Tod eines Handlungsreisenden - Sebastian Nübling inszeniert Arthur Millers Drama am Thalia Hamburg als assoziativen körperlichen Lebenswettkampf
Bälle fliegen um die Ohren
von Stefan Schmidt
Hamburg, 26. November 2017. Nach gut zwei Stunden ist Willy Loman endlich tot. Quälend langsam ist er bei lebendigem Leib gesellschaftlich dahin gesiecht, dieser (nicht nur namentlich) kleine Kerl in seinem beigefarbenen Sack von einer Handelsvertreteruniform. Dutzende Male hat er sich die viel zu schlecht sitzende Brille Marke Kassengestell wieder nach oben auf die Nase geschoben an diesem Premierenabend am Hamburger Thalia Theater. Den richtigen Durchblick im (Geschäfts-)Leben haben aber immer nur die anderen behalten, obwohl Willy Loman wirklich gekämpft hat. Total Loser. So sad! Wie mancher heute zynisch twittern würde.
Spielsystem einer gegen alle
Aus deutscher Sicht ist es ohnehin kaum noch zu fassen, dass in Arthur Millers "Tod eines Handlungsreisenden" ernsthaft jemand an die Versprechen des amerikanischen Traums glaubt. Sozialer Aufstieg und Glück frei Haus für jeden, der sich nur ordentlich anstrengt und eine Portion Talent hat? Das mag es ja vielleicht manchmal im Sport geben, aber auch da gilt bekanntlich: Nur keine Schwäche zeigen. Wer zu gelegentlichen Weicheiausfällen neigt wie Lomans Sohn Biff, dem knallt vorhersehbar irgendwann mal ein Tischtennisball frontal an den Kopf. So zumindest in der Hamburger Inszenierung. Und wer die Aufschläge des Lebens gar nicht mehr pariert wie Vater Willy, dem fliegen die kleinen weißen Bälle in schöner Regelmäßigkeit direkt von der Tischtennisplatte bösartig um die Ohren.
Es ist eine naheliegende, aber in der konkreten Umsetzung ungemein assoziative Bildebene, die Regisseur Sebastian Nübling für seine Inszenierung von Millers Charakterstudie eines in Lebenslügen verstrickten Durchschnittsamerikaners aus der Mitte des 20. Jahrhunderts findet. Der ältere Sohn Biff wächst auch deshalb als Hoffnungsträger seines Vaters heran, weil er ein kraftvoller Athlet ist, dem soziale Anerkennung sicher zu sein scheint. Im Thalia Theater hat alles, was mit Sport zu tun hat, dagegen von vornherein etwas Freudloses oder gar Bedrohliches, kein Spiel miteinander, sondern ein Wettkampf gegeneinander, alternativ gegen eine Joola-Tischtennisballmaschine, die ihre runden Herausforderungen zu Beginn in unerbittlichem Rhythmus klackend auf die Bühne spuckt. Ein System, in dem der Einzelne nur bestehen kann, wenn er stark ist oder zumindest Stärke vorgaukeln kann.
Hoffnungsträger mit Schulterpolstern
Wie beim American Football: Ein ganzes Zehn-Mann(!)-Team an Statisten hat Ausstatter Amit Epstein in tiefschwarze Spielermonturen gesteckt und auf die düstere Bühne von Evi Bauer geschickt. Da stehen sie dann eingefroren in Formation oder sitzen auf der Tribüne im Hintergrund und könnten mit ihren gepolsterten Schultern und den martialischen Helmen auch Spezialeinsatzkräfte auf dem Weg zum nächsten Gefahrenschauplatz sein. Gruselig im kühlen weißen Licht – wenn sie etwa abgegriffene, hohle Motivationsklischees skandieren wie "You only fail when you stop trying!"
Biff hat da schon längst aufgegeben, hat bei der Matheabschlussprüfung versagt und anschließend auch noch den Vater beim Fremdgehen erwischt. So steht Schauspieler Sebastian Rudolph als hoffnungsloser Hoffnungsträger der Familie Loman allein in weißem Footballoberteil gegen die schwarze Masse des Statistenteams. Verloren und verlassen. Ein starkes Bild! Wie so viele in dieser Inszenierung.
Blind durch greifbare Realitäten
Noch stärker ist das Ensemble, in jeder Rolle und in allen denkbaren Disziplinen. Sebastian Rudolph und Alicia Aumüller beweisen gar athletisches Geschick, wenn sie sich gekonnt an der überlangen Table Dancing-Stange in der Bühnenmitte abarbeiten. Es geht aber auch unsportlicher: Wie sehr entblößt sich etwa dieser Willy Loman des Kristof Van Boven, wenn er bei seinem Chef (bzw. in der Inszenierung: bei seiner Chefin) vorgeblich selbstbewusst um Job und Existenz kämpft und dabei unvermittelt in eine Virtual Reality-Konferenz gerät! Ganz lässig nebenbei verpasst ihm da die schnell wandelbare Alicia Aumüller, dieses Mal als toughe Businessfrau im Hosenanzug, eine High Tech-Brille, woraufhin der verzweifelte Handlungsreisende nurmehr verwirrt tapselnd durch die Gegend wankt. Noch blinder für die greifbare Realität als vorher.
