Prinz Friedrich von Homburg - Juliane Kann inszeniert Kleist am Staatstheater Darmstadt mit einem versteinerten Prinzen
Was dürfen wir sehen?
von Marcus Hladek
Darmstadt, 6. Dezember 2014. Fast auf den Monat vor fünfzig Jahren erreichte ein Pariser Bannstrahl das Theater Darmstadt: Jean Genets Aufführungsverbot für seine "Neger". Intendant und Regisseur Gerhard Hering ignorierte es. Die "Neger" mit angeschwärzten weißen Schauspielern zu machen, missfiel Genet prinzipiell. 2014 geht es in Darmstadt erneut ums Prinzip der Inklusion – oder geht es doch nur um eine Selbstverständlichkeit? Zwei körperbehinderte Schauspieler, so die Lage unter Intendant Karsten Wiegand und Schauspieldirektor Jonas Zipf, spielen fest im Ensemble mit: Jana Zöll, eine Schauspielerin mit Glasknochenkrankheit, und Samuel Koch, der sich 2010, im damals ersten Jahr an der Schauspielschule, bei "Wetten, dass..?" arg verletzte und seitdem querschnittsgelähmt ist.
Hoch zu Ross
Samuel Koch spielt den Prinz von Homburg. Im Kleinen Haus thront der General der Reuterei eingangs als Reitermonument seiner selbst hoch zu Ross über einem Denkmalssockel aus Holz. Juliane Kanns Bühne (Kann führt auch die Regie) und Josephin Thomas' Kostümen (weiß, mit goldenem Kranzmuster beim Kurfürsten und bei Nichte Nathalie) ist es eingeschrieben, dass das blühende, organische Leben von Hufen und Füßen aufwärts zu Marmor, Gips oder Stuck versteinert. Von den Gesichtern blättert weiße Farbe; nur Homburgs Antlitz nimmt den fantasierten Ruhm vergoldet vorweg.
Getragen und gelegt
Koch spricht und intoniert, ist Herr seiner Mimik und in engen Grenzen seiner Arme. Nicht aber seiner Beine und, außer im Rollstuhl, der Bewegung im Raum. Das macht "Verkörperung" unmöglich – oder intensiviert sie eben gerade: durch eine List der Repräsentationsvernunft. Koch wird getragen, ab-, um- und aufgesetzt, gelegt, von Prinzessin Nathalie (Katharina Hintzen) in Seitenlage gewälzt, von Freund Heinrich (Mathias Znidarec) und Freund Kottwitz (Nicolas Fethi Türksever) kumpelhaft umfasst; auch mit Wasser versorgt. Vor allem hat er einen schwarzen "Schatten" (Tim Wiebus), der in der reduzierten Besetzungsliste mit ihm in einer Zeile steht und ihm, fast wie ein japanischer Puppenspieler, Körperliches abnimmt: beim Tausch der Blicke, beim Hantieren mit Handschuh oder Briefen.
Im Gestrüpp
Fein. Aber muss man einen Grundsatzkasus aus dem "Inklusionstheater" machen? Muss man sich als Zuschauer, erst recht als Kritiker, "positionieren"? Wie etwa jener Kritiker, der 1985 über Peter Radtke (Glasknochenkrankheit) in George Taboris "M" schrieb, er stehe "außerhalb jeder Theaterkritik".
Auf der andern Seite steht die neuere Austheoretisierung des Begriffs und Phänomens "Inklusionstheater". Müssen wir uns aber in und durch dies Gespinst begeben: den eigenen Blick in Frage stellen, uns als Voyeure einer Freakshow beargwöhnen, uns schämen, wenn uns Jana Zöll im "Kaufmann von Venedig" rührte oder wir immer auch Koch, nicht nur Homburg sehen? Gibt es einen kulturellen Druck, uns etwa der emanzipatorischen Schulmeinung zum "Inklusionstheater" anzuschließen und uns einer andern zu verweigern? Lauert im akademisch-hochgestimmten Wortgestrüpp der Zensorenstift? Oder dürfen, können wir Kochs Homburg "unschuldig" sehen, bestaunen, gutheißen, auch: verwerfen?
Aus Beschränkung wächst Freiheit
In Darmstadt, wo von "Inklusionstheater" nie die Rede, nur die Praxis ist, gilt scheinbar der Grundsatz: Stuckweiß ist alle Theorie, doch golden blüht das grüne Holz der Szene. Oder, aus kritischer Sicht: Scheiß drauf! Mit Kochs Behinderung arbeiten Kann, Koch und das Ensemble genauso, wie mit anderen Voraussetzungen auch. Nein, stimmt nicht: Sie setzt mehr in Bewegung. Stellt der thematischen Versteinerung des Militärgesetzes und seiner romantisch-heroischen Subversion ein Körperbild zur Seite, insofern Koch auf eigene Weise "versteinert" ist. Auch problematisiert sie Bewegung, wenn diese Militärs in Zeitlupe durch den Raum wachsen, und wird, sorry, anrührend, da sich die Geliebte, gespielt von der wohlbegabten Katharina Hintzen, an den beinahe Reglosen anschmiegt. Kurz, die Behinderung ist und gibt Anstoß: zwingt Körpersprache und Ideenfindung spezifisch zum Auskristallisieren.
