Richtiges Begehren

25. August 2023. Wie bekommt man auf der Bühne guten, glaubhaften und nicht manipulativen Sex hin? Dead Centre zeigen auf Kampnagel Hamburg eine Intimitätskoordinatorin bei der Arbeit – mit wechselnden Schauspielstars und dünner Backstory.

Von Falk Schreiber

"Good Sex" von Dead Centre © Ste Murray

Hamburg, 25. August 2023. "Let’s talk about sex, baby."Die Einlassmusik zu "Good Sex" vom britisch-irischen Theaterkollektiv Dead Centre beim Internationalen Sommerfestival Hamburg ist schon mal denkbar unoriginell. Andererseits passt der Selbstermächtigungs-HipHop-Klassiker natürlich wie die Faust aufs Auge: Es geht in "Good Sex" darum, über Sex zu reden, weil das Thema das (verhältnismäßig) neue Berufsfeld der Intimitätskoordination ist. Intimitätskoordinator:innen sorgen dafür, dass bei Sexszenen keine:r der Beteiligten etwas tut, was er:sie nicht möchte. Beim Film ist das mittlerweile üblich, und auch in Theater und Tanz setzt sich immer mehr die Erkenntnis durch, dass hier etwas getan werden muss.

Intimitätskoordination live

Dead Centre arrangieren also im Produktionshaus Kampnagel eine Versuchsanordnung, in der man eine Intimitätskoordinatorin (Liv O’Donoghue) bei der Arbeit sieht. Diese versucht, zwei Schauspieler:innen die Hemmungen beim Körperkontakt zu nehmen, und es ist interessant, wie das Stück hier vorgeht: Auf der Bühne stehen jeden Abend zwei andere Akteur:innen, bei der Hamburger Premiere sind das Mark Waschke, Ensemblemitglied an der Schaubühne sowie "Tatort"-Kommissar, und Pheline Roggan, ebenfalls mit einem gewissen Fernseh-Fame. Beide kennen den Stoff nicht, sie haben kein Skript und bekommen ihre Dialoge live von Alexandra Conlon und Barry McKiernan per Kopfhörer vorgesprochen. Klar ist nur, dass es um Berührungen und Begehren geht, und dass O’Donoghue das koordinieren soll. Das klingt erstmal raffiniert – ein bisschen fühlt man sich an eines der kunstvollen Arrangements erinnert, mit denen Gob Squad den Zufall und das Chaos ins routinierte Spiel integrieren. Und dass das Bühnenbild während des Spiels um Roggan und Waschke herum entsteht, ist ebenfalls eine gute Idee.

Bei der es dann aber auch bleibt. Was eine Intimitätskoordinatorin genau macht, wird gar nicht wirklich klar, O’Donoghues Aktionen erinnern mehr an eine leicht schwammige, tendenziell übergriffige Schauspielerführung: Die Regieanweisung etwa lautet, dass der Mann seine Hand auf das Knie der Frau legen möge, und die Koordinatorin macht vor, wie er das tun solle – echt jetzt? Das ist der Job? Eigentlich hätte man erwartet, dass es darum gehen würde, eine vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen, in der zum Beispiel auch die Möglichkeit besteht, "Nein!" zu sagen, aber das ist hier gar nicht das Thema. Sex übrigens auch nicht – es gibt eine wirklich lächerliche Trockenfick-Szene auf der Spüle und einen weitgehend jugendfreien Blowjob auf dem Sofa, das war es. Viel zu koordinieren scheint es da nicht zu geben, und vielleicht krankt das Stück daran, dass es einem kaum vermittelt, wie auch solch brave Szenen Grenzüberschreitungen sein können, die nach Zustimmung verlangen.

Liebesgeschichten-Graubrot

Weil also der Erzählstrang mit der Intimitätskoordination irgendwann versandet, beginnt man, sich dafür zu interessieren, was Roggan und Waschke da eigentlich spielen. Eine Beziehungskiste: ein ehemaliges Paar trifft sich nach Jahren wieder und versinkt in Erinnerungen, ans Kennenlernen, an Untreue, an das Scheitern der einstigen Liebe. Klingt so langweilig, wie es ist, bildet aber das Liebesgeschichten-Graubrot, das prominente Schauspieler:innen wie Roggan und Waschke immer wieder performen müssen, wahrscheinlich ganz gut ab.

Ein bisschen verschwimmen die Ebenen des Abends, als die Nebenfiguren beginnen, mitzuspielen: als O’Donoghue die "andere Frau" gibt. Oder als Conlon und McKiernan die Rollen von Roggan und Waschke einnehmen. Letztere sitzen dann auf dem Sofa und futtern Popcorn, während ihre Doppelgänger:innen sich anschicken, auf dem Teppich zu vögeln: Das ist ein hübsches Bild, aber es verrät auch die Versuchsanordnung des Abends ein wenig.

