Paare. Liebe ist eine schwere Geisteskrankheit - In einer Bielefelder Kollektivtherapie erobern sich die Fernsehserienfiguren von Johann Buchholz die Bühne
Beziehungswelt am Rande des Wahnsinns
von Karin E. Yeşilada
Bielefeld, 2. Juni 2017. Paartherapie im Theater am Markt in Bielefeld, der Stadt mit der gefühlt größten Therapeutendichte Deutschlands. Das Publikum blickt auf drei nebeneinander aufgereihte braune Ledersofas. Darauf tummelt sich jeweils drei Minuten lang ein Paar: Mal ganz weit voneinander entfernt in den außenstehenden Sofas, mal eng nebeneinander im Mittelsitzer.
Alle drei Minuten eine neue Paarkonstellation. Mal wetzen sie zu ihrem Sitzungsort, weil sie es kaum erwarten können, loszulegen, mal schleichen sie sich bedächtig an, wie die beiden harmonischen Spießer, die "nur mal reinschnuppern" wollen. Bisweilen sitzt dort auch jemand allein, weil der Partner nicht oder zu spät kommt. Der Sessel im Zuschauerraum wird zum Therapeutensessel, von dem aus man einen wunderbar kurzweiligen Abend lang dem Treiben und Leiden auf den Sofas zuschauen und im Geiste mittherapieren kann. Die Figuren auf der Bühne nutzen die Gelegenheit, ihrem Gegenüber aus der verhedderten Beziehung zu berichten, um sich Bestätigung für die eigene Position zu erheischen oder den anderen lauthals anzuklagen. Die wenigsten wollen therapiert werden, die meisten brauchen einfach nur Zuhörer. Nah am Rand der Bühne entfaltet sich für die nächsten anderthalb Stunden der ganze Kosmos der Beziehungswelt am Rande des Wahnsinns.
Er liebt mich, sie liebt mich nicht
Und schon geht es los, mit dem Macho-Underdog (kraftvoll verkörpert von Georg Böhm), der auf sein Mann-Sein pocht: Wenn der von der Arbeit kommt, will er kein Gesäusel oder Genörgel, sondern "stille Zärtlichkeit, also Sex!" und "was Anständiges zu essen, also Fleisch!" Arme Frau denkt man / frau da noch, bevor, verspätet, der Partner angerannt kommt. Auch ein Lesbenpärchen gründet sich gegen Ende des Abends, sie heiraten gar unter dem Jubel der Gemeinschaft, die "Bräutigamin" findet, Schlusswort, alles "so hetero!".
Doch geht es hier nicht um Homo oder Hetero, sondern um die lustvolle De- und Rekonstruktion von Rollenklischees, wie etwa bei dem harmonischen Paar (angenehm befremdlich Laura Maria Hänsel und Jan Sabo), dessen Fassade – "meine Frau sieht das genauso" – aufbricht, nachdem er beiläufig zugibt, dass dies nicht seine erste Paartherapie ist, woraufhin sie ihm – "das macht sie sonst nie" – die Tasse Beruhigungstee ins Gesicht schüttet. Als der geschmeidige Ehemann (überzeugend Guido Wachter) seine frustrierte Mätresse (Nicole Lippert) auf Drängen hin endlich ehelicht, wird sie zur angeheirateten Nervensäge, die er prompt – "es gibt keine gute Ehe" – mit der ex-nervigen Ex hintergeht.
Überhaupt ist das Hintergehen eines der Hauptthemen, ein Problem, an dem sich die Betroffenen auf unterschiedliche Weise abarbeiten. Als die betrogene Ehefrau das französische Prinzip der offenen Beziehung sehr gründlich deutsch auslebt und dabei auflebt (Isabell Giebeler mit toller Körpersprache), ist der Franzose plötzlich unglücklich, weil seine geheimen Affären nicht mehr knistern. Der türkische Urlaubsflirt (großartig Oliver Baierl) wiederum kommt in Deutschland mit der krankhaften Eifersucht seiner deutschen Ehefrau (herrlich wahnhaft: Doreen Nixdorf) nicht mehr klar. Dabei sind die interkulturellen Konflikte weitaus harmloser als die universellen Besitzansprüche, und das ewige, leidlich bekannte Dilemma der Monogamie. Das Publikum leidet hier ganz besonders mit.
Es geht um alles in diesen insgesamt zwanzig Miniaturen, um das ganze Panorama von Liebe, Leid Lust und – ja, natürlich, Sex. Ob als vorsichtig ausgeübter Alterssex oder kraftvoll hingerotzter Marathon – herrlich überdreht die alternde Punkrockerin mit ihrem Zahnarztgehilfen-Toyboy (Carmen Priego im Bauchfrei-Netzteil, Lukas Graser im Strickpullover), Sex hält sie zusammen oder treibt sie auseinander. Das weiß auch das Publikum und seufzt und leidet. Oder klatscht zustimmend – besonders die Frauen bei den Monologen der Cosmopolitan-lesenden und die (Un-)Möglichkeit ihrer Emanzipation reflektierenden "modernen Frau" (Nicole Paul mit einzigartiger Bühnenpräsenz). Alles Erdachte so schmerzhaft bekannt. Es gibt vielerlei Facetten der Liebe bei den Paaren von Johann Buchholz, und jede braucht Therapie auf der Bühnencouch.
