Walter - Eine Geschichte für sich (UA)
Der Archivar der Erinnerungen
von Kai Bremer
Bielefeld, 11. März 2012. "Walter – Eine Geschichte für sich". Dieser Titel des neuen Stückes von Tom Peuckert birgt ein Versprechen: Nach der vielfältigen Auseinandersetzung mit dem Erinnern vor knapp einem Jahr in Gedächtnisambulanz lässt Peukert nun also die Beschäftigung mit einem Großmeister des literarischen Erinnerns folgen, mit Walter Kempowski. Eine reizvolle Weiterentwicklung des Themas, zumal der anspielungsreiche Titel auch eine breite Perspektive auf den Künstler andeutet: In dem Roman "Ein Kapitel für sich" hatte Kempowski von seiner Haftgeschichte in Bautzen erzählt. Gibt es in Bielefeld jetzt also mehr als dieses Nachkriegskapitel, eben "Walters" ganze Geschichte?
Rostocker Andenken
Noch ist der Saal im Bielefelder Theater am Alten Markt nicht völlig dunkel, als die fünf Schauspieler (Oliver Baierl, Norman Grüß, Nicole Lippold, Carmen Priego, Thomas Wehling) die Bühne betreten. Sie tragen alle schwarze 70er-Jahre-Lederjacken, die man von alten Kempowski-Fotos kennt, und graue Hosen, Lippold einen grauen Rock. Priego erzählt von Kempowskis Verlangen nach dem Erinnern, von seinen vom Verlag angefertigten Tagebüchern, von denen eins rumgegeben wird, damit jeder Besucher sich eine leere Seite herausreißt und darauf eine Erinnerung notiert, um sie später ans Theater zu schicken.
Die Bühne (von Katja Wetzel, die zudem für die Kostüme verantwortlich ist) ist zunächst nicht tief; eine breite, beigefarbene Papierwand engt den Spielraum ein. Über die Wand verlaufen Kempowski-Sentenzen einer Fieberkurve mit zwei zackigen Hebungen gleich, ohne Leerzeichen, Punkt und Komma. Davor stehen ein Kofferplattenspieler, ein Tischchen mit einer Andeutung des Papiermodells von Rostock, das Kempowski in seinem Haus in Nartum gebastelt hat und das dort bis heute steht, eine Schreibmaschine auf schmalem Tischchen und ein Klavier samt Schemel und einer Flasche Rostocker Doppel-Kümmel: kleine Erinnerungsstücke, die das Leben des Schriftstellers repräsentieren. Auf die Wand werden verschiedene Schattenspiele projiziert, die mal eine Rostock-Silhouette, mal marschierende Heere und Soldaten mit Hitler-Gruß andeuten.
Ein schüchterner Beobachter
Nach dem metatheatralen Auftakt nehmen die Akteure ihre Rollen ein (Priego als Mutter, Lippold als Schwester Ulla, Grüß als Kempowski, Baierl als Bruder Robert und Wehling als Vater). Dass in Dariusch Yazdkhastis Uraufführungsinszenierung keine Langeweile aufkommt, liegt weniger an der mit kaum 90 Minuten eh kurzen Spieldauer, sondern daran, dass die fünf immer wieder zwischen ihren Rollen und solchen Passagen wechseln, in denen in Kempowskis Erfolgsroman "Tadellöser & Wolff" ein Ich spricht. Durch dieses Changieren kommt Grüß selten zu Wort und wird, was Kempowski wohl war: ein schüchterner Junge mit Brille und einer damals recht wilden Frisur; einer, der meist nur daneben stand, alles bestaunte und etwas aus dem engen Rahmen fiel. Zugleich führt das zu einer wohldosierten Variation der Sprechebenen, die das Ineinander von Dialog und erzählendem Rückblick elegant vorführt.
Ergänzend dazu haben sich Yazdkhasti und sein Team dafür entschieden, das Karikaturhafte in der Darstellung von Vater und Mutter Kempowski zu betonen. So darf Wehlings Stimme mehrfach überschnappen, Priego mit verklärtem Blick sich an die guten Zeiten unter Kaiser Wilhelm erinnern. Das sind Elemente, die man bereits aus Eberhard Fechners Verfilmung von "Tadellöser & Wolff" kennt. Wenn sie in Bielefeld nicht überzogen wirken, verdankt sich das Baierls Spiel, der als Robert anders als seinerzeit Martin Semmelrogge nicht nur rotzig klingt und frech grinst. Vielmehr verleiht er diesem Swing-Liebhaber während der NS-Diktatur und "Russenfeind" nach Kriegsende ein facettenreicheres Gesicht.
Oh, Kinder, nee...
Also ein klug eingerichteter Abend, der einige Schauspieler mehr, andere weniger fordert? Nicht ganz. In der letzten guten halben Stunde werden die Papierwand ein- und Momente aus Kempowskis Geschichte nach Kriegsende angerissen. Die acht Jahre Bautzen sind weitgehend auf Gefangennahme und Entlassung reduziert. Kempowskis Ärger über das Unverständnis, das ihm lange Zeit die Literaturkritik entgegenbrachte, wird durch einige Kritikerstimmen sowie wildes Umhertoben Priegos (nun wie auch die anderen mit Kempowski-Schnauzer) angedeutet.
