Das Leben ein Traum - Thalia Theater Hamburg
Regisseur ex machina
23. März 2024. Calderóns Stück über den Prinzen Sigismund, der für einen Tag aus dem Kerker in die Freiheit entlassen wird, ist zwar 389 Jahre alt. Mit seinen fundamentalen Fragen nach Freiheit und Humanismus klingt es jedoch höchst gegenwärtig. Nun hat es sich, schon zum zweiten Mal, Johan Simons vorgenommen – und meldet sich in der Inszenierung höchstselbst zu Wort.
Von Michael Laages
23. März 2024. Ein bisschen ulkig klingt es schon, wenn sich später am Abend – das Experiment ist schon sehr weit fortgeschritten – vermutlich der Regisseur selber zu Wort meldet: als akustischer "Deus ex machina" mit schönem, schwerem niederländischem Zungenschlag. Da ruft "das Volk" den geschundenen Prinzen Sigismund zu den Waffen, zum Aufruhr, zum Putsch gegen den Vater; zur Revolte gegen die überkommene Macht.
Für einen Tag hatte der grausame, allerlei Sterndeuterei und Wahrsagersprüchen verfallene Vater und König Basilio den lebenslang ins Verließ gesperrten Sohn Sigismund frei gelassen in die richtige Welt; einen Tag lang durfte der Thronfolger König spielen – als Test. Weil der Junge sich aber genau so benommen hatte, wie die Weissagungen angekündigt hatten, hemmungslos nämlich, entfesselt und seinerseits grausam, war er wieder weggeschlossen worden. Ihm wurde eingeredet, dieser Tag sei nur ein Traum gewesen. Nun aber ruft ihn "das Volk" – und immer noch wie im Traum nimmt er den Kampf um die Herrschaft auf.
Zu schön, um wirklich wahr zu sein
Mehrfach ruft ihn das Volk (mit der Stimme von Regisseur Johan Simons), mehrfach lässt es den Thronfolger hochleben – aber auch ins sehr humanistisch-versöhnliche Finale begleitet die Stimme den siegreichen Prinzen. Sie erinnert ihn an das Zauberwort der Erlösung nach allen Kämpfen – und das heißt: Vergebung. Während das Licht im kompletten Theater schon eine ganze Weile langsam wieder aufgeblendet worden ist – also nun wir selber, die Zuschauerinnen und Zuschauer, immer deutlicher, fast unmerklich, mit in den Mittelpunkt gerückt worden sind –, verharren Sohn und Vater in einer Art Pietà-Paar. Das ist zu schön, um wirklich wahr zu sein und nicht etwa doch wieder nur ein neuer Traum. Szene und Sound reißen ab mitten im Ton, das Licht wird ausgeknipst.
Das ist ein sehr starker Schluss; und ob er womöglich in etwa so auch schon die Fassung bei der Ruhrtriennale vor 18 Jahren beendete, darf uns heute egal sein; Johan Simons ist ein extrem viel beschäftigter Theatermensch, und andere, noch wichtigere Künstlerinnen und Künstler wiederholen sich gelegentlich ja auch, in Mitteln und Methoden wie im Zugriff aufs Material.
Pedro Calderón de la Barcas Fabel ist einer dieser sehr seltenen Schätze des Theaters, die einerseits ziemlich alt sind – 389 Jahre seit der Niederschrift 1635 –, zugleich aber immer fundamental, ganz frisch und neu.
Natürlich wird heute kein Kind aus einer königlich-herrscherlichen Familie mehr lebenslang in die Dunkelheit des Kerkers verbannt, bloß weil irgendwelche spirituellen Spökenkieker das dem leichtgläubigen und abergläubischen Potentaten als zwingende Notwendigkeit eingeflüstert haben. Aber auch das Erwachen aus selbst- wie fremdverschuldeter geistiger Gefangenschaft heute kann zu jenem Erlebnisschock führen, der wie ein Blitz ins Leben des Menschen fährt, wenn er entdeckt, wie fürchterlich falsch bislang alles gelaufen ist: Hab' ich den Moment geträumt, in dem plötzlich alles klar zu Tage lag und die Chance bestand auf grundsätzliche Erneuerung, womöglich auf die ersehnte Freiheit? War das wirklich wahr, und war das wirklich ich selber, der das erlebt hat? Und was geschieht, wenn das Licht der Welt, oder die Erkenntnis der Wahrheit, mir wieder weggenommen werden soll?
