Coca Colas Rückzug

17. September 2023. Modest P. Mussorgskys Oper "Boris Godunow" erzählt vom historischen Scheitern des gleichnamigen Zaren. Frank Castorf verlegt die Oper in Hamburg aus der Vergangenheit in die postsowjetische Geschichte. Und legt eine Vollbremsung ein: vor der jüngsten russischen Gegenwart nämlich.

Von Stefan Forth

17. September 2023. Gerüchte gehen um in Russland. Statt belastbarer Fakten bestimmen Fake News die politische Stimmung. Wie viel Aktualität steckt in Modest P. Mussorgskys Oper "Boris Godunow" um einen gescheiterten historischen Zaren aus dem beginnenden 17. Jahrhundert? An der Staatsoper Hamburg versucht sich Regisseur Frank Castorf überraschend zaghaft daran, Bögen durch die Geschichte zu schlagen.

Was demnach einigermaßen gesichert ins Elend führen dürfte, sind Aberglaube und Götzendienste jedweder ideologischer Ausrichtung. Wenn eine Herrschaft so langsam die andere ablöst, holt das Inszenierungsteam flugs die sozialistische Monumentalskulptur vom Arbeiter und der Kolchosebäuerin von der Drehbühne. Hammer und Sichel inklusive. Das Denkmal wird ersetzt durch eine raumgreifend überdimensionale Coca Cola-Flasche mit Strohhalm in den russischen Nationalfarben und Louis Vuitton-Sockel. Weiter in die postsowjetische Geschichte, näher an die Gegenwart dringt der Abend dann aber doch nicht mehr vor. Also: in die Zeit, in der sich unter anderem Coca-Cola wegen des Krieges gegen die Ukraine als Marke aus Russland zurückgezogen hat.

Breitseiten in alle Richtungen

Stattdessen gibt's noch die eine oder andere Breitseite gegen das Christentum, sowohl in seiner polnisch-katholischen als auch in seiner russisch-orthodoxen Variante: Kaum grinst ein roter Kosmonaut fröhlich von einem Plakat mit dem Schriftzug "Gott gibt es nicht", werden schnell Wagen voll frommer Prozessionsfahnen und Ikonen davor gerollt, die die aufklärerische Botschaft aus dem All zuverlässig bunt und glitzernd überdecken. So weit, so typisch Castorf.

In der Bar des Vetrauens: mit Interieur von Stammbühnenbilder Aleksandar Denić und mit dem Glitzer von Stammkostümbildnerin Adriana Braga Peretzki © Brinkhoff / Mögenburg

Natürlich schnappt sich das Volk diese religiösen Angebote umgehend. Ohnehin greifen die Massen in dieser Geschichte mit Vorliebe nach einfachen Wahrheiten zur Erklärung komplexer Probleme. Für die Titelfigur Boris Godunow sind diese Untertanen Segen und Fluch zugleich. Bei der Inszenierung seines Griffs nach der Macht ist dem Fürsten das einigermaßen leicht beeinflussbare Volk zu Beginn noch ausgesprochen hilfreich. Während sich Godunow standesgemäß ziert, den Zarenthron zu übernehmen, hat schon ein Unterstützer einen Haufen Claqueure zusammengetrommelt. Es ist beeindruckend, wie der gewaltig nuancenreiche Chor der Hamburgischen Staatsoper zwischen dialogischer Vielstimmigkeit ("Ich bin stockheiser?" – "Was machen wir hier?" – "Was weiß ich?") und wirkmächtigem Gleichklang changiert.

Die Frauen haben sich schonmal in schillernde Paillettenkleider geworfen, mancher Mann ist ausgehfertig in Lederjacke oder Mütze auf dem kahlen Kopf, denn natürlich wird der neue Zar in der Bar seines Vertrauens ein Fest für sein Volk geben. Dabei geraten die Rollwagen zum Einsammeln der Kantinen-Tabletts ein wenig brüsk ins Tanzen, so als hätte der Hamburger Generalmusikdirektor Kent Nagano sie auch gleich ebenso souverän wie entschieden mitdirigiert.

Maßlose Machtspiele

Dann aber kommen (historisch verbürgte) Hungersnöte übers Land, und die eben noch feiernden Massen suchen nach einem Schuldigen. Da kommen Gerüchte gerade recht, denen zufolge ein Sohn des früheren Zaren Iwan ein Mordkomplott Godunows überlebt habe und sich in Polen befinde. Tatsächlich handelt es sich bei diesem angeblich wiederauferstandenen Anschlagsopfer Dimitrij um einen russischen Mönch auf Abwegen. Stoff für Intrigen und Ränkespiele von Shakespeare'schem Ausmaß.

