Das Unrecht des Schwächeren

19. Januar 2024. Inflation, bröckelnder Rechtsstaat und antidemokratische Verschwörungen: Wenn man will, kann man von Hans Falladas Roman "Wolf unter Wölfen" einige Parallelen ins Heute ziehen. Luk Perceval hat sich für die Zeitlosigkeit entschieden und seinem tollen Ensemble eine Billard-Ausrüstung mitgegeben.

Von Andreas Schnell

Falladas "Wolf unter Wölfen" in der Regie von Luk Perceval am Thalia Hamburg © Armin Smailovic

19. Januar 2024. Wolfgang Pagel, ein junger Mann, verzockt das bisschen Geld, das er braucht, um seine Freundin zu heiraten, in einem illegalen Kasino. Dort trifft er auf zwei alte Bekannte aus dem Krieg und landet mit ihnen auf einem Gut auf dem Land, wo der eine sich nicht nur mit einem erpresserischen Pachtvertrag herumzuschlagen hat, sondern auch mit seiner abenteuerlustigen 15-jährigen Tochter und diversem störrischen Personal. 

Literatur für Kapitalismuskrisenzeiten

Und weil es zwar jede Menge Arbeitslose gibt, aber keine Erntehelfer, soll eine Gruppe Insassen des nahegelegenen Gefängnisses aushelfen. Und dann treibt sich auch noch eine Truppe aufsässiger Militärs in der Gegend herum, die einen Umsturz plant. Das ist in etwa die Geschichte, die Hans Fallada in "Wolf unter Wölfen" erzählt. Und das kann kaum ein gutes Ende nehmen, weil in Zeiten der Hyperinflation niemand niemandem etwas gönnt. Jeder kämpft für sich allein.

Sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr: Sebastian Zimmler als Wolfgang Pagel © Armin Smailovic

Dass Falladas Romane immer mal wieder den Nerv der Zeit treffen, dafür sorgt zuverlässig der Kapitalismus mit seinen Krisen. "Kleiner Mann, was nun?", "Bauern, Bonzen, Bomben" oder eben "Wolf unter Wölfen", das Luk Perceval jetzt am Hamburger Thalia-Theater inszeniert hat, finden auch zuverlässig ihren Weg auf die Bühnen. Inflation, Arbeitslosigkeit, ein Putschversuch enttäuschter Nationalisten – all diese Elemente des Romans erinnern unangenehm an die Gegenwart. An der Oberfläche zumindest. Das politische und materielle Elend stellt sich heute dann doch noch etwas anders dar. Weshalb Perceval, der schon einige Fallada-Stoffe bearbeitet hat, gut daran tut, auf allzu offensichtliches Winken mit dem Zaunpfahl zu verzichten. 

Billard im Nebel

Auf der Bühne von Annette Kurz sehen wir zeitlos schöne Bilder, große weiße Kugeln, die symbolträchtig für das Roulettespiel stehen, dem Falladas Protagonist verfallen ist. Aber auch für den Wettbewerb, den nur einer (oder eine) gewinnen kann: als nur noch eine Kugel übrig bleibt, die von langen Stangen umringt ist. Billard-Queues vielleicht, aus denen später der Wald um das Gut Neulohe wird, wo der wesentliche Teil der Handlung spielt, während die verbliebene Kugel zum Mond wird. 

Wolf unter Woelfen3 1200 Armin Smailovic uDie Übermacht der Billardkugel: Sebastian Zimmler als Spieler Wolfgang Pagel © Armin Smailovic

Nebel gibt es auch, gegen Ende immer mehr. Was ein bisschen mit der im zweiten Teil des Abends einsetzenden Komplexität der Geschichte korrespondiert. Hier kann sich verlieren, wer seinen Fallada nicht gründlich gelesen hat. Aber das ist gar nicht so entscheidend. Denn das Ensemble hält das Publikum meistens in seinem Bann. Das von Fallada auf über 700 eng bedruckten Seiten entfaltete Gesellschaftspanorama muss auf der Bühne wiewohl auf einiges an Erzählsträngen und Figuren verzichten. Und auch auf deren liebevoll gezeichneten Untiefen. Aus den vielen Perspektiven des Romans wird im Grunde eine einzige: die von Wolfgang Pagel, aus dem "Er" wird ein "Ich".

