Der ewige ICE hat Verspätung

von Katrin Ullmann

Hamburg, 5. September 2020. Lia Şahin auf der Bühne des Thalia Theaters ist der Hauptgewinn, diese, wie sie sich selbst beschreibt "beatboxende rothaarige deutsche Transgender Frau mit türkischem Migrationsvordergrund die es bevorzugt ein bunter Fleck im HipHop genannt zu werden". Christopher Rüping hat sie für seine Inszenierung von Thomas Köcks "Paradies fluten / hungern / spielen" gewonnen. Und Lia Şahin spielt, singt, gebiert Streichersounds, Scratches, irritiert, mäandert, zaubert mit ihrer Stimme, mit ihrem Innersten, mit man weiß nicht so genau, mit was. Jedesmal, wenn sie auftritt, verwandelt sie den Abend in ein Flirren. Musikalisch verwirrend schön und voll atmosphärischer Unwägbarkeit. Es ist dieser besondere Soundtrack, der den Abend trägt. Natürlich ist es nicht Lia Şahin allein. Musikalisch mit dabei sind Christoph Hart, der bereits bei Rüpings Thalia-Inszenierung "Panikherz" die Musik verantwortete, sowie Matze Pröllochs, mit dem Rüping ebenfalls eine Zusammenarbeit verbindet (u.a. in seiner grandiosen Antiken-Arbeit Dionysos Stadt an den Münchner Kammerspielen) und Julia Förster.

Von der weltweiten bis zur ganz persönlichen Ausbeutung

Rüping hat ganz offensichtlich ein sehr gutes, untrügliches Gespür für Musiker, für deren Soundcollagen und Atmosphären. Und, das muss er eigentlich nicht mehr unter Beweis stellen, auch eines für Schauspieler. Doch an diesem Abend, und das ist vielleicht das Hinkefüßchen, überragt schlicht die Musik. Sie überragt alles: die Bühne von Peter Baur (das ist vielleicht noch am einfachsten, denn sie besteht lediglich aus zwei übereinander gestapelten, verschiebbaren Containern, die mal Hotelzimmer, mal Pflegeheim, mal verrauchter Kriegsschauplatz sind), die Schauspieler (das ist nach dieser Premiere allerdings nicht final zu beurteilen, da ausgerechnet Hans Löw krankheitsbedingt ausfiel und sehr kurzzeitig durch Günter Schaupp, der sich bewundernswert gut schlägt, umbesetzt werden musste) und letztlich auch den Text von Thomas Köck. Dieser ist eine nicht enden wollende Flut, die sprachgewaltig, komisch und melancholisch zugleich einen riesigen Bogen schlägt – vom Kautschukboom des späten 19. Jahrhunderts bis zur KFZ-Werkstatt Mitte der Neunziger Jahre, von der weltweiten bis zur ganz persönlichen Ressourcen- und Selbstausbeutung – aber auch eine Flut, die Rüping zu überschwemmen scheint.

Paradies1 560 KrafftAngerer uAuf der Suche nach dem dreifachen Paradies – an den Mikrophonen: Lia Şahin (links) und Abdoul Kader Traoré (Mitte) © Krafft Angerer

Weltreise mit Zugbegleiter

Die Köck'sche Klima-Trilogie ist eine Reise im "ewigen ICE", der falsch abgebogen ist, schon vor Jahrzehnten, schon vor Jahrhunderten und der natürlich Verspätung hat. Abdoul Kader Traoré spielt den professionell freundlichen Zugbegleiter, der die Zuschauer*innen und auch die Darsteller*innen vom smogverhangenen Zhangzhou mitnimmt in die italienische Textilstadt Prato, wo 2013 illegale, meist chinesische Textilarbeiter*innen von einem Fabrikfeuer überrascht wurden und mehrere von ihnen ums Leben kamen, außerdem in das Hotel Palestine in Bagdad, in dem ausländische Journalisten, darunter auch eine Kriegsreporterin (Maike Knirsch) auf das nächste verkaufsträchtige (Foto-)Ereignis lauern. Und bis hin in eine prekäre KFZ-Werkstatt-Welt in Osnabrück, aus der heraus sich die Tochter (Maike Knirsch) eine Tanzausbildung querfinanziert, die Mutter (Björn Meyer) im geblümten Nachthemd den "Erzeuger" lauthals zusammenhasst, und später, als ebenjener Erzeuger (Günter Schaupp) sich selbst verbrennt und dement wird, kaum loskommt: weder vom Einfamilienhaus noch vom Gatten.

