Das Erdbeben in Chili - Kleist inszeniert und choreografiert von Laurent Chétouane am Schauspiel Köln
Hände hoch
von Andreas Wilink
Köln, 28. Januar 2012. Es ist eine Welt, "wie nur ein Dichter davon träumen mag". Man weiß nicht, wie einem geschieht, gleich dem Prinzen von Homburg: "Träum' ich? Wach' ich? Leb' ich? Bin ich bei Sinnen?" Auch das St. Jago de Chile ist ein solcher Traum-Ort. Alles Tatsächliche, und davon gibt es einiges, Fürchterliches und ein wenig Himmlisches begreift der Autor als poetisches Material.
Das Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755 bekam den Rang eines weltgeschichtlichen Ereignisses. Erschütterte Europas Geist und Glauben an eine vernünftige Welt, Sinn und Fortschritt und forderte zur Frage heraus, ob die Katastrophe als Ausdruck göttlichen Willens zu verstehen und "die gebrechliche Einrichtung der Welt" ein Fatum sei. Es hätte ein Verdikt zur Folge haben können, das zweihundert Jahre später jemand formulieren wird: Ist nach solch einem Vorfall noch Lyrik möglich oder nicht vielmehr barbarisch.
Alles in Bewegung
Kleists Erzählung von 1807 greift zurück auf ein ähnlich verheerendes Erdbeben. Im Jahr 1647 kam ein Drittel der Bevölkerung von St. Jago de Chile ums Leben. Ein Paar hat sich verbotenes Glück erlaubt. Josephe wird vom Vater ins Kloster verbracht, doch sie und Jeronimo führen ihre Beziehung weiter, bis das Mädchen schwanger wird. Er kommt ins Gefängnis, sie soll enthauptet werden, er will sich daraufhin das Leben nehmen. Da aber bebt die Erde und setzt die weltliche Gerichtsbarkeit außer Kraft. Dies alles wird von Kleist, dem "unheimlichen Geschichtsschreiber für die Mitwelt" (Hans Mayer), auf zwei Seiten dargelegt. Man kennt den Kanzleistil seiner Erzählungen: episch sachlich, als würde ein gerichtliches Protokoll ausgefertigt.
In der Kölner Schauspiel-Halle Kalk betreten drei Darsteller die Bühne und falten ein großes graues Tuch, das den mit Folienplane belegten Boden abdeckte, während die E-Gitarre schweres Geschütz auffährt (später ist sie auch zart besaitet). Die beiden Männer wanken und stürzen, die junge Frau bleibt standhaft: noch. Jan-Peter Kampwirth beginnt mit dem Text, bald fällt Marie Rosa Tietjen ein, gefolgt von Philipp Gehmacher, der den Vortrag mit ausladenden Bewegungen begleitet und bisweilen am Hemdlatz herumnestelt. Er wird während eindreiviertel Stunden die Arme erheben, sie anwinkeln und anmutig widerständig mit ihnen schlenkern, als sei er nicht Herr seiner Gliedmaßen.
Mit Glaube an die Kraft der Zerrüttung
Die Drei, in Weiß wie Fechtmeister, die einem ausgeklügelt formalistischen Regelsystem folgen, sind unentwegt unterwegs, lagern sich, bilden skulpturale Gruppen, berühren einander, erwandern das Karree. Dominiert wird es von einem Videobildschirm, der ein Modell der Szene reproduziert, Lichterscheinungen transparent macht und dunstige Ansichten von Leuten und Orten abstrahiert. Seitlich häufen sich Kulissenbilder, wie ausgeschnitten fürs Poesiealbum, darunter Madonna mit Kind, ein Engelein, betende Figuren, Glocke und Säulen. Die schwarzweißen Attrappen werden arrangiert wie zu einer Art höherem Krippenspiel, anschließend symbolschwer umgekippt, synchron zum Schreckensbericht. Ab und an blinkt es aus einem Neon-Portal.