Nah am Hier und Heute
Kaum ein Stück kommt der menschlichen Selbstbefragung derart nah wie dieses im Theater, der großen Traum- und Illusionsmaschine. Auch darum zählt jeder neue Versuch, von David Mouchtar-Samorais Traumspiel vor Jahrzehnten ebenfalls in Hamburg bis zu Tilmann Köhlers grandioser Neudeutung vor kurzem in Dresden. Dort war in Spiel und Bildern, in Form und Struktur durchaus auch ein abstrahierendes Licht auf Calderóns Epoche geworfen worden, aufs 17. Jahrhundert.
Das liegt Simons jetzt in Hamburg sehr fern. Die Figuren sieht er zeitlos und sehr nah am Hier und Heute. Es braucht ein wenig Zeit, bis klar wird, dass da zu Beginn eine junge Ausländerin, auf der Flucht als Mann verkleidet und in Begleitung eines treuen Freundes und Helfers, dem betrügerischen Ex-Geliebten hinterherjagt, der seinerseits gerade per Einheirat am Hof des Herrschers Basilio zum Thronfolger aufzusteigen hofft.
Die junge Rosaura, in Begleitung des Freundes Clarin, entdeckt nun per Zufall in den Bergen den Kerker, in dem Kronprinz Sigismund leidet; wie ein Schießhund bewacht ihn der Erzieher und Kerkerknecht Clotaldo. Der wiederum – erfahren wir bald – ist Rosauras eigentlicher Vater; damit sind die grundsätzlichen dramatischen Verstrickungen im Stück ausgelegt, die Kämpfe können beginnen.
Auch der Kampf der Regie um das Stück muss jetzt beginnen. Besser: müsste – Johan Simons aber, begleitet von Mit-Regisseurin Friederike Harmstorf, schreitet merkwürdigerweise nur Szene um Szene voran im abstrakten und nicht wirklich funktionalen Bühnenraum von Johannes Schütz. Der hat eine breite Planke quer über die Drehbühne gelegt, deren eines Ende eine hohe Spiegelwand ist und an deren anderer Seite zu Beginn (und danach immer mal wieder) viele gleichförmige Tischchen zusammengeschoben und auseinandergezogen werden.
Vielleicht soll sich da ja die Struktur eines Herrscherhauses zeigen; aber mit Innenräumen spielt die Inszenierung im Übrigen eher nicht. Wirklich wichtig ist nur der Spiegel – Sigismund malt ihn im Moment der Freilassung, im Augenblick der Freiheit auf Zeit, mit weißer Farbe zu: Bitte kein Spiegelbild mehr, sagt dieses kräftige Bild.
Derweil beschwören die Kostüme von Teresa Vergho, sonst so oft Zauberwerke verfremdender Ich-Strukturen, ausnahmsweise mal eher armes Theater: mit Unterhosen, viel nacktem, geschundenem Körper, ein wenig Tarnkleidung und noch weniger strengen, aber einfachen Formen.
Proletarische Volksstimme
All das klingt aber nicht wirklich zusammen; wie sich die Inszenierung generell durch wenig kraftvollen Zugriff auszeichnet. Merkwürdig schwach und unpräzise in Tempo und Timing trudelt sie dahin, und auch "Sketches of Spain", der legendäre Jazz-Klassiker von 1960 mit Miles Davis und dem Orchester-Arrangeur Gil Evans, hält sie in immer neuen Ausschnitten und Zitaten nicht wirklich zusammen und in Schwung.
Im Programmheft wird darauf verwiesen, dass Simons Stück und Inszenierung "aus dem Ensemble" und mit ihm entwickelt habe – das ist gut vorstellbar, und der Regisseur kann sich ja auf alle verlassen: auf Jens Harzer als Sigismund und Marina Galic als Rosaura vor allem; die beiden sind ja auch in Bochum das Traumpaar des Intendanten. Felix Knopp formt in der Rolle des Clotaldo ein schwer zerrissenes Profil. Jirka Zett kämpft mit ähnlich forcierter Energie um Astolfo, den Liebes-Betrüger und Thronfolger in spe, während sich Anna Blomeier ihm gegenüber als Estrella zur unbeirrbaren, sehr modernen Frau entwickelt. Falk Rockstroh schließlich setzt als Clarin die proletarische Volksstimme gegen die Ranküne der Herrschenden.