Sein und Schein

"Good Sex" hat hübsche Momente – wenn O’Donoghue eine Orgie aufruft und die einsetzende Peinlichkeit dadurch auflöst, dass die Darsteller:innen mit Tierstimmen kommunizieren sollen, dann ist das schon für sich genommen originell. Wenn sie Roggan dann "Now do the dog!" auffordert, diese allerdings "Duck" statt "Dog" versteht und anfängt, zu quaken, dann ist das tatsächlich etwas, das sich nicht vorhersehen lässt. Ein Einbruch des Chaos in ein Stück, dem Chaotisches eigentlich fremd ist. Meist aber beschränken sich Dead Centre darauf, die Konstruktionsmechanismen eines ordentlichen Liebesboulevards offenzulegen und so zu behaupten, man kommentiere damit Fremdbestimmung und Empowerment.

Ein Ziel der Postdramatik war es, die Vierte Wand im Theater einzureißen. Am Ende von "Good Sex" ziehen die Bühnenarbeiter die Vierte Wand im Wortsinne wieder hoch, angeblich wird hinter ihr dann gevögelt. Wer’s glaubt – dass im Theater nichts so ist, wie es scheint, haben wir in den vergangenen 95 Minuten zur Genüge gelernt. Um ehrlich zu sein, war uns das aber auch schon zuvor klar.


Good Sex 
Von Dead Centre
Text: Dead Centre mit Emilie Pine, Regie: Ben Kidd, Bühne: Aedín Cosgrove, Kostüme: Mae Leahy, Lichtdesign: Stephen Dodd, Sounddesign, Musik: Jenny O’Malley, Intimitätskoordination: Sue Mythen, Sound Ingenieur: Kevin Gleeson, Kampfregie: Ciaran O’Grady, Produktionsleitung: Gavin Kennedy, Bühnencrew: Ciaran Murphy, Emma-Kate O’Reilly, Regieassistenz: Eftychia Spyridaki, Dramaturgie: Bush Moukarzel, Produktion: Killian Coyle, Assoziierte Produktion: Mags Keohane. 
Mit: Liv O’Donoghue, Alexandra Conlon, Barry McKiernan, Gastdarsteller*innen: Pheline Roggan und Mark Waschke, alternierend mit: Malick Bauer, Paul Behren, Bardo Böhlefeld, Lisa Hagmeister, Anne Schäfer, Maryam Zaree.
Hamburger Premiere am 24. August 2023 
Dauer: 1 Stunde 35 Minuten, keine Pause 

www.kampnagel.de

 

Kritikenrundschau

"Tatsächlich schaut man Pheline Roggan und Mark Waschke, die sich als (fiktives) Ex-Paar an gemeinsame und weitere Beischlaferlebnisse erinnern und deren Körper gelegentlich zu mehr oder weniger ungelenken Umarmungen oder Küssen sortiert werden, nicht ungern zu", schreiben Maike Schiller und Annette Stiekele im Hamburger Abendblatt (26.8.2023). Und staunen, "wie langweilig so ein Abend über Begehren und Einsamkeit und Nähe und Untreue dennoch werden kann". Die Improvisation sind harmlos, sympathisch und freundlich: "Feine Qualitäten, so ganz grundsätzlich. Aber eben – im Sex wie auf der Bühne – nicht zwingend abendfüllend."

Von einer "freundliche(n) Mitmachkomödie ohne hohen Anspruch" spricht Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (27.8.2023). "Unter Anleitung einer Liebesberaterin wurden pro Abend zwei deutsche Film- und Theaterprofis (bei der Premiere Pheline Roggan und Mark Waschke) aus Übersetzungskabinen zum erotischen Sprechen und richtigen Anfassen geführt, so dass Sex 'realistic, not real' wirkt. Das Ergebnis wirkte dann leider wie eine Me-Too-Soap im Big Brother-Ambiente."

 

 

Kommentare  
Good Sex, Hamburg: Problematisches Konzept
Die "Intimitätskoordinatorin" Liv o'Donoghue ist Schauspielerin, "spielt" also die Rolle einer Intimitätskoordinatorin - mit welcher Kompetenz?

Wie sollen die Schauspieler ehrlich ihre Grenzen benennen können wenn sie vor versammelten Publikum unvorbereitet in eine Situation gebracht werden? In diesem Set-Up, dieser Drucksituation ohne Kontext, ist bereits die Grenzüberschreitung angelegt, die durch eine gute Intimitätskoordination eigentlich verhindert werden kann. Es ist fahrlässig was Dead Centre hier veranstalten, und es ist eine völlig falsche Darstellung der extrem wichtigen Position der Intimitätskoordination. Improvisation ist eine tolle Sache, auch im Theater - bei intimen Szenen hat sie nichts verloren, es kann nichts dabei herauskommen.
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