Bei Kleist, dessen Erzählung mit einem Riss die Schöpfung zerteilt, entsteht wie nach der Sintflut ein Moment von glücklichem Märchen- und weltanschaulichem Niemandsland, wo sozusagen der Löwe neben dem Lamm lagert, bevor sich die Verhältnisse der Obrigkeit neu konstituieren und der Mensch wiederum zur Bestie wird. Das Paar aber, wunderbar verschont und darin ein Zeichen vermutend, missdeutet die Möglichkeit gesellschaftlichen Neuanfangs und glaubt an die heilsame Kraft der Zerrüttung. In Köln laute die Videobotschaft dazu: paradiesische Landschaft mit Regenbogen.
Wort für Wort verkostet
Kleists Werk ist eine einzige Negation: handelnd von der Rücknahme humaner Gesittung. Blutrot erfolgt der Schock während der Messe in der Kathedrale, im Angesicht Gottes (das Video leuchtet uns heim mit einer Kirchenrosette). Göttliche Vorsehung und irdische Mordlust, Rettung und Vernichtung, Sein und Sollen, Staats- und Naturordnung stehen gegeneinander und besiegeln das Schicksal von Jeronimo, Donna Josephe, dem kleinen Philipp und ihren Gefährten.
Das Trio verkostet den Text Wort für Wort in entschiedener Langsamkeit: beseelt, innig, meditativ, wodurch die liturgische interaktive Choreografie eine gewisse clarté und musikalische Makellosigkeit erhält, aber auch etwas ungemein Prätentiöses. Eine Verbeugung vor der Novelle, eine Kapitulation vor dem Theater, was beileibe nicht den Vorwurf der Wirkungsfeindlichkeit und Handlungsarmut meint. Man hat Laurent Chétouane schon auf manch einer Pilgerfahrt begleitet, zu seinen Denkangeboten mit Shakespeare, Schiller, Goethe, Hölderlin und Büchner. Hier nun, gerade bei Kleist, versage ich die Gefolgschaft. Der Weg führt ins Leere.
Das Erdbeben in Chili
von Heinrich von Kleist
Regie: Laurent Chétouane, Bühne: Matthias Nebel, Kostüme: Sanna Dembowski, Musik: Leo Schmidthals, Video: Tomász Jeziorski, Dramaturgie: Jan Hein.
Mit: Philipp Gehmacher, Jan-Peter Kampwirth, Marie Rosa Tietjen.
www.schauspielkoeln.de
Mehr zu Laurent Chétouane gibt es im nachtkritik-Archiv.
Auf der Webseite von Deutschlandradio Kultur (28.1.2012) sowie in der Welt (31.1.2012) schreibt Stefan Keim: Anders als in früheren Aufführungen Chétouanes gebe es diesmal viel Text und wenig Bewegung. Doch der Text werde auch nicht "interpretiert." Zwei Stunden lang gingen die Performer über die Bühne und ließen "die Novelle mehr durch sich hindurch laufen als dass sie die Worte sprächen". Dass Kleist hier wie mit den Mitteln der Kolportage arbeite, "wüste Emotionen beschreibt und im Leser herauf beschwört", fehle völlig. Dass sich durch Kleists Text "das Entsetzen" darüber ziehe, dass "der Mensch Spielball des Schicksals ist", interessiere Chétouane nicht. Ihm "scheint es" um Kleists Sprache zu gehen, die "eigentümlichen Wiederholungen, das Innehalten, das Stottern". Doch abendfüllend sei das nicht. Es bleibe "rätselhaft", wohin Laurent Chétouane mit diesem Abend wolle. Form ohne Inhalt.