Wo die Welt durchblitzt

Die Textmasse wird auf zwei Personen kondensiert. Abdoul Kader Traoré moderiert den Ablauf ironisch lächelnd an, und die Szenen performen Maike Knirsch und Björn Meyer. Sie machen das eher statisch, aber ziemlich gut. Einiges kommt dabei allerdings unbeholfen überbordend daher, etwa der bilderlose Vortrag über den Kautschukabbau, den Björn Meyer mit ausführlichen, klischeehaften Bildbeschreibungen untermalt. Oder die nervliche Zerreißprobe im Krisengebiet, der die Kriegsfotografin nicht standhält. Der Bericht von dieser Ausnahmesituation wird großzügig angereichert mit Verweisen auf den britischen Fotojournalisten Tim Hetherington, der während dem Bürgerkrieg in Libyen 2011 ums Leben kam. Was letztlich so wirkt, als müsse zusätzliche Authentizität hergestellt werden.

Paradies3 560 KrafftAngerer uMaike Knirsch und Björn Meyer baden in den Textfluten. © Krafft Angerer

Sicherlich hat Köck viel Dokumentarisches, Historisches und auch Privates in seinen dichten Text eingeschrieben und resümiert, ganz Autor: "Nichts hat sich so ereignet, und doch ist nichts erfunden. Man spürt die Welt durchblitzen." Dennoch geraten einige Passagen, einige Szenen in Rüpings Inszenierung entweder zu altklug oder zu hysterisch. Sie bekommen etwas moralisch Lehrbuchhaftes und taugen in ihrer Unschärfe wenig als Globalisierungskritik. Berührend, bedrückend wird die Inszenierung erst in der Erzählung aus der kleinen Welt. Wenn Vater, Ehemann und ehemaliger Eigentümer der KFZ-Werkstatt sich nurmehr an zwei Synapsen klammert und zögerlich gegen sein eigenes Verschwinden anflüstert. Oder eben: wenn Lia Şahin auftritt.

Paradies fluten / hungern / spielen
von Thomas Köck
Regie: Christopher Rüping, Bühne: Peter Baur, Kostüme: Lene Schwind, Dramaturgie: Matthias Günther, Musik: Christoph Hart, Matze Pröllochs, Julia Förster, Lia Şahin, Licht: Paulus Vogt.
Mit: Maike Knirsch, Björn Meyer, Abdul Kader Traoré, Lia Şahin, Matze Pröllochs, Julia Förster, Christoph Hart, Günter Schaupp.
Premiere am 5. September 2020
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, keine Pause

www.thalia-theater.de

 

Kritikenrundschau

Eine "furchtlose Regie" wird Christopher Rüping von Annette Stiekele im Hamburger Abendblatt (7.9.2020) bescheinigt. Zwar bleibt aus Sicht dieser Kritikerin die "auf wahren Begebenheiten basierende Textflut" disparat. Dennoch entstehe ein theatrales Ganzes - auch das der "fast schon zu schönen Musik", die sich als "Katalysator der Illusion aber auch zentrales Schmiermittel der Episoden" erweise und des "beachtlichen" Spiels des Ensembles. Insbesondere Christoph Hart (Keyborads), Matze Prölloch (Schlagzeug), Julia Förster (Bass) und Lia Sahin bilden für Stiekele nich nur eine eingespielte Band, "die sich auf hinreißenden Überwältigungs-Elektro-Soul versteht, sie übernehmen außerdem Nebenfiguren und formieren sich zum Chor."

"Es war ein großartiger Abend, ein Abend darüber, dass wir endlich unsere Bilder über Bord werfen müssen, um neu zu sehen," so Peter Helling im NDR (7.9. 2020). "Christopher Rüping wirft mit leichter Hand Bilder auf die Bühne - und Leerstellen von Bildern. Er lässt die Texte manchmal nur ablesen, manchmal daher sagen wie in einer lockeren Improvisation. Dadurch bringt er sie ins Schwingen: mit Humor, mit Musik, mit spielerischen Rollenwechseln, mit einem Ensemble, das einfach brilliert - direkt, klar und glaubhaft."

"Es ist einzig die Qualität des Textes, die durch diese uninspirierte Aufführung führt," schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (8. 9.2020). "Köcks gedankenbefreiende Sprache, dieser lakonische Ernst, mit dem er die großen Zusammenhänge des globalen Unrecht an menschlichen Episoden schildert, zeigt aber auch, erschreckend deutlich, dass Rüpings Regie das Potenzial dieser Texte nicht einmal im Ansatz ausschöpft." Erst am Schluss wird die Inszenierung aus Brieglebs Sicht "dicht und klärend."

