Wotans aufsässige Kinder

21. Januar 2024. Necati Öziris "Machtverschiebung" in der Wagner-Tetralogie nimmt die Nachkommen der Götter Walhalls in den Fokus – und deren Widerstand gegen den Mythos. Julia Wissert hat die deutsche Erstaufführung inszeniert. Garantiert ohne Wagner-Klänge, aber trotzdem mit Musik.

Von Gerhard Preußer

"Der Ring des Nibelungen" in der Regie von Julia Wissert am Theater Dortmund © Birgit Hupfeld

21. Januar 2024. Der "Ring" ohne Musik war schon immer eine Lachnummer für Kabarettisten. Der "Ring" mit Musik manchmal auch, wenn kleine dicke Männer sich unter Flügelhelmen die Seele aus dem Leib singen mit einer körperlichen Konstitution, die in keinem Verhältnis zu den Heldentaten und Drachenkämpfen stehen, die sie behaupten, vollbracht zuhaben. Oder Frauen, die Stimmen wie pfeifende Orkane aus ihren Körpern holen. Und der "Ring ohne Worte" war immer ein verschämtes Vergnügen für Wagner-Verächter. 

Necati Öziri liefert uns einen "Ring" ohne Worte und ohne Musik (doch ein bisschen Musik gibt es schon, aber garantiert keinen Ton von Wagner), einen Ring von Unten oder einen Ring, der die Lücken in Wagners monumentalem Musikdrama stopft. Was Fricka eigentlich Wotan schon immer mal sagen wollte, was aber bei dem ganzen Gesangsstress nie möglich war. Und warum Brünnhilde eigentlich keine Kinder will, schon gar nicht von Siegfried.

Wagner postmigrantisch

Die kabarettistische Form der aneinandergereihten Solonummern ist das Handicap dieses Projekts und die satirische Schärfe, kombiniert mit dem Versuch, den Figuren dennoch psychologische Tiefe zu geben, ist seine Stärke (schließlich ist Öziri auch ein beachteter Romanautor). Öziris Text ist gesättigt mit den Erfahrungen der Kinder von migrantischen Familien der zweiten Generation in Deutschland (und das sind auch seine eigenen). Im Kern geht es um die Perspektive dieser Kinder, Frauen und Väter. Was bringt die Folie des Wagner-Ungetüms dabei? Die Figuren haben einen Widerstand, gegen den sie angehen. Und dieses ihnen Widerstehende ist nicht nur die deutsche Gesellschaft von heute. Es ist auch gar nicht Wagners Antisemitismus oder der Kolonialismus des Deutschen Reichs. Es ist ein Mythos, eine Geschichte, eine wirkungsmächtige Erzählung. Das weitet den Assoziationsraum.

Nach der Zürcher Uraufführung in der Regie von Christopher Rüping nun die deutsche Erstaufführung in der Regie der Dortmunder Intendantin Julia Wissert. Nach einer launigen Einleitung in die Entstehung des Textes (in Zürich vom Autor selbst präsentiert, in Dortmund von Tamer Tahan) – es geht um nicht weniger als ein neues "Wir" für Deutschland – rauscht ein kompakter Schnelldurchlauf (20 Minuten) durch Personal, Handlung und Instrumentation von Richard Wagners "Ring des Nibelungen" am Publikum (Nichtwissenden wie Wissenden) vorbei.

Nika Mišković Sarah QuarshieAntje PrustAdi HrustemovićWiderständig: Nika Mišković, Sarah Quarshie, Antje Prust, Adi Hrustemović © Birgit Hupfeld

Erdgöttin Erda (Sarah Quarshie) macht uns mit Hilfe von drei Nornen aus dem Dortmunder Sprechchor klar, was das Schicksal aller historischer Reiche war: "untergegangen", so also auch wir. In allen Reden der Figuren gibt es ein angeklagtes "Ihr". Das sind bei "Zwerg" Alberichs (Adi Hrustemović) Schmähtirade die Götter, bei Brünnhilde (Nika Mišković) ihre Walküren-Schwestern, bei der Verteidigungsrede von Göttervater Wotan (Alexander Darkow) seine Kinder. Aber gemeint sind immer wir, die Theatergänger, die Mehrheitsgesellschaft.

Auftritt der Geschwister Dev

Wissert hat jeder dieser ungehaltenen Reden ein äußerliches Mittel zugeordnet. Alberich stapelt Klötzchen aufeinander, Brünnhilde röhrt ihre Brandrede gegen Walhall ins Mikrofon, Wotan tobt aus dem Zuschauerraum auf die Bühne und umkreist sein Walhall (ein hübscher kleiner Guckkasten mit Weltesche auf der Bühne) mit Absperrband. Fricka (Antje Prust) macht sich ganz frei. Ihre Erinnerung an die Verliebtheit mit Wotan bis zur völlig ungehässig desillusionierten Bilanz als selbstbewusst gealterte Frau trägt sie völlig nackt vor. Da gibt es kein Verstecken mehr von irgendwas.