Prozessionsfahnen, Beschwörungen und der Chor der Hamburgischen Staatsoper © Brinkhoff / Mögenburg

Dovlet Nurgeldiyev singt und spielt diesen Typen ebenso überragend wie schlüssig als geltungssüchtigen Narzissten. Die Figur gewinnt aasige Facetten, weil Regisseur Castorf der schlanken Opern-Urfassung, für die er sich entschieden hat, noch ein paar Videoszenen aus anderen Versionen des Stoffes hinzugefügt hat. Sie zeigen, wie der aus Russland geflohene Ex-Mönch in plüschigen polnischen Halbwelten herumhurt und dabei immer mehr Lust an der Macht entwickelt.

Intrigante Kontrahenten

So ist die Stärke der Inszenierung eine erstaunliche Tiefe in der Entwicklung einzelner, ausgewählter Figuren. Das ist umso bemerkenswerter, als die Urfassung der Oper die historischen Ereignisse auf nur sieben mal mehr, mal weniger gehaltvolle Bilder verdichtet: eine Männerwelt, die zunehmend von Misstrauen und Paranoia dominiert ist.

Am imposantesten entwickelt sich die darstellerische Dynamik zwischen dem Boris Godunow des ukrainischen Sängers Alexander Tsymbalyuk und dessen Berater und späteren Gegenspieler Fürst Schuiskij. Tenor Matthias Klink gibt diesen Wahrheitsverdreher als unheimlichen Technokraten mit schwarz getönter Nickelbrille, weißen Handschuhen und düsterem Zylinder. Aus einem neonbeleuchteten Fliesentreppenhaus mit transparenten Scheiben beobachtet er mit provokanter Ruhe, wie eine Mischung aus Angst und schlechtem Gewissen den Zaren Boris Godunow in Wahnvorstellungen treibt. Kameras fangen die bebenden Gesichter und Hände der Kontrahenten in psychologisierender Nahaufnahme ein.

Julian Arsenault als Mitjucha © Brinkhoff / Mögenburg

Wenig später wird in dem Treppenhaus eine goldene Stalinbüste stehen, und der intrigante Fürst Schuiskij wird die Kugeln auf dem roten Billardtisch in der Schaltzentrale der Macht neu geordnet haben. Die digital leuchtenden strategischen Landkarten im Hintergrund haben immer noch die ganze Welt im Visier, aber das Spiel um Herrschaft und Einfluss beginnt neu.

Castorfs Stammbühnenbilder Aleksandar Denić hat für plakative Szenen wie diese in verlässlicher Hochform Räume zwischen den Zeiten und Welten geschaffen, die in bühnenneblig kaltem Licht irgendwo zwischen wildem Osten und kommerzverkorkstem Westen liegen, zwischen den Zwiebeltürmen der alten russischen Orthodoxie und den Fliesenplatten des Sozialismus. Zusammen mit der assoziationsreich überbordenden Kostümschlacht, die Adriana Braga Peretzki mit viel Liebe zum Detail veranstaltet, macht das optisch sehr viel her.

Frühes Ende der Geschichte

Nur verliert sich die Inszenierung hinter all dieser Opulenz immer wieder im Ungefähren, hangelt sich fast brav von Szene zu Szene, von Station zu Station. Nicht zu jeder ist Castorf gleich viel eingefallen. Besonders in der ersten Hälfte bleibt manches Bild statisch, hat der Regisseur etwa Bier in Kneipen schonmal lustvoller, anarchischer fließen lassen.

Und so zeigt dieser Hamburger Opernabend vor allem das persönliche Drama eines Mannes, der die Geister der Macht, die er rief, nicht mehr loswird. Alles, was darüber hinausweisen könnte, verschwindet ebenso schnell wieder aus dem geordneten Bilderraum der fragenden Andeutungen wie all die Monumente, Büsten und Statuen von der Bühne. Ein erstaunlich harmloser Castorf-Abend mit reduzierter Geschwindigkeit, der noch dazu kurz vor unserer Gegenwart eine Vollbremsung macht. Als wäre der Siegeszug von Coca-Cola und Kapitalismus tatsächlich das Ende der Geschichte gewesen.