Recht und Macht

Perceval gleicht das durch eine liebevolle Überzeichnung der Figuren bis ins Groteske aus, ohne dabei in Klamauk zu verfallen oder sie zu verhöhnen. Im insgesamt tollen Ensemble begeistern vor allem Sebastian Zimmler als lebenshungriger Wolfgang Pagel und Oda Thormeyer als staubtrockener Gutsverwalter von Studmann, der versucht, zusammenzuhalten, was Rittmeister von Prackwitz (Tilo Werner) immer wieder mit dem Hintern einreißt. Dieser bringt sein Rechtsempfinden als vielleicht unsympathischste Figur des Abends so auf den Punkt: "Wenn ich Recht habe, muss ich nichts beweisen." Worauf von Studmann erwidert: "Der Schwächere ist immer im Unrecht."

Wolf unter Woelfen4 1200 Armin Smailovic uSie heulen mit den Wölfen: Luk Percevals Ensemble im Bühnenbild von Annette Kurz © Armin Smailovic

Auf ein Happy End, wie der Roman es Pagel und seiner Petra zumindest auf bescheidenem Niveau gönnt, müssen wir an diesem sehenswerten Abend verzichten. Pagel, dem irren Spuk glücklich entronnen, läuft und läuft und läuft. Ob er jemals bei seiner Petra und dem gemeinsamen Kind ankommen wird, erfahren wir nicht. 

 

Wolf unter Wölfen
nach dem Roman von Hans Fallada
Regie: Luk Perceval, Bühne: Annette Kurz, Kostüme: Ilse Vandenbussche, Musik: Philipp Haagen, Rainer Süßmilch, Choreografie: Ted Stoffers, Dramaturgie: Christina Bellingen.
Mit: Sebastian Zimmler, Oda Thormeyer, Tilo Werner, Gabriela Maria Schmeide, Anna Maria Köllner, Oliver Mallison, Tim Porath, Kristina-Maria Peters, Cathérine Seifert, Michael Wolff.
Premiere am 18. Januar 2024
Dauer: 3 Stunden 20 Minuten, eine Pause

www.thalia-theater.de

 

Kritikenrundschau

"Der Anfang ist wunderschön", so Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (20.1.2024). Bühnenbildnerin Annette Kurz habe fünf weiße Plastikbälle platziert, "schöne, runde Dinger, die schnell eine Bedeutung erhalten". Irritierend aber sei, dass sich Regisseur Luk Perceval "für die Gegenwart nicht zu interessieren scheint. Seine Inszenierung von 'Wolf unter Wölfen' ist hermetisches Kunstgewerbe." Perceval habe eine seltsame Freude daran, allen Spielenden aufzutragen, aus ihren Figuren alberne Popanze zu machen. "Vor 20 Jahren erfand Perceval in seiner "Othello"-Inszenierung mit dem Pianisten Jens Thomas ein akustisches Bühnenbild. Was er nun machen lässt, wirkt wie reine Reminiszenz, abgestandene Erinnerung, zahnlos wie die lange Bühnenerzählung selbst, die letztlich ein grandioses Sedativum ist. So viel Mühe, so wenig Ertrag!"

"Die offensichtlichen Gegenwartsbezüge - Inflation, Umsturzfantasien, gefährliche Minderwertigkeitskomplexe, Empathielosigkeit - laufen eher subkutan mit", so auch Maike Schiller im Hamburger Abendblatt (20.1.2024). Aber die Kritikerin ist angetan: Zelebriert werden die genau gearbeiteten Eigenwilligkeiten der verschiedenen Figuren. Handwerklich sei es eindrucksvoll, wenn Perceval parallele Dialoge gekonnt verschneidet, sich Geräusche, Rhythmen, Musik, Nebel, Choreografie, ein sehr präzise gesetztes Licht  kunstvoll zunutze macht. Fazit: Ein düsterer, trotzdem unterhaltsamer, spielfreudiger und ausgesprochen ästhetischer Abend.

"Luk Perceval, der die ersten Jahre der Intendanz von Joachim Lux maßgeblich prägte, kehrt mit Hans Falladas Roman 'Wolf unter Wölfen' einmalig ans Thalia-Theater zurück - und wie!", schreibt Heiko Kammerhoff in der Hamburger Morgenpost (20.1.2024). Dass sich manche Themen in der Gegenwart spiegeln, mache das Stück umso unmittelbarer. "Ein starkes Stück Erzähltheater, das ästhetisch wie emotional überzeugt und dabei sogar für heitere Momente sorgt. Absolut sehenswert!" 

