolgreicher künstlerischer Arbeit eine existenzielle Krise durchgerüttelt", heißt es dazu auf den Programmzettel. Mittlerweile wurde mit Melike Bilir und Bernd Gruber ein neues Leitungsteam gefunden, dennoch steht die Frage im Raum, ob Hajusom mit der ersten großen Premiere an frühere Erfolge anknüpfen können.

Zwischen Hamburg und Ouagadougou

Die Gruppe jedenfalls macht das Beste aus der verfahrenen Situation, indem sie sich sich dem Chaos und der Unsicherheit stellt und sie zum formgebenden Merkmal des Stücks macht. Heißt: Es wäre schön, wenn man wie schon bei "Silmandé" mit dem Theaterzentrum Espace Gambidi in Ouagadougou, der Hauptstadt des westafrikanischen Burkina Faso, zusammenarbeiten könnte. Doch dessen Leiter Mimpamba Thomas Combari kann nur per Video zugeschaltet werden: Eigentlich wäre er gerne auf Kampnagel mit dabei, erzählt er, aber leider habe Hajusom große finanzielle Probleme, weswegen körperliche Kopräsenz mangels Reiseetat bis auf weiteres unmöglich sei. Schade. Aber vielleicht auch eine Chance?

"(Broken) Bridges" also spielt die Janusköpfigkeit der Situation durch: Ja, es ist schlimm, Brücken hinter sich abzubrechen, aber in diesem Abbruch liegt ebenso eine eigenartige Schönheit. "Ein Teil vom Ganzen ist zerbrochen", heißt es an einer Stelle, und dann: "Ich bin süchtig nach zerstörten Häusern, süchtig nach Chaos." Das Bruchstückhafte, Fragmentarische war immer schon ein wichtiges Element der Hajusom-Ästhetik, hier aber ist es das, um das es eigentlich geht: dass kein Stein mehr auf dem anderen bleibt. Klar, nach einiger Zeit stürzt die Pappkarton-Mauer in sich zusammen.

Afrobeats, Pop und Dub-Passagen 

Dabei glitzern die einzelnen Bruchstücke weiterhin verführerisch. Die Tanzszenen, ohnehin zentral in einem transnationalen Theater, das sich nicht unbedingt auf die Klarheit des gesprochenen Wortes verlassen kann, sind mittlerweile von einer faszinierenden Diversität, beinhalten an Musikvideos geschulte Gruppenformationen, berührend sensible Soli, am Ende eine Art dekonstruierten Tango. Die Musik, für die der regelmäßig mit Hajusom zusammenarbeitende Hamburger Elektromusiker Viktor Marek und das burkinische Gesangsduo Soeurs Doga verantwortlich zeichnen, mischt Afrobeats, traditionellen Pop und die verhallten Dub-Passagen, für die Marek als Spezialist gelten kann, und zwischendrin spielt der in der Hamburger Subkultur eng vernetzte Musiker das schöne Stück Hinter dem Hügel seiner langjährigen, im Juni verstorbenen Mitstreiterin DJ Pattex und ihrer Band School Of Zuversicht – eine kleine Hommage, so liebevoll wie dieser gesamte Abend.

Wobei die inhaltliche Ebene hinter der Feier des Zerbrechenden, des Chaotischen zurückbleibt. An einer Stelle gibt es ein virtuelles Skypegespräch zwischen Hamburg und Ouagadougou (für das eine charmante szenische Lösung gefunden wurde), in dem mehr oder weniger unvermittelt die Reihe von Staatsstreichen gerechtfertigt wird, die 2022 die demokratisch gewählte Regierung Burkina Fasos absetzten und durch eine Militärdiktatur ersetzten. Demokratie, wie sie die ehemalige Kolonialmacht Frankreich dem Land aufgezwungen habe, sei nicht die richtige Regierungsform für Westafrika, heißt es da, man wolle sich nicht nur auf Europa konzentrieren, sondern auch mit Russland, China und Korea zusammenarbeiten – angesichts der aktuellen weltpolitischen Verwerfungen wirkt so ein Statement erschreckend naiv.

Momente der Verunsicherung

Wobei auch diese Naivität zum diversen Vexierbild gehört, das "(Broken) Bridges" zeichnet. Eindeutig ist hier nämlich nichts, und auch wenn am Ende, nach dem Schlussapplaus, das Publikum zum kollektiven Tanz aufgefordert wird, bleibt ein Moment der Verunsicherung, der Verstörung, auch der Verweigerung vordergründiger Harmonie. Man erinnert sich, eine Dreiviertelstunde früher: Der gesprochene Text mag das Chaos und die Zerstörung als Kreativitätsbeschleuniger feiern, in kurzen Spielszenen (die eher am Rande stattfinden) aber sieht man, dass Chaos und Zerstörung auch nackte Gewalt mit sich bringen. Und, ja, das geht alles gleichzeitig. Es ist nur gleichzeitig schön und verstörend.

(Broken) Bridges
von Hajusom / Soeurs Doga & Viktor Marek
(Broken) Bridges wurde gemeinsam mit den Performer:innen und dem künstlerischen Team entwickelt: Ausstattung: Andreina Vieira dos Santos, Bewirtung: Lore Hofmann, Dramaturgie-Team: Dorothea Reinicke, Ella Huck, Josep Caballero García, Produktionsleitung: Lena Carle, Künstlerische Koordination: Josep Caballero García, Mimpamba Thomas Combari, Lichtdesign: Jana Köster, Musik: Soeurs Doga, Viktor Marek, Voiceover: Viktor Marek, Tondesign: Manuel Horstmann, Video-Dokumentation: Mathis Menneking, Videokunst: Manuel Horstmann, Mokhtar Namdar, Abdoul Razak Zoundi, Recherche Hamburg (Juli 2022/Februar 2023): Dramaturgie & Text: Mahsa Asgari, Künstlerische Mitarbeit, Negar Taymoorzadeh, Produktionsleitung: Ece Tufan, Tango-Training & Expertise: Leandro Furlan, Negar Taymoorzadeh, Recherche Ouagadougou (Januar 2023): Ausstattung: Adja Samandoulgou, Produktionsleitung: Kira Claude Guingane, Recherche Yaoundé (Februar 2023): Ausstattung: Jeanne Ngo Ndab Nyemb, Rosine Nkem, Produktionsleitung: Martin Ambarra
Performance: Angelina Akosua Darko, Yaa Julia Darko, Stanley Dennis Robert Ebhodaghe, Katalina Götz, Leonie Götz, Malihe Hashemi, Momo, Taymaz Khademsaba, Arman Marzak, Zahra Mussawi, Rahmat Rezai, Micaela Quintanilla, Mimpamba Thomas Combari und Studierende der Theaterschule CFRAV in Ouagadougou
Uraufführung am 25. Oktober 2023
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.kampnagel.de

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