Wirklich gelungen ist diese Zuordnung von inszenatorischem Mittel und Figur aber nur bei den Geschwistern Dev. Wer ist das? Gibt es die bei Wagner? Nein, eben nicht. "Ihr wisst, wer wir sind und kennt uns dennoch nicht." Das sind die Kinder der Riesen Fafner und Fasolt, die für Wotan einst die Burg Walhall bauten. Sie sind die Kinder der emigrierten Arbeiter, die für Deutschlands Wohlstand schufteten.

Zwischen Poesie und Scherz

Hier ist nicht nur Öziris Text am stärksten ("Kinder speichern ewiglich. Wir sind die Körper einer falsch gelebten Zeit"). Hier gibt es nun doch Musik: Isabelle Pabst und Maike Küster singen diese Klage in schnörkelloser, lupenreiner, folkloristisch angehauchter Zweistimmigkeit. So kindlich schön, so geht das unter die Haut. Auch wenn die anderen Schauspieler:innen dabei nur dekorativ auf der Bühne herumstehen.

Das Problem der Reihenschaltung der Solonummern wird auch durch zwischengeschobene Tanzeinlagen nicht gelöst und die jeder Figur individuell zugeordneten Tätigkeiten und Haltungen lösen nicht das Problem der sprachlichen und gedanklichen Durchdringung von Öziris zwischen Poesie und Scherz schwankenden Texten. Oder in Öziris eigenen Worten: "Heute spricht jeder mit sich selbst, spricht jeder von Gemeinschaft und Demokratie in lauter Monologen!!!!!" (Wotan) und "Ich hab es satt zu brüllen" (Brünnhilde). Da war der Text klüger und selbstironischer als die Inszenierung.

Der Ring des Nibelungen
Eine Machtverschiebung von Necati Öziri
Regie: Julia Wissert, Bühne: Jana Wassong, Kostüme: Nicola Gördes, Komposition/SND Design: Yotam Schlezinger, Dramaturgie: Jasco Viefhues.
Mit: Tamer Tahan, Nika Mišković, Adi Hrustemović, Sarah Quarshie, Antje Prust, Alexander Darkow, Isabelle Pabst, Maika Küster, Yotam Schlezinger, Regine Anacker, Heike Lorenz, Katrin Osbelt, Sylvia Reusse, Regina Schott.
Premiere am 20. Januar 2024
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.theaterdo.de

 

Kritikenrundschau

Eine Hauptthese des Stücks sei, dass die Kinder der Migranten und überhaupt alle Entrechteten gemeinsam einen Krieg gegen die Mehrheitsgesellschaft führen. "Da muss ich gestehen, da hat für mich der Spaß aufgehört", erklärt Stefan Keim vom WDR (22.1.2024). Der Kritiker ist abgeschreckt von der Negativität des Abends. "Ich habe für mich die Schlussfolgerung aus diesem Stück gezogen: Ja, ich bin Wotan. Ich möchte ehrlich gesagt lieber eine Welt habe, in der noch bei allen Fehlern ein bisschen was funktioniert, als einfach nur so Zerstörungsgedanken nachzuhängen."

"Dass man die Mythen im Ring zu Plattitüden destillieren kann, haben schon andere Inszenierungen gezeigt, dass dies selbstbewusst gewollt ist, ist neu", schreibt Anne Koch von den Ruhrbaronen (23.1.2024). "Wer es nicht schafft, das Besondere im Ring zu sehen macht eine zynische Inszenierung und so eine sieht man noch bis mindestens März im Schauspiel Dortmund."

"Wissert vertraut ihren (bis auf eine Ausnahme) durchweg guten Schauspielern, dass sie etwas machen aus den etwa jeweils zehnminütigen Monologen, in denen sie von ihrem Schicksal erzählen und über die Welt philosophieren. Das tun sie auch, aber es erinnert mehr an halbszenische Rezitationen als an Schau-Spiel", schreibt Julia Gaß von den Ruhr Nachrichten (22.01.2024).

"Es ist (…) ausgesprochen undramatisch, ein Haltungstheater, das sich anfühlt wie Frontalunterricht. Da sieht man keinen Austausch der Bühnenfiguren, keine Dialoge, sondern stets die Ansprache von der Bühne ins Publikum. Diese Art Schauspiel hat etwas Selbstgefälliges, bei allen individuellen Qualitäten", schreibt
Ralf Stiftel vom Westfälischen Anzeiger (23.1.2024). Ein überraschender Auftritt bringt sorge zum Glück für Lockerheit und Selbstironie und die rette die Inszenierung davor, "zur Verkündigungsveranstaltung zu erstarren".

"Die Monologe sind nicht frei von Hängern, und manchmal fällt es schwer, die Figuren im Wagner-Kosmos sofort richtig einzuordnen. Dafür erzählen ihre ellenlangen Pamphlete viel vom gesellschaftlichen Miteinander und holen die Figuren fast schon leichtfüßig in unsere Zeit. Szenisch fällt Julia Wissert dazu allerdings nicht viel ein", bemerkt Sven Westernströer von der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (22.1.2024).

Kommentar schreiben