Daumen hoch für Josef K.

4. Dezember 2023. Der Mann, der sich eines Tages unversehens als Angeklagter in einem undurchsichtigen Prozess wiederfindet: Josef K. aus Kafkas "Prozess" ist zum Sinnbild des modernen Menschen geworden. Auch wenn es im Detail gar nicht leicht ist, Sinn aus seiner Geschichte zu machen. Wie Pınar Karabulut in Köln zeigt.

Von Gerhard Preußer

Franz Kafkas "Der Prozess" in der Regie von Pınar Karabulut in Köln © Krafft Angerer

4. Dezember 2023. Kafkas Romane sind Übungen in Sinngebung. Den Sinn findet man nicht, er ist nicht da. Man muss ihn geben. Die Frustration des Rezipienten ist, dass er von Kafka immer auf Sinnsuche geschickt wird und doch immer nur auf sich selbst zurückverwiesen wird: Es ist dein Sinn, den du gibst. Die detailgenaue Schilderung der Vorgänge scheint metonymisch einen beispielhaften Ausschnitt aus der Realität wiederzugeben, doch dann merkt man, diese fiktive Wirklichkeit ist nur eine Metapher, ein Bild. Wofür? Für die Existenz des Menschen? Für das Leben? Für den Zustand der Welt? Es gibt keine Lösung des Sinnrätsels.

Ein Fragment wird neu komponiert

Das versucht Pınar Karabuluts Inszenierung von Kafkas Romanfragment "Der Prozess" nachzuvollziehen. Kafkas Hauptwerk, das er selbst nie veröffentlicht hat, ist häufig für die Bühne oder den Film adaptiert worden (zum Beispiel von André Gide, Orson Welles, Harold Pinter, Peter Weiss), wegen seiner Geschlossenheit – trotz des fragmentarischen Charakters – und wegen seines folgerichtigen und empörend paradoxen Schlusses: Josef K.s Einverständnis mit seiner Tötung durch die Schergen eines dubiosen Gerichts. Die Kölner Inszenierung bricht diese Geschlossenheit auf und zeigt locker ineinandergleitende Bilder, deren Zusammenhang oft der narrativen Logik widerspricht.

DerProzess3 1200 Krafft Angerer uAlle in diversen Rollen: hier Sabine Weibel © Krafft Angerer

Den Anfang macht Josef K.s Verhaftung im Video. Auch im Bild wechseln die Perspektiven, mal schräg, mal nah, mal von oben wie von der Überwachungskamera in der Deckenlampe. Und schon im Video wird klar: Personale Identität ist auch kein Rettungsanker in dieser irritierend flexiblen Welt. Das Ich ist nicht gespalten, sondern vervielfacht in gleiche Subjekte. Josef K., das sind viele. Alexander Angeletta und Bekim Latifi doppeln einander, agieren ständig parallel oder komplementär. Dann kommen die anderen Darsteller:innen auf die Bühne, auch sie in einheitlichen roten Anzügen. Auch sie sind Kopien, Spiegel- und Begleit-Ichs des Justizopfers Josef K. Prospekte zeigen Büros, Mauern, Bergspitzen, fliegen von oben herein und verschwinden wieder.

Josef K. als Däumling

Die Szene mit Kaufmann Block wird angespielt und mehrfach unterbrochen durch den Satz "Diese Szene blieb unvollendet". Szenen mit langatmiger wörtlicher Deklamation von Kafkas Text, bebildert durch quasi ausdruckstänzerische Choreographien des Ensembles, wechseln ab mit farbigen, prallen Szenen von Dialogen Josef K.s mit seinen Helfern: Leni, das verführerische Dienstmädchen mit aufgebauschter Weiblichkeit (Nicola Gründel und Lola Klamroth), Huld, der kranke Advokat als Stehaufmännchen (Sabine Weibel), der Gerichtsmaler Titorelli als bunter Wichtigtuer (auch Sabine Weibel).