Kommentare  
paradies fluten/hungern/spielen, HH: zurück im Dschungel
Ich krieg den Abend nicht aus meinem Kopf. Ich krieg ihn einfach nicht aus meinem Kopf. Ich werd ihn nicht los. Wie ein ständiger Begleiter, der mir in alltäglichen Situationen unvermittelt auf die Schulter tippt - ich dreh mich um und schon sitze ich wieder im Thalia Theater und folge diesem wunderbaren Ensemble von Menschen in den Dschungel.
paradies fluten/hungern/ spielen, HH: Leistung
Soviel kann ich von der Aufführung vom 7.9.2020 mindestens sagen, daß sie sich für mich gelohnt hat, daß sie in meinen Tag und irgendwie gespenstisch auch zu den Ereignissen und Bildern des allgemeineren Tages paßte und auch, was ich als Qualitätssignum der Inszenierung deute und ansehe, über diesen Tag hinaus auf mich wirken sollte und wirkt. Dabei empfand ich den Regiezugriff sehr wohl als einen schlüssigen, ganz im Gegensatz etwa zu der recht launig mir erscheinenden Kritik Till Brieglebs; auch sehe ich keineswegs, wie Katrin Ullmann offenbar, einen Abend unter einer Musikdecke verschwinden und/oder verschimmeln, es stimmt, der Abend hat sperrige Momente und ich denke, er muß diese auch haben, und faßt dieser Abend auch drei Stücke zusammen, die übrigens teilweise auf nachtkritik de. rege besprochen wurden (vielleicht wäre eine Verlinkung der bisherigen "Paradies"-Kritiken sinnvoll), so gelingt es ihm wieder und wieder, gerade am Anfang und gegen Ende ist das so, trotz des Textkonvolut- und Zusammenfassungsdruckes ZEIT zu geben, sich und dem Publikum ZEIT zu lassen, so daß ich keine Überforderung sehe, welche der Inszenierung anzulasten wäre und den "thematischen Blick" lähmen könnte - auch das sehe ich als Leistung der Regie Christopher Rüpings. Zu den gespenstischen Koinzidenzien hier nur die Gegenüberstellungen : "Die PEKING, wie sie an diesem Tag durch das Stör-Nadelör (Schleuse) gezogen wurde" und das sittsam-sattsam bekannte "Kinskysche Schiff aus dem Werner-Herzog-Film", "Der quasi ewige ICE des Stückes" und jener ICE, der an diesem Tage in Niebüll beim Rangieren einen Regionalzug rammte, und schließlich brennt am Ende der Inszenierung ein Container, wenige Stunden später brennen woanders bedeutend mehr als einer ... .
Klima-Trilogie, Hamburg: Nase vorn
hab sie alle bewundert: den text, die schauspieler, die musik, die musiker, das bühnenbild, das sichere gespür des regisseurs und des dramaturgen für mittel und zeit. was die eröffnungspremieren angeht, so hat das thalia ausnahmsweise mal die nase vor dem schauspielhaus vorn.
Leserkritik: Paradies-Trilogie, Hamburg
Eine achtstündige Mammut-Inszenierung, ein Theater-Fest wie „Dionysos Stadt“ hätte das „Paradies“ werden sollen, doch Corona ließ nur eine auf zwei Stunden eingedampfte Light-Version zu.

Sprödes und statisches Textaufsage-Theater ist das Publikum aus den vergangenen Wochen schon gewohnt. Dennoch ist der Auftakt von „Paradies“ besonders traurig: Maike Knirsch, die gerade vom Deutschen Theater Berlin ins Thalia-Ensemble wechselte, und Björn Meyer lesen lange Textpassagen von der großen Leinwand im Hintergrund ab und stehen dabei mit dem Rücken zum Publikum. Jede Tagesschau- oder heute-journal-Ausgabe, in der Judith Rakers oder Claus Kleber ebenfalls vom Teleprompter ablesen, dabei aber immerhin noch mokant die Augenbraue hochziehen oder mit einem süffisanten Lächeln einen Subtext transportieren, ist ein größerer performativer Genuss als diese Versuchsanordnung, die mit provozierender Überdeutlichkeit herausarbeitet, in welches Korsett die Corona-Regeln die künstlerische Arbeit einzwängen.

Der zweistündige Abend ächzt unter der enormen Textmasse, die er sich vorgenommen hat. Die einzelnen Elemente stehen zu unverbunden nebeneinander. Wie ein Fremdkörper in dieser szenischen Lesung wirkt Lia Şahin, die mit ihren Beatboxing-, Hiphop- und Souleinlagen für willkommene Abwechslung zwischen den langen Textblöcken sorgt, die sich vor allem Knirsch und Meyer teilen, bei denen aber auch Abdoul Kader Traoré, der aus Castorfs „Faust“ bekannt ist, und Rüpings Stamm-Musiker Christoph Hart und Matze Pröllochs einige Passagen übernehmen. Wenn Şahin loslegt und ihre Aerosole derart ins Publikum schmettert, dass Karl Lauterbach einige Kilometer weiter auf seinem Stammplatz im Studio von Markus Lanz zusammenzuckt, wird eine Ahnung spürbar, wie der Abend ursprünglich konzipiert gewesen sein mag.

Da aber zu viele Fäden ins Leere laufen und kein Ganzes bilden, verhält es sich mit dieser „Paradies“-Inszenierung wie mit Platons „Höhlengleichnis“: wir sehen nur die blassen Schatten der Ideen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/09/25/paradies-christopher-ruping-thalia-theater-kritik/
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