Dass derweil König Basilio von einer Frau gespielt wird, fällt inhaltlich und interpretatorisch nicht weiter ins Gewicht – Christiane von Poelnitz kann jeden König spielen. Alle agieren kraftvoll und hoch konzentriert; dieser immer wieder fulminante Text fordert das ja auch. Aber auch einen kompakteren Zugriff in der Inszenierung hätte er gefordert – und dringend gebraucht.
Das Leben ein Traum
von Pedro Calderón de la Barca
Deutsch von Georg Holzer
Regie: Johan Simons, Mitarbeit Regie: Friederike Harmstorf, Bühne: Johannes Schütz, Kostüme: Teresa Vergho, Musik: Victor Ijdens, Licht: Jan Haas, Tonmeister: Alexander Müller-Welt, Gerd Mauff, Dramaturgie: Susanne Meister.
Mit: Anna Blomeier, Marina Galic, Jens Harzer, Felix Knopp, Christiane von Poelnitz, Falk Rockstroh, Jirka Zett.
Premiere am 22. März 2024
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, keine Pause
www.thalia-theater.de
Kritikenrundschau
"Großes Schauspiel, aber zu viel gewollt: Ein am Ende eitler Abend, der sich leider selbst bespiegelt und nichts mehr aussendet", so urteilt Peter Helling im NDR (23.3.2024).
Viel Lob hat Ruth Bender von den Kieler Nachrichten (23.3.2024) für die Bühne von Johannes Schütz übrig: "Mit den ausgeklügelten Spiegelungen, Schattenwürfen und Lichtachsen wird sie in ewiger Drehbewegung zum Experimentierfeld zwischen Physik und Poesie." Auf diesem Feld beobachtet die Kritikerin "viel Rennen, Jagen und Räumen", wenig "barocke Opulenz" und ein "spielsüchtiges Ensemble", wobei Regisseur Johan Simons ihm mit der Sprache "allen Raum" gebe und sie "schön zwischen hingeschlenkerten Reimen und hohem Ton" pendeln lasse.
Allen Spielern und allen Charakteren werde für ihre jeweilige Motiv- und Seelenlage ausgiebig Raum ermöglicht. "Sie erforschen die Situation, sie schmecken die Texte, jeden Satz, jedes Wort, jedes Komma. Das ist hochpoetisch, toll gesprochen, genau gearbeitet. Aber es erfordert Geduld. Von den Zuschauerinnen und Zuschauern, durchaus auch von den Figuren“, schreibt Maike Schiller vom Hamburger Abendblatt (23.3.2024) über "einen intensiven, hochkonzentrierten, erschöpfenden Abend".
"Das spanische 'Comedia' meint nicht dasselbe wie Komödie, hier aber, in Holzers Versen und in Simons Inszenierung, im Spiel von Harzer, Galic, Knopp und Zett, sind selbst die dramatischsten Szenen stets nur eine Handbreit vom Zirkus entfernt, von seiner Bitterkeit und seinem Witz", schreibt Jürgen Kaube in der FAZ (25.3.2024). "Nach zweieinhalb Stunden ohne Pause waren alle erschöpft: metaphysisch und poetisch, schauspielerisch und vom Zuschauen. Aber wo stünde denn, dass Mitgenommensein keine Anstrengung bedeutet?"
So faszinierend Jens Harzers "differenzierte Ausmalung des letztlich überlegenen Wilden" sei, die für Till Briegleb von der Süddeutschen Zeitung (26.3.2024) "von feinsten zu gröbsten Tönen reicht", so lauwarm bleibt aus seiner Sicht "leider trotzdem die fast dreistündige Sitzung ohne Pause, die Simons aus Calderóns Traumtherapie macht." "Dass die eigentlich ziemlich aggressive Erzählung von extremen Gemütslagen, aus denen eine Moral der Mäßigung gewonnen wird, wie in Watte gepackt daherkommt, liegt an dem mäßigenden Grundton, den Simons der gesamten Parabel verordnet."