Die Aufarbeitung läuft im Hintergrund
Einige Paare sind spürbar erleichtert, wenn die Sitzung vorbei ist (wissendes Nicken im Publikum), für die meisten aber kommt das Ende der kurzen – nämlich jeweils nur dreiminütigen – Sitzung viel zu schnell, zu überraschend, sie hätten gern noch mehr gesagt. Dafür bietet die Inszenierung eine gewitzte Lösung an. Denn hinter den Sofas im Tiefenraum der offenen, sparsam dekorierten Bühne eröffnet sich der Wartebereich mit einer langen Stuhlreihe, auf der die Paare anschließend Platz nehmen und mit den dort Wartenden (lautlos) kommunizieren. Dort wird die abgebrochene Therapiesitzung einfach weiterverhandelt.
Der vom Autor intendierte Effekt der therapeutischen Shortcuts und der dramaturgische Kniff mit den zwei Bühnen verleihen der Inszenierung eine herrliche Dynamik, da wird gerannt, gewütet, geliebt, gehadert, man tanzt sich frei, und während vorne die Beziehung noch gerettet werden muss, finden sich hinten bereits Paare zu neuen Konstellationen zusammen und umgekehrt, das Ganze zu den treibenden Skas von Balkan-Pop á la Goran Bregovic. Alles bricht jäh ab, wenn das nächste Paar sich aus dem Treiben gelöst hat und vorne angekommen ist und den wilden Reigen unterbricht. Musik und Licht bestimmen damit wesentlich Tempo und Ablauf des Abends, während der Tanz die therapeutische Körperarbeit übernimmt.
Endlich auf der Bühne
Auch dem anwesenden Autor Johann Buchholz gilt der brandenden Applaus am Ende des Abends. Die überaus gelungene Inszenierung in Bielefeld (die Bielefelder haben sich hierfür noch Gastregisseure an Bord geholt, um die Uraufführung noch während der Spielzeit einstudieren zu können) schafft es überzeugend, die vormals bei Arte etablierten Serien-Episoden vom Fernsehen zurück auf die Bühne zu bringen, für die sie eigentlich geschrieben waren.
Paare. Liebe ist eine schwere Geisteskrankheit
von Johann Buchholz
Uraufführung
Regie: Michael Heicks und Henner Kallmeyer, Mareike Mikat, Christian Schlüter, Dariusch Yazdkhasti, Bühne: Michael Heicks, Kostüme: Franziska Gebhardt, Ton: Falko Heidemann, Thomas Noack; Morgan Belle, Christian Frees, Licht: Chris Markert, Dramaturgie: Dariusch Yazdkhasti.
Mit: Oliver Baierl, Georg Böhm, Cédric Cavatore, Isabell Giebeler, Sebastian Graf, Lukas Graser, Laura Maria Hänsel, Anica Happich, Stefan Imholz, Nicole Lippold, Henriette Nagel, Doreen Nixdorf, Nicole Paul, Carmen Priego, Jan Sabo, Karla Trippel, Guido Wachter, Jakob Walser, Thomas Wolff.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause
www.theater-bielefeld.de
Kritikenrundschau
Antje Dossmann will sich in der Neuen Westfälischen online (5.6.2017) mit dem vergnüglichen abend nicht einfach so zufrieden geben, sie weist darauf hin, dass für jeden Dramatiker, der die "Paarbeziehung als Spiegel des Zeitgeistes" nutzen wolle, eine "Tradition des Theatermachens" gebe, an der "er gemessen" werde. Botho Strauß' "Paare, Passanten" von 1981 sei auch in 2017 nicht "einfach zu vernachlässigen". Johannes Buchholz aber habe statt dessen "18 lachlustige, vornehmend auf Pointen hinauslaufende, im Klischee verharrende 'Shortcuts' " rausgehauen. Ohne Brechungen, "Tiefgang" oder "klare Position" dazu. Wozu wolle das Theater dann noch "dienen"? "Nur als ein Ort, um gut aufgelegten Schauspielerinnen und Schauspielern in ihrer Wandlungsfähigkeit und Spielfreude zuzusehen?"
Im Westfalen-Blatt schreibt Burgit Hörttrich (6.6.2017): Die Regisseure Michael Heicks, Henner Kallmeyer, Mareike Mikat, Christian Schlüter und Dariusch Yazdkhasti breiteten den "Kosmos des Beziehungsalltags" aus. Die Reaktion des Publikums zeige: "Gut getroffen, alles bekannt – und wenn es nur vom Hörensagen ist." Ein "Stück deutsche (?) Wirklichkeit. Rasant in Szene gesetzt, berührend, humorvoll".
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