Boris Godunow
von Modest P. Mussorgsky (nach Alexander Puschkin)
Erste Fassung
Regie: Frank Castorf, musikalische Leitung: Kent Nagano, Bühne: Aleksandar Denić, Kostüme: Adriana Braga Peretzki, Video: Jens Crull, Andreas Deinert, Severin Renke, Maryvonne Riedelsheimer, Alkis Vlassakakis, Licht: Rainer Casper, Leitung Chor: Eberhard Friedrich, Dramaturgie: Patric Seibert.
Mit: Julian Arsenault, Olivia Boen, Alexey Bogdanchikov, Kady Evanyshyn, Ryan Speedo Green, Matthias Klink, Hubert Kowalczyk, Vitalij Kowaljow, Mateusz Ługowski, Dovlet Nurgeldiyev, Florian Panzieri, Jürgen Sacher, Renate Spingler, Marta Świderska, Alexander Tsymbalyuk; Philharmonisches Staatsorchester Hamburg, Chor der Hamburgischen Staatsoper, Extrachor der Hamburgischen Staatsoper, Alsterspatzen (Kinder- und Jugendchor der Hamburgischen Staatsoper).
Premiere am 17. September 2023
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, keine Pause

www.staatsoper-hamburg.de

Kritikenrundschau

Castorf sei "klug genug, aus Godunow kein Putin-Alter-Ego zu machen", schreibt Joachim Lange in der taz (18.9.2023). "Dass der Chronist Pimen im Habitus Stalins vor dem Zaren erscheint, reicht aus." Gleichzeitig fasziniere die "kongeniale Bühnenwelt von (Aleksandar) Denić" damit, "wie sie Geschichte und nahe Gegenwart in eins zu denken vermag und damit die Zarenherrschaft bis in die autokratische russische Gegenwart führt". Zusammen mit dem "musikalischen Sog" sorge das "durchgängig für Spannung in den zwei pausenlosen Stunden".

Frank Castorf inszeniere Mussorgskis Oper "als Expedition ins Herz der Finsternis, stromaufwärts auf dem mächtigen Fluss der Geschichte - bis zum Ursprung des russischen Zarismus", so Jakob Hayner in der Welt (19.9.2023). Protesten wie gegen Anna Netrebko an der Berliner Staatsoper "wären angesichts der Tiefe, mit der Castorf die Nationaloper 'Boris Godunow' und die russische Geschichte seziert, auch nicht berechtigt". Für seine Verhältnisse seo Castorf sehr freundlich zum Publikum: "Keine Fremdtexte, keine Nacktheit, zurückhaltender Kameraeinsatz. Und das Publikum erwidert diese Freundlichkeiten, als sich der Regisseur im weißen Anzug den kräftigen Applaus für diesen großen Opernabend abholt."

"Schauwert schlägt Mehrwert", konstatiert hingegen Joachim Mischke im Hamburger Abendblatt (18.9.2023). "Es hätte eine klar dechiffrierende Steilvorlage für eine aktualisierende Auseinandersetzung mit den Themen Macht und Ohnmacht, Oben und Unten werden können, mit dem Kreml als zeitläuftebefreites Epizentrum des Bösen, oberhalb jeder gerade herrschenden Staatsdoktrin. Bei Castorf wurde es aber nur - ein weiterer Castorf-Abend mit obligater Musik als Mittel zum Selbstzweck."

"Dass das Zarendrama in vom Putinismus kontaminierter Zeit neue Herausforderungen stellen würde, war zu erwarten", holt Jürgen Kesting in der FAZ (20.9.2023) aus. "Geboten wurde ein episodisches Verwirrspiel, bei dem das Tun und Treiben wie vom Zufall diktiert schien." Der Figur des Usurpators Dmitrij, der Boris den Thron rauben will, verschaffe der Regisseur besondere Aufmerksamkeit. "Er zeigt einen champagnerschlürfenden Playboy, der von einer machtgeilen Frau um sexuelle Befriedigung ersucht wird – eine Anspielung auf einen kapitalistischen Eindringling ins zerfallende Reich der Sowjetunion?" Der Reizüberflutung durch die Bilder sei kaum standzuhalten. 

 

Kommentare  
Boris Godunow, Hamburg: Ein Muss
Ein absolut großartiger Abend. Mein erster Castorf Abend. Das wird sich jetzt aber ändern und ich freue mich schon, diese großartige Aufführung nochmals zu besuchen! Ich kann nur sagen: ein "muss".
Kommentar schreiben