Mit "ernsthafter Leichtigkeit und erstaunlich humoresk inszeniert Johan Simons das Stück", berichtet Jens Fischer in der taz Nord (17.4.2024). "Das Tolle an dem Abend" sei "die im Text angelegte, körperlich ausgelebte Auseinandersetzung über Identität, freien Willen, Schicksal, Schuld, Verantwortung und Moral in einer Welt der Täuschungen. Die Inszenierung zieht aus der konzentrierten Ruhe ihre Spannung und ihre Komik aus der Konfrontation von Wort und Verwandlungslust. Simons holt den Charme einer offenen Probensituation auf die große Bühne, wobei das Ensemble dem eher typisierten Personal mit durchaus tieferbohrender Psychologisierung begegnet. Ohne große Regiesetzungen darf es freudig drauflos agieren."
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Danke für diese ausgewogene kluge Keirik des Premierenabends!
HH
Der Traum, das Leben beginnt, indem sich die schwarze Wand hebt und einen Blick auf die Bühne freigibt. Auf der Drehbühne eine Diagonale – ein Catwalk – begrenzt durch eine Spiegelwand und genau im Zentrum eine im Raum schwebende Kugel – Metaphern für die Fragen an dieses Stück (Bühne: Johannes Schütz).
Für mich das stärkste Bild dieser Inszenierung das Experiment, wo Sigismund für einen Tag auf den Thron gesetzt wird, um zu sehen, ob er ein guter Herrscher sein kann, oder ein Tyrann ist auf Grund der Weissagung eines Astrologen. Sigismund (J. Harzer) erwacht aus tiefem Schlaf wie ein Kasper Hauser, obgleich er von Clotaldo (F. Knopp) erzogen wurde, verwirrt, desorientiert, unsicher auf den Beinen, was zur perfekten Slapsticknummer im Sinne Keatons oder Chaplins in kafkaesker Distanziertheit in die Tradition des absurden, beckett’schen Theaters führt. Ja wir leben in absurden Zeiten und wer denkt bei blauer Hose und gelben Hemd nicht unmittelbar an den Krieg in der Ukraine? Wer assoziiert bei Sigismunds Kerkerhaft nicht unweigerlich Personen wie Alexej Nawalny oder Nelson Mandela. Beiläufig und unaufdringlich öffnen sich die Transformationsfenster in unsere Zeit und das Leben bleibt ein Traum, ein Nichts, ein Übergang und von ersehnter Ewigkeit keine Spur. Ein weiterer Höhepunkt die ausgelassene Verliebtheit zwischen Sigismund und Rosaura (M. Galic), ein ausgelassener dionysischer Tanz voller Ekstase den Sigismund mit den Worten kommentiert „Stunden des Glückes sind ein Traum“. Harzer überzeugt mit seiner Körperlichkeit, die alle Befindlichkeiten seiner Rolle präzise kommentiert und in ihrer teilweise unbeholfen wirkenden Art eine surreale Dimension erzeugt, die die Verse in ein neues Licht setzen. M. Galic eine Rosaura, die mit ihrer Natürlichkeit punktet. A. Blomeier als Estrella verkörpert eine selbstbewusste moderne Frau die bereits zu Beginn Astolfo (J. Zett) zu einem emanzipierten, überwältigenden Kuss niederzwingt. F. Rockstrohs Clarin ist der Beckett’sche Clown, der Volkes Stimme kommentiert. C. v. Poelnitz gibt den alternden König mit königlichen Attituden und stimmlichen Machtdemonstrationen. Schwer haben es F. Knopp als Clotaldo und J. Zett als Astolfo, da entsprechende Transformationsfester für sie nicht ausreichend geschaffen wurden.
Dieses in seiner Vielfalt und Sprachgewalt barocke, poetische Versdrama schildert, dass das Leben eine kurze Episode ist und wir Menschen nach einem träumerischen Intermezzo auf Erden in die Ewigkeit eingehen. Nach Transformation in unsere Zeit bleibt zumindest die Gewissheit, das unser Leben endlich ist und da uns nur kurze Zeit zum Leben – Träumen bleibt, sollte man zumindest versuchen nach dem kategorischen Imperativ Kants zu leben. Wäre das nicht traumhaft? Simon und Team haben Fragen gestellt und mögliche Antworten mit beeindruckend Bildern geschaffen.