Kochs Homburg merkt man in alledem bereits die Gedanken an, die er sich über seine Möglichkeiten gemacht haben muss. Wer erwartet, dass er mit dem stärksten Pfund, seiner Stimme und Intonation, donnernd wuchern würde, stellt fest, dass er und/oder die Regie sich für eine verhalten nüchterne, eine matter-of-fact Tonlage entscheidet. Immer ist die Bewegungseinschränkung mitgedacht, doch ist es wie mit dem Korsett des Blankverses bei Shakespeare: Was zunächst nur einengt, wird zur paradoxen Quelle der Freiheit. Wenn Theater aus seiner Ambivalenz von körperlicher Präsenz und ab-/anwesendem Text lebt, bietet das Verfahren "Inklusion" durchaus reizvolle neue Schlüssel an.
Prinz Friedrich von Homburg
von Heinrich von Kleist
Regie und Raum: Juliane Kann, Kostüme: Josephin Thomas, Video: Jonas Alsleben, Dramaturgie: Stawrula Panagiotaki, Licht: Jonathan Pickers.
Mit: Frank Albrecht, Katharina Hintzen, Samuel Koch, Tim Wiebus, Mathias Znidarec, Nicolas Fethi Türksever.
Dauer: 1 Stunde und 40 Minuten, ohne Pause
www.staatstheater-darmstadt.de
Mehr: Für den kommenden Mai ist in Darmstadt ein zweiwöchiges Inklusionsfestival geplant, mit Symposium und wissenschaftlicher Begleitung. Daran wird auch das Staatstheater Darmstadt mitwirken.
"Nicht nur die 'Bild'-Zeitung wusste schon vorher, dass es großartig wird", schreibt Martin Eich in der Allgemeinen Zeitung der Rhein-Main-Presse (8.12.2014). "Wir wissen es nachher besser." Die Aufführung sei ein Wechselspiel aus Gelingen und Scheitern. "Der Großteil des Ensemble und die Konzeption Juliane Kanns leuchten, Samuel Koch verdunkelt." Was nicht an seiner körperlichen Beschränkung liege: Die werde klug auf den Rest des Ensembles übertragen "und damit ihrer theatralen Abnormalität beraubt, weil Bewegungen entschleunigt, Gesten eingefroren werden". Die Virtuosität von Juliane Kanns Regiekonzept könne aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Koch das Problem dieser Inszenierung sei. "Seine sprachlichen Fähigkeiten sind unterdurchschnittlich, Gestaltungsvermögen und Betonung kaum vorhanden. Egal, ob Friedrich den Sieg über die Schweden feiert, sein nahendes Ende beklagt oder Koch die szenischen Hinweise Kleists rezitiert: es klingt alles gleich." Dieses Defizit werde noch verstärkt, weil das Rest-Ensemble stimmlich zu Hochform auflaufe.
"Die Regisseurin folgt einem Konzept, das nicht nur Samuel Koch, der den Prinzen gibt, entgegenkommt, sondern sich auch als zum Stück passend erweist", lobt hingegen Andrea Pollmeier in der Frankfurter Rundschau (8.12.2014). "Die ungewöhnlichen Positionswechsel geben den Worten oft besonderes Gewicht. Sie wirken hier stärker strukturgebend als die Szenenabfolge." Die für den Prinzen charakteristische Bewegungslosigkeit habe für die Inszenierung zentrale Bedeutung. Je länger der Prinz reglos und mit leiser Stimme spreche, desto mehr Präsenz erhalte sein Gegenüber. "Besonders spürbar wird dies in der Szene, in der Prinzessin Nathalie (hervorragend: Katharina Hintzen) den Prinzen dazu bringen will, die mögliche Begnadigung anzunehmen." Keinerlei körperliche Regung gehe in diesem Moment von ihm aus. Aber je ruhiger er sei, desto fassungsloser werde Nathalie. "Das Gefühl von Passivität und Ausgeliefertsein wird so nahezu unerträglich."
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Schade!
Ich ahnte um die komplizierte Geschichte und war deshalb bemüht, dem Inhalt zu folgen. Doch stockte ich an einzelnen Sätzen, wie z.B.:
"Wäre ich ein Tyrann, könnte ich ihn begnadigen."
Das will erstmal in seiner Tragweite begriffen sein.
Mir hats deshalb gefallen, weil ich auch nach dem Stück noch darüber nachdenken kann und mich sowohl einzelne Szenen (bzw. Nebenhandlungen) als auch die Gesamtaussage beschäftigen.
Mit vielen Besuchern auf der Premierefeier konnte ich dies Empfindungen teilen. Ein wundervoller Abend mit Nachwirkung.
(Mit der offiziellen Kritik oben kann ich nichts anfangen, was vielleicht daran liegt, dass ich selten ins Theater gehe. Aber wäre es nicht schön, wenn Theater auch oder gerade für solche Besucher zugänglich wird und "Kritik" verständlich formuliert wird)
Ich denke der Kritiker hätte sich ruhig an "Darmstadts" Grundsatz halten können und sich eher mit der Inszenierung auseinandersetzen können als Inklusion im allgemeinen abzuhandeln.
Gerade weil diese Inszenierung uns eine Geschichte erzählt und einen das Thema Inklusion eigentlich eher vergessen lässt.