Im Menschen muss alles herrlich sein - Thalia Theater Hamburg
Und schließlich Jena
28. Oktober 2022. Fleischwolfjahre, Plattenbauten und ukrainische Schlager: Zur Eröffnung des Festivals "Nachbarşchaften – Komşuluklar" inszeniert Hakan Savaş Mican den Identitätssuche-Roman "Im Menschen muss alles herrlich sein" von Sasha Marianna Salzmann als ein Kapitel um weibliche Migrationsgeschichte. Wo ist es nur, dieses "Zuhause"?
Von Falk Schreiber
28. Oktober 2022. Lena feiert ihren 50. Geburtstag und will die Familie um sich haben. Mutter will ein Zuhause. Wobei die Frage ist, wo sich dieses Zuhause befindet: im thüringischen Plattenbau? In den Erinnerungen an die "Fleischwolfjahre", die Umbruchszeit, als Gorbatschows Reformen die sowjetische Heimat an den Raubtierkapitalismus verfütterten? Oder in den Prä-Perestroika-Schlagern, in denen die Familie alkoholschwanger schwelgt?
"Schreiben Sie über Ihre Leute!"
"Wo ist zuhause?", mit dieser Frage lässt sich das zentrale Thema von Sasha Marianna Salzmanns 2021 erschienenem Roman Im Menschen muss alles herrlich sein umschreiben: Es geht um die Identität einer postmigrantischen Gesellschaft, es geht darum, dass man sich immer wieder "Wo kommen wir eigentlich her?" fragt. Was gar keine einfache Frage ist, wenn die familiäre Bindung eine "russisch-ukrainisch-jüdische Mischpoke" (Salzmann) ist. "Von der Vergangenheit besessen zu sein, ist nicht gesund", meint Tatjana (Oana Solomon) einmal, "Eine zu haben, wäre schön", antwortet Edi (Toini Ruhnke).
Salzmanns Roman beschreibt eine mehr oder weniger gleichberechtigte Gruppe von Suchenden. In der Theaterfassung, die Hakan Savaş Mican zur Eröffnung des kleinen, transkulturell ausgerichteten Festivals "Nachbarşchaften – Komşuluklar" an der Hamburger Thalia-Nebenspielstätte Gaußstraße inszeniert hat, steht eindeutig Edi im Mittelpunkt, eine junge Frau, die vor der Last der Vergangenheit nach Berlin geflohen ist und dort als Nachwuchsjournalistin zurück in die postsowjetische Rolle geschoben wird. "Schreiben Sie über 'Ihre Leute'!", drängt ihre Redakteurin, obwohl Edi nur bruchstückhaft Ukrainisch spricht. Kein Wunder, dass sie sich diesen Identitätszuschreibungen verweigert, kein Wunder auch, dass sie am Ende besonders schwer auf ihr lasten.
Mican hat in Hamburg zuletzt Wajdi Mouawads Vögel, Arthur Millers "Blick von der Brücke" und Anton Tschechows Onkel Wanja auf die Bühne gebracht, langsam entwickelt sich der Regisseur hier zum Spezialisten für theatrale Familienaufstellungen. Immerhin, Mican kann das: Mutter, Tochter, Nichte so arrangieren, dass sich eine Spannung aufbaut, auch, dass Verwerfungen spürbar sind, ohne, dass sie ausgestellt werden. Im Grunde ist das eine sehr zurückhaltende Regie, die ihre Figuren vorsichtig, fast zärtlich behandelt und sich dabei selbst entwickeln lässt. Dass es sich in "Im Menschen muss alles herrlich sein" fast ausschließlich um weibliche Figuren handelt, ist ein kleines, interessantes Detail: Stefan Stern legt die Männerrollen Vater, Großvater und Liebhaber als Karikaturen an, die einer patent-charmanten Naturgewalt wie Oda Thormeyer als Mutter Lena wenig entgegenzusetzen haben, und den Rest übernehmen ohnehin Ruhnke, Solomon und Pauline Rénevier (als Nina, die sich in die Soziophobie gerettet hat). Kann man machen, ist durchaus eine mutige Entscheidung: Migrationsgeschichte als Frauengeschichte zu erzählen.
Ein Aspekt fällt unter den Tisch
Was dabei ein wenig unter den Tisch fällt, ist der queere Aspekt von Salzmanns Vorlage. Dass Edi lesbisch ist, wird kurz erwähnt (und im Folgenden nicht weiter thematisiert), einzig eine (im Vergleich zur Genauigkeit der übrigen Inszenierung) eher ungeschickt gezeichnete Flirtszene mit der Musikerin Masha Kashyna entwirft eine Ahnung davon, dass Edis Entfremdungserfahrung auch noch einen anderen Grund haben könnte als nur die Heimatlosigkeit zwischen Moskau, Jena und Berlin. Das ist ein Problem, das oft bei Romandramatisierungen auftaucht – ein Aspekt, der einem beim Lesen wichtig war, wird nicht gebührend gewürdigt. Egal. Ist hier einfach nicht das Thema.
Michael Köpkes Bühne besteht aus lieblos aufeinander gestapelten Stühlen, einem Schrank, einem Fernseher. Genutzt wird dieses Arrangement im theatralen Sinne kaum, nur gegen Ende schmeißt Thormeyer den Stapel in einem Anfall von Aktion, Leidenschaft und Wut um, aber bis dahin verweist diese Ausstattung auf den unfertigen Grundcharakter von Micans Theater: Alles wirkt ein wenig zusammengeschoben, auf den ersten Blick hat das etwas Zufälliges. Wie ein Lebenslauf, der mehr oder weniger unmotiviert plötzlich in der thüringischen Provinz endet. Einmal werden die Emigrationspläne der Eltern skizziert, Australien vielleicht, oder Florida. Und schließlich Jena.