Überhaupt dieser Kristof Van Boven. Was für eine geglückte (Be-)Setzung! In Wirklichkeit ist der Mann gerade mal etwas älter als die Figur des Biff, also seines Spielsohnes in der Inszenierung. Aber was stört das schon? Sein Willy Loman ist ohnehin alterslos alt, vermutlich nie jung gewesen. Auf allen wechselnden Zeitebenen, die zu erzählen sind, hat dieser Getriebene schon längst atemlos den Wettlauf mit dem Leben, das er sich wünscht, verloren - auch wenn er ihm immer weiter hinterherrennt. Hilflos rudert Van Boven mit den Armen, springt zwischendurch aktionistisch aufgeregt auf und ab und verschanzt sich hinter einer Grünpflanze auf seinem Schoß, als die Lage allzu unangenehm zu werden droht.
Sportliche Ensembleleistung
Freunde und Förderer gewinnt er damit kaum, obwohl er ihnen doch so sehr hinterher hechelt. Und seine Kinder zieht er auch auch noch in diesen sinnlosen Beliebtheitsmarathon mit hinein. Ein Mann, der wider Willen sich selbst und seine Söhne zerstört, indem er sich an verlogenen Idealen abarbeitet. Das geht bei Van Boven ziemlich nah.
Es ist ein Familiendesaster, das Regisseur Sebastian Nübling mit diesem Drama des amerikanischen Traums auf die Bühne bringt. Eine Geschichte überzogener Erwartungen, falscher Hoffnungen und unerfüllter Liebessehnsucht, eine Geschichte vom Kampf um Anerkennung. Sensibel erzählt, berührend und dabei erstaunlich unterhaltsam. Eine sportliche Ensembleleistung!
Tod eines Handlungsreisenden
von Arthur Miller Deutsch von Volker Schlöndorff und Florian Hopf
Regie: Sebastian Nübling, Bühne: Evi Bauer, Kostüme: Amit Epstein, Musik: Lars Wittershagen, Dramaturgie: Julia Lochte.
Mit: Alicia Aumüller, Kristof Van Boven, Marina Galic, Tim Porath, Sebastian Rudolph, Rafael Stachowiak und dem "Team Loman" (alternierend): Berkay Bilgin, Ingmar Grapenbrade, Nils Hansen, Jarryd Haynes, Yann Mbiene, Bünyamin Pamukbasanoghi, Luca Pawelka, Lennart Packmor, Otis Packmor, Helge Rabe, Eike Reinke, William Schmidt, Laurence Volquardsen, Viet Thanh Tran.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.thalia-theater.de
"Pingpong: Ein scheinbar harmloses Spiel des Hin und Her. Die beiden Söhne spielen es unermüdlich", so Werner Theurich in Spiegel online (26.11.2017). Das Tischtennis-Workout laufe schon, wenn das Publikum langsam ins Theater tröpfele, und "sie spielen bis zur Erschöpfung. Biff klappt denn auch mit hartem Aufschlag seines Kopfes auf der Platte zusammen. Es wird nicht der letzte Zusammenbruch des Abends bleiben." Alles, was auch nur entfernt an Ver.di-Demo, Talkshow oder visuell an gesellschaftlichen Umbruch erinnere, finde zunächst nicht statt. "Die große, weite Bühne (spartanisch, aber effizient von Evi Bauer gestaltet) versinnbildlicht die große Leere im kleinen Mann Willy Loman." Kristof Van Boven verpasse der Rolle, wie immer, wenn er im Moment am Thalia spiele, "ein völlig neues, oft verstörendes Profil". Lediglich einmal breche "die beinharte digitale Neuzeit in die Handlung ein" als Firmenboss Howard mit einer topmodischen Virtual-Reality-Brille auftritt. "Die einzige Aktualität in einer Inszenierung, die bewusst auf Zeitlossigkeit setzt und damit verblüffent punktgenau landet."
Von einer "aufregend-packenden Inszenierung" spricht Irene Bazinger in der FAZ (27.11.2017) Arthur Millers Figuren erscheinen der Kritikerin darin "lebendig, unverstaubt und hochgradig kunstvoll". Sebastian Nübling Zugriffs auf den Stoff sei "transparent und spannend als raffinierte Mischung aus Parabel und Match". Zwar sei alles auch schnell erfasst und durchschaubar. "So konzentriert und verdichtet allerdings, wie das bravouröse Ensemble in Sebastian Nüblings kluger Regie aufspielt, wird daraus ein dramatisches, intensives, abgründiges, manchmal amüsantes Familienkatastrophenporträt."
Nübling nehme die abgestürzten Mittelschichtler in seiner "einer unerbittlichen, sehr körperlich-sportiven Lesart" des Stoffs wohltuend ernst, schreibt Annette Stiekele vom Hamburger Abendblatt (27.11.2017). 1949 vor dem Hintergrund von Depression und einer sich wandelnden US-Arbeitswelt geschrieben, habe Arthur Millers Stück heute, "in Zeiten von Selbstoptimierung und in einer Leistungsgesellschaft, die schon Grundschüler erfasst, nichts von seiner Dringlichkeit verloren. " Auch als Ensembleleistung wird der Abend sehr gelobt.
Nübling habe das Stück "als Ping Pong-Theater für die Fitness-Generation eingerichtet", so Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (28.11.2017). Doch sei "diese Wiederholung einer Gesellschaftsmetaphorik, die Lebenskampf mit Leistungssport gleichsetzt", so wenig inspiriert "wie die ganze Standardinszenierung". In der "artifiziellen Allgemeingültigkeit" werde die Geschichte "zur Fake-Dramatik".
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