Die Ratten - Steffi Kühnert gibt ihr Regiedebüt am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin mit Gerhart Hauptmann
150 Prozent Emotion
von Michael Laages
Schwerin, 6. Januar 2017. Wo soll’s denn losgehen? Wie und womit? Die Fragen stellen sich für Debütanten immer; speziell aber dann, wenn die Jung-Talente gar nicht mehr so jung sind und schon die eine und die andere Karriere hinter sich haben. Nicht grundlos fand der erste Auftritt des Nachwuchs-Regisseurs Herbert Fritsch fernab vom Mainstream der Metropolen statt: in Luzern. Und die mittlerweile in Fernsehen und Film sehr präsente Schauspielerin Steffi Kühnert, einst eine der prägenden Persönlichkeiten auf den Bühnen deutscher Nachwende-Zeit im Theater von Leander Haußmann, hat die erste Aufgabe als Regisseurin eben nicht daheim in Berlin absolviert (wo sie ja auch unterrichtet), sondern in Schwerin. Gut so. Hier wird Talent nicht so schnell zum Hype, aber eben – je nachdem – auch nicht gleich zerrissen und verbrannt; hier wird es ernst genommen.
Schaffen wir das?
Und wie übrigens auch Fritsch auf dem Weg durch deutsche Provinzen auf früher Station in Schwerin, hat sich Steffi Kühnert bei einem deutschen Klassiker von vor gut hundert Jahren bedient: bei Gerhart Hauptmann. "Die Ratten", jene 1911 uraufgeführte Tragödie aus einer Berliner Mietshaus-Kaserne, in der sich ein Mutterschicksal verbirgt wie später in Brechts "Kaukasischem Kreidekreis", wird viel zu oft leichthin als Fingerübung genutzt für den Nachwuchs – Kühnerts Team aber nimmt sich das vertrackte Stück mit wuchtiger Pranke vor, fegt allen Staub aus der ollen Kamelle und haut uns ein Trauerspiel ganz von heute um die Ohren.
Kühnert modernisiert sehr sparsam: mit dem Deutschlandlied zur Eröffnung, zeitgenössisch hingeschnulzt in modischer Pop/Soul/Jazz-Mixtur. Wer genau hinhört, bemerkt sicher auch im Schluss des Gesangs die englische Frage an uns alle: Schaffen wir das, wie Mutti meint – die Herausforderung im Fremden und im zivilisierten Umgang mit dem stetig wachsenden neuen sozialen Prekariat? Auf zwei Bänken vor der Kellerwand hockt die bieder-brave Bürger-Bande zu Beginn, und das ungewollt schwangere polnische Mädchen am Rand kommt uns durchaus nicht nur fremd vor, sondern sehr bekannt. Ihr Drama treibt die Haus-Gemeinschaft in die Katastrophe.
Sie kommen aus dem Keller
Joachim "Hamster" Damm, mit Kühnert verbunden seit der großen Bochumer Zeit vor zwei Jahrzehnten, hat den Dachboden im Mietshaus zum Keller umgemodelt; hierher wird herab gestiegen von der kleinen Galerie oben an der E-Werk-Bühne in Schwerin, wo wir uns das Wohnzimmer der Putzfrau John vorstellen dürfen. Ohnehin sind "Ratten", die das ganze Haus zum Einsturz bringen könnten, eher im Keller vorstellbar – hier unten residiert im gedanklichen Fundus glücklicher Theaterlebenszeiten der alte Direktor Harro Eberhard Hassenreuter; und Martin Brauer (zuvor Teil von Sebastian Hartmanns "anderem Stadttheater" in Leipzig) zaubert aus dieser immer besonders staubig tönenden Rolle eine wirklich dröhnend schöne Zeitgeist-Miniatur – ein übrig gebliebener Ex-Intellektueller, dessen Trauer über alles Vergangene sich in lärmendes Gezeter über die verkommene Gegenwart wandelt; als wäre Emanuel Striese (der aus dem "Raub der Sabinerinnen") einer Inszenierung von Jürgen Kruse entsprungen. Toll.
