Erzählt Geschichten!

2. September 2023. John Steinbecks Klassiker "Of Mice and Men" ist schon häufiger auf die Bühne gebracht worden – und erweist sich auch in der Inszenierung von Simon Solberg wieder als guter Theaterstoff, dem Solberg lediglich ein neues Happy End verpasst. 

Von Thomas Rothschild

 

"Von Mäusen und Menschen" in der Regie von Simon Solberg am Theater Bonn © Emma Szabó

2. September 2023. Allzu große Beachtung schenkt unsere Gesellschaft den Problemen von Menschen mit Behinderung nicht. Immerhin gab es in den vergangenen Jahren ein paar Fortschritte. Der gemeinsame Schulunterricht von Menschen mit und ohne Behinderung gehört dazu. Der mögliche nächste Ministerpräsident von Thüringen, Björn Höcke, will ihn abschaffen. 

Ein Meisterwerk des 20. Jahrhunderts

Diese avisierte Rückkehr zu einer Praxis der Ausgrenzung und der Diskriminierung im Land von Josef Mengele und Hadamar ist eine Steilvorlage für die Erinnerung an ein Meisterwerk des 20. Jahrhunderts, John Steinbecks Roman "Von Mäusen und Menschen". Er wurde mehrfach für den Film und auch für die Bühne adaptiert. Jetzt hat Hausregisseur Simon Solberg am Theater Bonn einen neuen Anlauf unternommen.

"Von Mäusen und Menschen" handelt von Lennie Small und dessen Freund George Milton, die als Wanderarbeiter im Schatten der "Großen Depression" durch den Westen der USA ziehen. Sie erträumen sich ein eigenes Stück Land und einen kleinen Hof mit Kaninchen, die Lennie so gerne streichelt. Gegenspieler ist Curley, der streitlustige Sohn eines Farmbesitzers, dessen attraktive Frau auch auf Lennie einen starken Eindruck macht.

Nachdem sich Lennie auf eine Schlägerei mit Curley eingelassen und einen Hundewelpen, den er von dem Vorarbeiter Slim geschenkt bekommen hatte, versehentlich getötet hat, bricht er Curleys Frau beim Versuch, zärtlich zu sein, das Genick und flieht. Die Arbeitskollegen unter der Führung von Curley verfolgen ihn und wollen ihn lynchen. George findet seinen Freund, ehe ihn der Lynchmob erreicht. Auf Lennies Bitte hin erzählt er ihm einmal mehr von den gemeinsamen Träumen für die Zukunft – und gibt ihm den Gnadenschuss. 

Überzeugender Antiheld

An Dramatik (in der umgangssprachlichen Bedeutung), Kontroverse, Charakterzeichnung, kritischem Realismus, auch Sentimentalität gibt es in dieser Story keinen Mangel. Nicht zuletzt die zahlreichen Dialoge prädestinieren sie fürs Theater. Was bei der Übertragung auf die Bühne, die der amerikanische Nobelpreisträger selbst im Auge hatte, im Gegensatz zur Verfilmung verloren geht, ist lediglich die Weite des Raums, die kalifornische Landschaft.

Von seiner Statur her entspricht Daniel Stock nicht dem Lennie, den Steinbeck als Gegensatz zu George beschrieben hat: "Hinter ihm ging sein Gegenbild, ein hoch gewachsener Mann mit einem formlosen Gesicht und großen, farblosen Augen und mit breiten, schlaffen Schultern; er ging schwerfällig, zog seine Füße leicht nach, so wie ein Bär seine Pfoten nachzieht." Das ist nicht ganz nebensächlich, denn es ist die Körperkraft, hinter der die intellektuellen Gaben zurückbleiben, die Lenny in sein Unglück stürzt. 

von maeusen und menschen2 EmmaSzabo uDaniel Stock (Lennie) © Emma Szabó

Aber Daniel Stock spielt den in seiner Hilflosigkeit so liebenswerten "Antihelden" so überzeugend, dass man ihn sich gar nicht anders vorstellen möchte. Die Regie hat der Versuchung widerstanden, Lennies Behinderung zu forcieren. Er deutet sie an mit der Zwanghaftigkeit, mit der er von einem Bein aufs andere tritt. Mehr braucht es nicht. Dabei bleibt ihm in der deutschen Übersetzung ein Mittel versagt, das der Autor im Original extensiv nützt: eine "defekte" Sprache, die Lennie wiederum von seinem schlauen Freund George unterscheidet.