DerProzess4 1200 Krafft Angerer uZwischen Video und Bühne: das Ensemble in Kostümen von Teresa Vergho © Krafft Angerer

Über Bekim Latifi schwebt eine riesige Hand. Und während er mit Emphase, mit Kletterübungen und der Beweglichkeit eines Skateboarders dem Publikum, die unergründlich raffinierte Funktionsweise des Gerichts erklärt, senkt sich die riesige Hand aus dem Jenseits des Bühnenhimmels herab, schnappt sich das Menschlein zwischen Daumen und Zeigefinger und zieht es in die Höhe. Dort sitzt Däumling Josef K., unablässig deklamierend, und klammert sich an den metaphysischen Daumen.

Das Gesetz greift sich Josef K., stößt aus dem hohen Nichts auf ihn herab, aber es ist auch kein anonymisierter Gott, nur eine Papphand. Zwischen Text und Bild klaffen die Widersprüche, so macht sich die Inszenierung lustig über alle religiösen Deutungsversuche und zollt ihnen doch Respekt. Ein Höhepunkt, wie Latifi diese Litanei der Bürokratiekritik variiert und wie Regie und Bühnenbild Ironie und Deutlichkeit verbinden.

"Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht"

Erst nachdem Josef K. schon erstochen auf dem Friedhof liegt, folgt die große Szene im Dom mit der Legende vom Türhüter: Ein weiterer völlig gegensätzlicher Höhepunkt. Auf einem schwebenden rot leuchtenden Block im Dunkel der Bühnenmitte schiebt sich Nicola Gründel, die nun Josef K. ist, voran, während unter dem glühenden Balken Lola Klammroth als Gefängniskaplan die Legende erzählt. Die Inszenierung erspart dem Publikum auch nicht die kabbalistische Diskussion über die Auslegung dieser Parabel: "Richtiges Auffassen einer Sache und Missverstehen der gleichen Sache schließen einander nicht aus." Nach allem verwirrenden Vexierspiel kann man nun Satz für Satz mit Kafka mitdenken.

"Man muss nicht alles für wahr halten, man muss es nur für notwendig halten", argumentiert der Kaplan. Und wenn Unwahres zur Notwendigkeit wird, schlussfolgert Josef K.: "Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht." So gedankenreich desillusioniert wird man aus dem Theater entlassen.

 

Der Prozess
nach Franz Kafka
In einer Fassung von Pınar Karabulut
Regie: Pinar Karabulut; Bühne: Michela Flück, Kostüme: Teresa Vergho, Musik: Daniel Murena, Video: Susanne Steinmassl, Videoassistenz: Amon Ritz, Licht: Michael Frank, Dramaturgie: Sarah Lorenz.
Mit: Alexander Angeletta, Nicola Gründel, Yvon Jansen (in der 2. Vorstellung ersetzt durch Anja Laïs), Lola Klamroth, Bekim Latifi, Sabine Waibel.
Premiere: 30. November 2023
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.schauspiel.koeln

Kritikenrundschau

Pinar Karabulut wolle "offensichtlich (zu) viel: den ganzen Roman erzählen, eine ästhetisch ansprechende, sogar innovative Form dafür finden, die Akteure glänzen lassen, obwohl sie keine durchgehenden Rollen spielen dürfen", berichtet Martin Krumbholz in der Süddeutschen Zeitung (1.12.23). "Das ist punktuell aufregend, ermüdet aber sehr."

"Ein starker Abend, rasant, grotesk, unbarmherzig", schreibt Christian Bos im Kölner Stadtanzeiger (2.12.23, €). Der Kritiker entdeckt in der Inszenierung "die Grammatik von Luis Buñuel und David Lynch", findet aber, der Abend entwickele "einen umso größeren Sog, desto mehr Karabulut den eigenen Stärken vertraut, desto lustvoller sie den vereinzelten Massenmenschen K. mit der Ziellosigkeit seines Daseins konfrontiert".

Von einer Inszenierung, die "trotz mancher Irrwege" letztlich "doch noch zu Franz K. fand", berichtet Hartmut Wilmes in der Kölnischen Rundschau (2.12.23, €). Pinar Karabulut ziehe in ihrer Bühnenadaption "noch eine weitere Irritationsebene" in den Stoff ein, deren "inhaltlicher Mehrwert … wolkig" bleibe, findet der Kritiker. Doch schließlich fange die Regisseurin "den Geist der Vorlage" wieder ein.

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