 

Kommentare  
Wolf unter Wölfen, Hamburg: Überwältigende Bilder
Luk Perceval hat Hans Falladas “Wolf unter Wölfen“ in der Fassung von Christina Bellingen und L. Perceval inszeniert. „Wolf unter Wölfen“ ein Roman der Epoche der neuen Sachlichkeit ist charakterisiert durch seine Vielstimmigkeit und Multiperspektivität, bestehend aus einem Haupthandlungsstrang und zahlreichen Nebenhandlungen. Die Erzählweise des Romans ist meist personal mit auktorialen Einschüben, was direkte Entsprechung zur piktoralen Internalität und Externalität schafft und genau diese piktorale Kraft des Romans nutzt Perceval in seiner Inszenierung, indem er mit starken Bildern das Publikum in den Bann zieht. Er erzählt die Story einer Welt am Abgrund, in der sich der Mensch nicht mehr orientieren kann und ziellos umherirrt und die Flucht aus dem Dickicht der Stadt in die illusionistische Idee der heilbringenden Natur sucht aber nur in ein noch undurchdringlicheres Dickicht der Natur gelangt. Pagel (S. Zimmler) erzählt und durchlebt diese Zeiten in starken Bildern der Haupt- und Nebenhandlung, was Tür und Tor für skurrile komödiantische Passagen eröffnet, um den Weg in den Abgrund auf absurde Weise zu verdeutlichen. Pagel ist der ständig Getriebene auf der Suche nach Sinnhaftigkeit. Hoffnung nach Liebe oder Sehnsucht nach Liebe treiben ihn ruhelos durchs Leben. Die für diese Story nötige Kraft der Bilder gewinnt Perceval aus der Dreieinigkeit von Musik, Sprache und Bildern, was zu einer Dimension des Ausdrucks führt, die weit mehr ist als die Summe der Einzelteile. Bereits der Beginn ein großes Bild. Fünf riesige weiße Bälle auf leerer sich drehender Bühne und ein jazziges Trompetensolo. Pagel marschiert gehetzt am Rande der sich drehenden Bühne und genauso gehetzt führt seine Sprache in die Geschichte ein. Nach und nach erscheinen auf der sich drehenden Bühne die weiteren Protagonisten des Stückes wie auf einem Karussell. Die musikalische Untermalung verstärkt die Ruhelosigkeit und Getriebenheit der Szene. Vielleicht das Highlight des Abends, das Pas de Deux Pagels mit der riesigen Roulettekugel. Die Interaktionen von Pagels mit der Roulettekugel verdeutlichen perfekt die Sucht des Spielers nach dem dionysischen Rausch des Spiels. Ständig wechseln Perspektiven, alles ist in dauernder, ruheloser Bewegung. Dann verlässt Pagel den Moloch Stadt und geht aufs Land. Die Natur ein Labyrinth aus blattlosen Bambusstämmen, einem toten Hirsch und die Roulettekugel jetzt als Mond am schwarzen Bühnenhimmel. Ein weiteres starkes Bild ist der sexualisierte Übergriff des Dieners Hubert (O. Mallison) auf Violet (A.M. Köllner). Durch die „diskrete“ fast belanglose Darstellung wird die Brutalität der Tat unmittelbar spürbar. Fast wie ein düsteres Gemälde von Goya die mit Kapuzen arbeitenden Männer in nebliger Nacht, die von Putschisten erschossen werden. Das Ensemble überzeugt in allen Rollen, dennoch möchte ich besonders erwähnen T. Werner in seiner skurrilen, komödiantischen Nummer als Ganter, die ihre Wirkung durch sein dezentes Spiel voll entfaltet und A.M. Zöllner die durch ihr unbekümmertes, herausforderndes Spiel jugendlicher Lebensfreude überzeugt. Der Reigen schließt sich, wenn Pagels wieder auf dem Rand der sich drehenden Bühne gehetzt dahin marschiert und die Protagonisten wieder auf der sich drehenden Bühne erscheinen. Alle sind sie Opfer einer Welt am Abgrund und auf dem ewigen Weg ins Ungewisse getrieben von Hoffnung. Letztendlich findet Pagels Ruhe und sinniert über sein Leben. Als junger Mensch glaubte er, das Vergangenes vergangen sei und jeder neue Tag ein Neuanfang sein könnte. Doch nun sei im klar, dass das Leben eine Kette sei und jede Erfahrung ein weiteres Glied der Kette ist, die wir ein Leben lang mit uns herumtragen. Perceval hat sein Publikum behutsam an diese dystopischen Wahrheiten unserer Welt herangeführt und uns mit uns, der Bestie Mensch, konfrontiert, die mal wieder auf dem Weg zum Überleben droht alles zu vernichten. Großes Theater mit überwältigenden Bildern.
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