Damit verknappt die Inszenierung einen Schriftsteller, dem jedes Detail bemerkens- und bewahrenswert schien, und sein in jeder Hinsicht episches Werk unangemessen. Auch dass Schwester Ulla gegen Kriegsende ihren Walter in die Arme schließt, obwohl jeder Kempowski-Leser weiß, dass sie damals längst in Dänemark lebte, ist ein Schnitzer, den ein akribischer Erinnerungsverwalter wie Kempowski geärgert hätte. Vielleicht hätte er wie seine Mutter gestöhnt: "Oh, Kinder, nee...".
Walter – eine Geschichte für sich (UA)
von Tom Peuckert nach Walter Kempowski
Regie: Dariusch Yazdkhasti, Bühne und Kostüme: Katja Wetzel, Musik: Frank Raschke, Dramaturgie: Marcus M. Grube
Mit: Oliver Baierl, Norman Grüß, Nicole Lippold, Carmen Priego, Thomas Wehling.
www.theater-bielefeld.de
Tom Peukerts vorheriges Bielefelder Stück Gedächtnisambulanz wurde von den Lesern für das diesjährige virtuelle Theatertreffen von nachtkritik.de ausgewählt.
Wer eine Reibefläche erwartet habe, werde enttäuscht, so Christiane Enkeler in der Sendung "Kultur heute" auf Deutschlandfunk (12.3.2012). Die Stimmung des kleinen Abends bleibe immer in derselben Parlandohaltung. "Ausstattung und Ton collagieren ein bisschen Bild und Akustik: Geschirr klimpert bei einem Essen, das spielerisch nicht mal angedeutet wird." Die zeitgeschichtlichen Schatten sieht die Kritikerin "sanft übereinander und über die Wand" gleiten, mal kleiner, mal größer. "Ein Sehtempo ist vorgegeben, ähnlich locker-flockig bemüht und beschützend zugleich."
"Fünf Personen buchen einen Autor," fasst Andreas Rossmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (13.3.2012) seinen Eindruck von diesem Auftragswerk zusammen, das aus seiner Sicht wenig zur weitergehenden Beschäftigung mit Walter Kempowski zu verführen vemag. Zwar komme alles vor, was diesen Autor und das Jahrhundert in dem er lebte, ausgemacht habe, werde aber nur angetippt. Auch wenn sich das Stück bereits in seimen Titel persönlich gibt, bleibt es Rossmann zufolge" an der Oberfläche: Die Biographie der Ausnahmegestalt werde auf Normalfilmlänge gebracht, ein Autorenleben (1929 bis 2007) in Stichworten, Kurzszenen, Rückblenden, Episoden." Die Inszenierung von Dariusch Yazdkhasti verflüssige die biographische Skizze "zu munterem Erzähltheater, das Dialoge und Rückblenden, Kurzszenen und Stegreifanmutungen, Erinnerungsfetzen und geflügelte Worte geschickt ineinandergreifen, mitunter auch lautstark auseinanderfallen" lassen würde. Wer nicht viel über Kempowski wisse, bekomme erweiterte Grundinformationen, kurzweilig aufbereitet: "das Theater als besserer Literaturlexikonersatz; wer Kempowski besser kennt, erfährt nichts Neues."
Ratlosigkeit gibt Johannes Vetter in der Neuen Westfälischen Zeitung (13.3.2012) zu Protokoll obwohl er der Regie eine ganze Reihe "entzückender Momente" und beeindruckende Einzelmomente bescheinigt. Doch gelingt es dem Abend aus seiner Sicht nicht, eine "für sich sprechende Collage, jenes sinngebende Beziehungsgeflecht von Elementen, die eigentlich gar nichts miteinander zu tun haben", aus dem Stoff herzusellen. Denn Autor Denn Tom Peuckert hatte dem Eindruck des Kritikers zufolge "seine liebe Not damit, die Zettelkästenflut des Walter Kempowski in bühnentaugliche Bahnen zu lenken." "Gehen die einzelnen Szenen in einem wenig unterschiedlichen Einerlei auf?" fragt Vetter auch. "Ist das musikalische Design (Michael Beckett) zu beliebig? Hätte die Regie mehr in die Textvorlage Peuckerts eingreifen müssen?"
Ehrenhaft, aber etwas arg bescheiden wirkt dieser "als Uraufführung deklarierte Abend" auf Vasco Boenisch in der Süddeutschen Zeitung (17.3.2012). Denn es gebe keine freie Auseinandersetzung mit dem Werk Kempowskis. Tom Peuckert habe aus Kempowskis meist autobiografischen Texten einen halb erzählerischen, halb szenischen Lebensabriss collagiert. "Klassische Kempowski-Methode: alltägliche Banalitäten stehen neben gewaltigen Weltereignissen, Privates spiegelt die großen Zeitläufte." Vor beigem Papierhorizont auf dem der Kritiker die Schatten von Kirchtürmen oder Kriegssoldaten kreisen sieht, konzentriere man sich ganz auf die mit einfachen Mitteln chronologisch nachgespielten Lebensstationen Kempowskis. "Das von den Akteuren mit Hingabe ausbuchstabierte Porträt des frühen, privaten Kempowski macht ihn zum Beispiel seiner Zeit. Womöglich ist diese Persönlichkeit so rein dokumentarisch aber doch unter Wert verkauft."
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