Chétouane habe Kleists Text auf die Kölner Bühne gebracht, "ohne ihn dabei auch nur im Geringsten zu dramatisieren", beschreibt Sascha Westphal den Abend in der Emsdettener Volkszeitung und in den Ruhrnachrichten (29.1.2012). "Stattdessen erlebt man eine von dem Musiker Leo Schmidthals live begleitete Bewegungschoreografie für drei Körper, die zugleich auch eine Sprachpartitur für drei Stimmen und Gitarre ist." Das Ungeheuerliche des Textes bleibe damit in seiner ganzen Maßlosigkeit erhalten. Es finde in den so maßvollen Bewegungen der drei Darsteller "eine kongeniale Umsetzung", in der die verstörende Sachlichkeit der Kleistschen Sprache sich in einer ebenso sachlichen, an den Bauhaus-Formalismus der 20er Jahre erinnernden Choreografie spiegele.
Wenig mehr als eine szenische Lesung sei Laurent Chétouanes "Erdbeben in Chili" und damit "der ideale Abend, um von Herbert Fritschs überdrehtem Puntila runterzukommen", schreibt Christian Bos im Kölner Stadt-Anzeiger (30.1.2012). "Es gilt das gesprochene Wort, und es gelten die Körper, aus denen heraus der Text entsteht, sonst nichts." Ein Performance-Denkmal für Kleist sei das, "ein Fest für Freunde der Sprechkunst".
In der Kölnischen Rundschau (30.1.2012) schreibt Sandra Nuy: Zu Beginn des Abends legten die drei Darsteller schweigend ein großes schwarzes Bodentuch zusammen. "Die überdeutliche Metaphorik des Aufdeckens (...) bleibt neben der traumatisierten Körperlichkeit einer der wenigen Hinweise, was Chétouane an der Novelle interessiert haben mag: der Mensch scheint als Marionette des Zufalls inmitten einer Welt in Aufruhr und Unordnung." Ansonsten gelte: "Bei Chétouane haben sich alle Mittel des Theaters dem Wort unterzuordnen." Die beiden sprechenden Darsteller wirkten "manchmal ein bisschen wie ruhiggestellt" auf Nuy – da sich der Tonfall nie wirklich ändere, übertrage sich die Sedierung unweigerlich aufs Publikum.
Zwiespispältig nimmt Alexander Haas den Abend in der taz (31.1.2102) auf. Zwar findet der Kritiker es teilweise geradezu beglückend, wie die Schauspieler es verstehen, "die Qualitäten des Kleist-Textes im Raum beinahe greifbar werden zu lassen." Chétouane gebe ihnen das, was dafür unabkömmlich sei: Zeit. "Abwechselnd sprechen sie die Textpassagen und passen dabei ihre Sprech- und dezente Spielweise dem Ton der Erzählung an. Kleists gnadenloser Wechsel zwischen tiefem Ernst, Traurigkeit, Gewalt und heiter gelassener 'Seligkeit' kommt so zum Tragen." Die Gleichberechtigung von Spielerkörper, Blick, Sprache und Raum macht dieses Kleisttheater für Haas zu einer ganzheitlichen Erfahrung. "Die Grenze zum Esoterischen wird dabei allerdings überschritten." Dann kippt Chétouanes Stil für diesen Kritiker ins unfreiwillig Komische, Manierierte oder in die Bedeutungsschwangerschaft.
Im Ziel, Raum, Körper und Sprache zur Einheit zu fügen, gibt sich dem Eindruck von Vasco Boenisch von der Süddeutschen Zeitung (31.1.2012) zufolge Chétouane diesmal noch heiliger als sonst. "Die Spieler scheinen von innen zu strahlen, während das Publikum zusehends ermattet." Allerdings findet der Kritiker auch: "so schlicht strukturiert, ist der Abend angenehm bescheiden. Chétouane biete mit seinen Akteuren keine Einfühlung, "höchstens eine Anfühlung, und weniger noch als ein Betasten ein Beschirmen des formschönen Textes." Das aber wirke so ehrenhaft wie unpersönlich. "Der behutsam-liebliche Wortstrom geht über in Bewegungen, die das Gesprochene meist nur eins zu eins illustrieren."
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