Zwischen Realismus und Stilisierung

Nicht nur Lennie, das ganze formidable Ensemble ist ständig in Bewegung, um zwischendurch kurz zu Tableaus zu erstarren. Simon Solberg hat das richtige Maß zwischen Realismus und Stilisierung gefunden. Der ganze Bühnenboden ist mit Körnern bedeckt, die zusammen mit zahllosen Holzkisten ihre Funktion verändern. Sie rieseln als Wasser aus den Kisten, die als Duschköpfe, dann wieder als Schüttelsiebe dienen, als Behältnisse, in denen man sich die Hunde imaginieren soll, oder als ein Kreuz und Grabsteine, die den tragischen Tod von Curleys Frau ankündigen.

von maeusen und menschen EmmaSzabo uDaniel Stock (Lennie), Paul Michael Stiehler (George), Julia Kathinka Philippi (Curleys Frau) © Emma Szabó

Gestrichen wurde Steinbecks Figur des Schwarzen Crooks. Vielleicht wollte man sich in Bonn so der Blackfacing-Debatte entziehen. Und auch der Schluss wurde geändert. George erschießt Lennie nicht. Stattdessen aufersteht Curleys Frau von den Toten. Sie und die beiden Freunde posieren da im blendenden Licht wie die drei Schwestern im berühmten Schlussbild von Tschechows Drama.

Appell für Solidarität

Die im Stück genannten Geldbeträge lassen keinen Zweifel, dass die Inszenierung zur Entstehungszeit des Romans spielt. Die Aktualität liegt im Appell für Solidarität, miteinander, aber auch mit jenen, die von anderswo her angekommen sind. Das Stück wird von Songs begleitet, die, anders als in vielen Inszenierungen, tatsächlich zu dessen Inhalt passen, amerikanische Gewerkschaftslieder, aber auch Songs etwa von David Bowie. Nach nur eineinhalb Stunden: lautstarker Jubel. Es hat den Anschein, dass sich das Theaterpublikum nach wie vor Geschichten erzählen lassen möchte. Mit tragischem oder mit geschöntem Ende. Wenigstens ab und zu.

Von Mäusen und Menschen
nach dem Roman von John Steinbeck
Regie und Bühne: Simon Solberg, Musikalische Leitung: Philip Breidenbach, Kostüme: Annika Garling, Licht: Thomas Tarnogorski, Dramaturgie: Nadja Groß.
Mit: Paul Michael Stiehler, Daniel Stock, Julia Kathinka Philippi, Max Wagner, Janko Kahle, Timo Kählert, Wolfgang Rüter, Philip Breidenbach, Joonas Lorenz, Samuel Reissen.
Premiere am 1. September 2023
Dauer: 1 Stunden 35 Minuten, keine Pause

www.theater-bonn.de

 

Kritikenrundschau

"Der rund 100-minütige Abend vermittelt die tragische Wucht der literarischen Vorlage, begegnet dem Stoff aber mit theatralen Ausdrucksmitteln unserer Zeit", schreibt Dietmar Kanthak im Bonner General-Anzeiger (4.9.23, €). Regisseur Simon Solberg, das Ensemble und "die fabelhaften Musiker" fänden "immer die richtige Balance zwischen bewegt und bewegend", urteilt der Kritiker.

"Erstaunlicherweise" gehe Solbergs "ungewöhnliche Genretransformation" des Stoffs in ein Musical "bis zu einem gewissen Grad auf", schreibt Thomas Kölsch in der Rhein-Zeitung (5.9.2023), "was nicht zuletzt daran liegt, dass der 44-Jährige auf die sonst von ihm geliebten Ausstattungsorgien verzichtet und die Bühne auf das Notwendigste reduziert". Songauswahl und Arrangements seien "exzellent, verlangen dem in typisch Solberg'scher Manier herumstolpernden Ensemble aber mitunter ein bisschen zu viel ab, ebenso wie dem Publikum, das nach der gefühlt dreißigsten Wiederholung bestimmter melancholischer Riffs und Harmonieführungen zumindest zum Teil ein wenig mehr gesprochenes Theater herbeisehnt." "Eine tiefer gehende Auseinandersetzung mit zentralen Themen wie Einsamkeit und Machtlosigkeit ist in der vorliegenden Form auf jeden Fall nicht möglich", so Kölsch. "Wer damit gut leben kann, darf sich auf einen musikalischen, mitunter durchaus komischen und dann wieder berührenden Abend mit starken Bildern freuen."

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