Neujahr - Theater Bielefeld
Wie man dem Sog des schwarzen Lochs entkommt
von Gerhard Preußer
Bielefeld, 21. November 2019. Die Erinnerung ist ein schwarzes Loch. Alles verschwindet darin. Und kommt verändert wieder hervor. Zwei Kinder kriechen in das Loch, weil sie glauben, so ihre Eltern retten zu können. Aber es ist nur ein Erinnerungsloch, in das sie stürzen. Ein Loch im Prospekt des Bielefelder Theaters am alten Markt. Die Katastrophe kommt kurz vor Ende der Bühnenversion von Juli Zehs Roman "Neujahr" und ist doch eigentlich keine.
Auf dem Vulkan
Juli Zehs Romane mit ihrer klaren Struktur, ihrer novellenartigen Konzentration auf einen einzelnen Konflikt, eignen sich für Bühnenversionen. In Bielefeld hat man sich nun ihren im letzten Jahr erschienenen Roman "Neujahr" vorgenommen. Zunächst beginnt es wie eine Kabarettshow. Eine Schauspielerin und ein Schauspieler treten vor die Mikrophone und schildern pointiert ihren letzten Familienurlaub. Lustige Videobilder wie aus Ferienhauskatalogen gibt es dazu im Hintergrund. Doch dann wird deutlich, der Mann, Vater von zwei Kindern, ist am Neujahrstag auf einem Fahrradtripp in der Vulkanlandschaft von Lanzarote. Auf der Bühne tritt er tatsächlich heftig in die Pedale, hinter ihm rauscht auf der Videoprojektionsfläche die düstere, schwarz-weiße Landschaft der Vulkaninsel vorbei. Er will der Überforderung als emanzipierter Vater entfliehen. Keine Karikatur, wirklich ein Mann mit besser verdienender Ehefrau, der seinen Beruf und den größeren Anteil an der Kleinkindbetreuung vereinen will. Ja, das gibt Stress auch für Männer. Aber irgendwie steckt da mehr hinter seinen Panikattacken.
Die Inszenierung von Dariusch Yazdkhasti lässt es zunächst beim Erzählen. Die Darsteller sprechen Erzählertexte in Mikrophone, deuten den Wechsel der sprechenden Figuren nur an. Erzähltheater, frontal zum Publikum, mit vielfältigen Mitteln visuell aufgearbeitet. Aber es bleibt bei der milden Berieselung im epischen Präsens.
Erst im zweiten Teil des Romans und der Theaterfassung kommt etwas Bühnenaktion ins Spiel. Henning, der Radfahrer, kommt unwillkürlich, ohne es klar zu wissen, am Ort seines Kindheitstraumas an. Er und sie (Leona Grundig und Lukas Graser), die vorher Mann und Frau waren, spielen nun die Geschwister, den vierjährigen Henning und die zweijährige Luna. Zur Verdeutlichung des Perspektivenwechsels werden ein riesiger Tisch, wie von Kinderhänden gezeichnet, und zwei überdimensionierte Stühle hereingeschoben. Die Welt von unten gesehen, aus Kinderperspektive. Die beiden stülpen immer mal wieder große Kindermasken über ihre Köpfe. Diese zwei Kleinen mit den großen Köpfen werden von ihren Eltern, die im Streit auseinandergehen, im Ferienhaus alleine gelassen. Es ist herzzerreißend zu sehen, wie sie sich durchschlagen.
Unten wohnt das Monster
Die emotionale Wirkung der Inszenierung beruht auch auf den Videos, die Bilder von kindlicher Einsamkeit in der düsteren Landschaft liefern, und auf den stummen Szenen, in denen die Kinder versuchen, sich Wasser und Lebensmittel zu beschaffen. Schließlich versuchen sie in die tiefe Aljibe, den Wasserspeicher, zu klettern, weil sie glauben, dort halte ein Monster ihre Eltern gefangen. Die schwarze Öffnung im Bühnenhintergrund ist ein schlichtes Symbol. Im Kleinkindgedächtnis haftet nichts, aber in der Tiefe bleibt das monströse Trauma der Verlassenheit.
Schließlich löst sich alles wie im Roman überraschend auf: Die erzählte Zeit springt wieder vor in die Erwachsenwelt nach dem Inselurlaub. In einem Gespräch des Radfahrers mit seiner Mutter wird alles erklärt. Sie war durch einen Unfall damals verhindert, sich um die Kinder zu kümmern. Aber der kanarische Gärtner und Liebhaber der Mutter hat die Kinder nach zwei Tagen gerettet. Nun kennt Henning die Ursache seines Traumas, seiner Panikattacken. Hilft das?
Die Inszenierung bietet dem Romanleser nichts Neues, und dem Nichtleser keinen Anreiz zu lesen. Aber sie befriedigt das Bedürfnis, das Leben als Geschichte zu erfahren, Kohärenz zu entdecken in dem Wust der zufälligen, inkommensurablen Ereignisse und unmerklichen Verschiebungen des Lebens. Man sieht ein normales Paar, entdeckt Abgründe, sieht alles sich wieder runden zu einem einigermaßen normalen Leben. Was will man mehr. "There is a chance peace will come, will come in your life", hört man zum Schluss und sieht unscharfe Super-8-Filmchen aus den 80er Jahren von zwei kleinen Kindern, die am Strand spielen. Was für eine unendlich tröstliche Botschaft! Braucht man sie wirklich?
Neujahr
von Juli Zeh (für die Bühne bearbeitet von Elisa Hempel und Dariusch Yazdkhasti)
Uraufführung
Regie: Dariusch Yazdkhasti, Bühne und Kostüme: Julia Hattstein, Video: Konrad Kästner, Dramaturgie: Elisa Hempel.
Mit: Lukas Graser, Leona Grundig.
Premiere am 21. November 2019
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.theater-bielefeld.de
Dariusch Yazdkhasti "ist mit 'Neujahr' eine fesselnde Inszenierung geglückt, die Handlungsebenen tragen plausibel", schreibt Heike Krüger in der Neuen Westfälischen (22.11.2019). "Das Duo Grundig/Graser bewältigt die abrupten Rollenwechsel bravourös, verkörpert alle Gefühlslagen glaubhaft. Ein Stück, das nachzeichnet, warum Menschen die wurden, die sie sind. Absolut sehenswert."
Die Herausforderung, den refelxiven und actionreichen Roman auf die Bühne zu bringen, haben Dariusch Yazdkhasti und Elisa Hempel hervorragend gelöst, so Heidi Wiese im Westfälischen Anzeiger (25.11.2019). Ihren Höhepunkt erreicht die Inszenierung mit einem wieder vergegenwärtigten Kindheitstrauma. Ein gelungener verblüffender Effekt sei auch, dass die Gegenstände fast unerreichbar groß werden, während die Darsteller mit Puppenköpfen wie hilflose Kleinkinder wirken.
Die Welt aus Kinderperspektive ist erschreckend, die Probleme unlösbar, schreibt Burgit Höttrich im Westfalen Blatt (25.11.2019). Die beiden Schauspieler verkörpern ihre Rollen absolut glaubhaft, udn dank ihnen sei der außergewöhnliche Riegieeinfall hervorragend gelungen.
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