Aber alle öffnen wie er fast ohne Requisiten den Gedanken-Raum des Stückes, alle halten mit. Kühnert hat dem kompletten Ensemble 150 Prozent Emotion verordnet. Und selbst wer sich stimmlich dabei ein wenig übernimmt, donnert sich durch Hauptmanns immer auch ein bisschen schlimmes Kunst-Berlinerisch, dass die Fetzen fliegen: "Mutter" Jette John, die ja nie wirklich ein Kind hatte und nun das der randständigen Polin in wachsender psychischer Verirrung klaut – Kathrin Heinrich spielt das als Achterbahnfahrt zwischen kontrolliert und exaltiert; auch toll!. Und ihr Gatte Paul, der Maurer auf Dauer-Montage in Hamburg, der sich nicht zutraut, doch noch Vater geworden zu sein – Jochen Fahr, Schweriner Ur-Gestein, zeigt, wie sehr die Figur fatalerweise recht hat; und wie weh das tut – klasse!
Neues Feuer
Drumherum tobt das Mietshaus-Personal: der Hauslehrer von Hassenreuters hübschem Töchterlein, Pastorensohn und angehender Schauspielschüler, der mit dem künftigen Schwiegervater Fragen der Kunst erörtert – "Erfinden Sie das mal!" hält der dem Jungspund entgegen, als das Ausmaß der Kindstragödie absehbar wird. Der Schüler sieht übrigens aus wie John Lennon zur Yoko-Ono-Zeit – sehr komisch. Und Sidonie Knobbe, das Mädchen aus sehr prekärer Nachbarschaft, ist ein leicht abgeranzter Jung-Punk – auch das gehört zu Damms Ausstattung, jagt dem Stück neues Feuer unter die Haut.
In Fernsehspiel-Tempo rast das Sozial-Drama über die Bühne, und plötzlich spielt auch der Souffleur eine kleine Rolle … Mutter John geht still in den Tod, nachdem sie dem "Kindeken" noch das Glücks-Hufeisen vom mörderischen Bruder Bruno an die Tragetasche gelegt hat; Aus-dem-Fenster-springen (wie im Original) geht ja nicht im Keller. Als es dunkel ist, quäkt das Kind noch, batteriebetrieben … Steffi Kühnert hat dem ollen Hauptmann ganz viel abenteuerliche Überraschung zurück gegeben.
Und das Stück sieht plötzlich so modern aus wie es damals, vor 105 Jahren, ja gewirkt haben muss. "Die Ratten" also sind wie neu in Schwerin – und Steffi Kühnert (soviel Prophetie soll sein!) darf sich auf viele weitere schöne Regie-Aufgaben freuen.
Die Ratten
von Gerhart Hauptmann
Regie: Steffi Kühnert, Ausstattung: Joachim Hamster Damm, Dramaturgie: Nina Steinhilber.
Mit: Christina Berger, Martin Brauer, Rüdiger Daas, Hannah Ehrlichmann, Jochen Fahr, Katrin Heinrich, Stella Hinrichs, Flavius Hölzemann, Julia Keiling, Janis Kuhnt.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause
www.mecklenburgisches-staatstheater.de
Berührend werde gespielt, "mit eruptiven Emotionen in raschem Szenenwechsel", schreibt Manfred Zelt von der Schweriner Volkszeitung (9.1.2017). Kühnert inszeniere keine modische Performance, "sondern intensiv Dramatik nämlich Situationen, Konflikte, Nöte, Brüche. Menschenbilder also: wütend und plötzlich still, aggressiv und plötzlich mit zärtlicher Pose."
Dietrich Pätzold von der Ostsee-Zeitung (9.1.2016) schreibt, Kühnert lasse die Figuren in ihrem großartigen Regiedebüt Sprache mit maximaler Intensität herausschreiben, lasse sie hölzern, rabiat, mal solidarisch, dann brutal unsoldarisch gegeneinander handeln. "Und lässt mit dieser schonungslosen und unsentimentalen Konsequenz ihrer Inszenierung den Sound und Habitus des Prekariats zum Kunstereignis werden."
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