Schöne Bilder, traurige Bilder
Jena, das dann tatsächlich sehr konkret auftaucht. Die Bühne bleibt unbestimmt, aber auf der Bühnenrückwand flimmern Videos (Sebastian Lempe) von Edis Reise nach Thüringen: der Berliner Ring, die neonhelle Trostlosigkeit von Autobahnraststätten, schließlich die Jenenser Plattenbauten in Cinemascope. Schöne Bilder, traurige Bilder. Und dass Mican diese Bilder einfach wirken lässt, zeigt, wie genau an dieser wie hingeworfen wirkenden Ästhetik gearbeitet wurde. "Was hast du da auf deinem Kopf?", fragt Tatjana. Und Edi verteidigt ihren kunstvoll verwachsenen Undercut: "Haare." Tatjana: "Ach so." Sage niemand, dass Mican nicht auch lustig könne. Weil das Leben manchmal auch ziemlich lustig sein kann, und weil dieses zurückgenommene, konzentrierte Theater ziemlich nahe dran ist am Leben. Am Leben einer Mischpoke in der Diaspora.
Im Menschen muss alles herrlich sein
von Sasha Marianna Salzmann
Regie: Hakan Savaş Mican, Bühne: Michael Köpke, Kostüme: Sylvia Rieger, Video: Sebastian Lempe, (Live-)Musik: Masha Kashyna, Stefan Stern, Dramaturgie: Susanne Meister.
Mit: Pauline Rénevier, Toini Ruhnke, Oana Solomon, Stefan Stern, Oda Thormeyer
Uraufführung am 27. Oktober 2022
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.thalia-theater.de
Hier geht's zu unserer Rezension von Sasha Marianna Salzmanns Roman "Im Menschen muss alles herrlich sein".
Kritikenrundschau
Einen Abend, der "schmerzhaft und schnörkellos" war, sah NDR-Kritiker Peter Helling (online 28.10.2022). Er fange Bilder von Fremdheit ein: "von Einsamkeit, fern von Zuhause; mit Sätzen, kalt wie Eis". Ein "Glücksfall" sei die Regieposition. "Mit Hakan Savaş Mican inszeniert ein Regisseur mit türkischen Wurzeln einen Theaterabend über Migration, Fremdheit, ohne Kitsch oder süßlichen Exotismus. Das durchweg starke Ensemble, auch der fabelhafte Thalia-Neuzugang Pauline Rénevier, macht die Risse unter der Oberfläche spürbar", findet der Rezensent und resümiert begeistert: "Sasha Marianna Salzmanns Roman wird hier zu einem Theaterstück der Stunde".
Regisseur Hakan Savaş Mican lade die Dialoge auf der großen Videoleinwand mit Landschaftspanoramen auf, Autobahnen mit Windrädern, seelenlosen Neubau-Siedlungen, eine kalte Welt, so Eberhard Spreng im DLF Kultur vom Tage (28.10.2022). Wären da nicht die gelegentlich musikalische Einwürfe, der Abend ginge mit seinem braven Abarbeiten am literarischen Material etwas emotionslos vonstatten. Auch blieben viele der Lebensfäden nur unverbunden. "Vor allem aber gelingt es nicht, das Leiden der Töchter im Westen aus dem früheren Leiden der Mütter im Osten zu erklären." Und damit genau jenes Versprechen dieser Leiteratur einzulösen.
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Im Nachgespräch mit dem kompletten Ensemble und der Dramaturgin erfuhren wir, dass sich das Team dagegen entschied, auf die aktuelleren Entwicklungen einzugehen. Die Stückfassung endet wie der Roman 2017. Konflikte gab es zwischen der deutsch-ukrainischen Live-Musikerin Masha Kashyna und dem Regisseur auszufechten: sie pochte darauf, dass als Songs, die in Mican-Arbeiten immer eine wesentliche Rolle spielen und die Atmosphäre seiner karg ausgestatteten Abende entscheidend prägen, nicht nur nostalgische, russische Lieder aus Sowjetzeiten, sondern auch ukrainische Lieder ausgewählt werden.
Wegen dieser Einblicke in die Produktionsweise war das Nachgespräch ein Gewinn, die zwei Stunden davor blieben eine konventionelle Adaption, der man deutlich anmerkte, dass es sich um eine Roman-Vorlage handelt, die nicht für die Bühne geschrieben war. Das zentrale Thema von „Im Menschen muss alles herrlich sein“ ist die Sprachlosigkeit zwischen den Generationen, zwischen Müttern und Töchtern. Zu ihrem 50. Geburtstag möchte Lena (Oda Thormeyer) ihre Tochter Edi (Toini Ruhnke), ihre langjährige Freundin Tatjana (Oana Solomon) und deren Tochter Nina (Pauline Rénevier) um sich scharen, die Männer (alle von Stefan Stern gespielt) sind nur Nebenfiguren in diesem Erinnerungskosmos.
Vertrauter Gorki Theater-Sound diesmal einige hundert Meter weiter westlich im DT. Wie von Mican gewohnt entfaltet sich die melodramatische Familien-Erinnerungssaga mit viel Live-Musik und eingespielten Videos, die lange Fahrten über triste Autobahnen und Stopps an Raststätten zeigen.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/05/04/im-menschen-muss-alles-herrlich-sein-kritik/