Reine Formsache - Theater an der Ruhr
Gefangene der Form
von Max Florian Kühlem
Mülheim, 9. November 2019. Die 90 Minuten auf der Bühne des Mülheimer Theaters an der Ruhr, die die Uraufführung "Reine Formsache" darstellen, sind nur ein Teil der neuen Arbeit des Collective Ma’Louba. Regisseur Waël Ali, der zum ersten Mal mit der Gruppe arbeitet, hat das Stück mit improvisierten Elementen als offenen, stetiger Veränderung unterworfenen Prozess angelegt – und als solcher ragt es über die Grenzen des Theatersaals hinaus.
Zersprengte Identitäten
Am arabischen Buffet zur Premierenfeier sprechen zwei Menschen über einen Freund, der wie sie selbst vor einigen Jahren aus Syrien geflüchtet ist. Er hat in kurzer Zeit viel erreicht: rasend schnell die deutsche Sprache gelernt, einen Ausbildungsplatz gefunden, die Ausbildung abgeschlossen, einen Job gefunden. Doch ist er nun angekommen im neuen Land? Fühlt er sich heimisch? Nein. Ein anderer denkt über seine Identität nach: Meistens sei ihm herzlich egal, dass er aus Syrien stamme. Er wolle nur ein glückliches und erfülltes Leben als Mensch. Aber manchmal, im Kontakt mit Deutschen, da lasse er diesen Fakt doch gern heraushängen: Ich bin Syrer. Ich bin anders. Er sagt: "Vieles davon, worüber wir alle nachdenken, habe ich im Stück gefunden."
Mehr als sonst im Theater ist es wichtig, diesen Buffetgesprächen zu lauschen, sich einzumischen, Fragen zu stellen. Denn "Reine Formsache" erzählt vom Kampf um eine stimmige Erzählung über die eigene Identität, die Vergangenheit und Gegenwart und vielleicht sogar noch eine annehmbare Zukunftsperspektive zusammenbringt. Von einem Kampf, den sich ein in Deutschland aufgewachsener Mensch nicht vorstellen kann, den er sich aber vorstellen können sollte, um seine neuen Nachbarn und Freunde zu verstehen.
Die berühmte Schauspielerin im Verhör mit einem Offizier
Die Schauspielerin Amal Omran kennt in Syrien jeder – aus Film, Fernsehen und von den großen Bühnen. Im Collective Ma’Louba gehört sie jetzt zur künstlerischen Leitung und spielt auch selbst. Ma’Louba, das am Theater an der Ruhr angesiedelt ist, ist der seltene Glücksfall einer über den Projektstatus hinausgehenden, auf Dauer angelegten Gruppe von Theatermachern im Exil. Aber ist Amal Omran deswegen angekommen? Fühlt sie sich heimisch? Nein. Auf der Bühne weiß sie nicht, wie sie über ihr Leben erzählen soll, ob sie überhaupt noch spielen kann – oder sollte. Davon handelt "Reine Formsache" – und davon, dass es ihrem Spiel-Partner Mouayad Roumieh ähnlich, aber ein bisschen anders geht.
Reine Formsache: Amal Omran Mouayad Roumieh © Gianmarco Bresadola
Über weite Strecken verhandeln die beiden tatsächlich eine Formsache. Sie sitzen vor einer Kamera, deren Bild auf einen Würfel aus halbtransparenten Flächen übertragen wird, und fragen: Was ist unsere Biographie und wie und mit welchen Mitteln sollen wir davon erzählen? Sie entscheiden sich für ein Verhör als Bühnensituation. Sie spielt – nahe an ihrer eigenen Geschichte angesiedelt – die 52-jährige Schauspielerin, die wieder einreisen will in ihre vom Bürgerkrieg gebeutelte Heimat. Er spielt einen Offizier. Aber eigentlich ist er damit nicht ganz einverstanden, fällt immer wieder aus der Rolle, verteilt sein Kostüm an Menschen im Publikum. Holt gar mehrmals eine Übersetzerin auf die Bühne, um vom festgelegten Text der Übertitelung abweichen zu können.
Abgeschnittene Lebensfäden
In ihrem Spiel mit Metaebenen kreisen sie um die Fragen nach der Wirkmächtigkeit des Theaters. Sie zeigen, wie die Kunst manchmal vor dem Leben kapitulieren muss – dass es wichtiger sein kann, mit ihr einen Raum für drängende Fragen zu schaffen als eine konsistente Erzählung mit klaren Antworten. In einer Szene deutet Amal Omran gefesselte Hände an, ihr Körper zittert. Ihr Wärter malt ihr eine fratzenhafte Maske, später auch sich selbst. Zusammen werde sie so Gefangene der Form, die nicht mehr ausreicht, um eine zerrissene Lebenswelt auszudrücken.
Ausbruch aus einer ungenügenden Form © Gianmarco Bresadola
"Während du Mozarts Requiem gehört hast, habe ich das gehört", sagt er und legt eine Kassette mit einer Hymne auf Hafiz al-Assad ein, den Vater des jetzigen syrischen Präsidenten Baschar al-Assad. Sein Vorwurf: Sie, die sich einen Status als privilegierte Künstlerin schaffen konnte, hatte so viel mehr Möglichkeiten zu Dissidenz und Opposition als er, der Junge aus einem regimetreuen Haushalt. Und überhaupt: Warum nimmt man Künstler immer als interessante Individuen wahr und Offiziere oder Soldaten als Teil einer gleichgeschalteten Herde?
Irgendwann hocken die beiden zwischen Video- und Tonkassetten, streift die Kamera an alten Fotografien vorbei. In historischen Medien suchen sie abgeschnittene Lebensfäden und erzählen davon mit klug eingesetzten modernen Mitteln des Performancetheaters. Es wird sich lohnen, dieses Stück immer wieder anzuschauen und danach das Gespräch zu suchen.
Reine Formsache
von Mudar Alhaggi und Ensemble
Uraufführung
Regie: Waël Ali, Bühne/Kostüm: Robert Sievert, Dramaturgie: Rania Mlehi, Produktionsleitung: Immanuel Bartz, Übersetzung: Larissa Bender, Komposition: Khaled Yassine, Licht: Fritz Dumcius, Video: Ghazi Frini.
Mit: Amal Omran, Mouayad Roumieh.
Premiere am 9. November im Theater an der Ruhr, Mülheim an der Ruhr
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.theater-an-der-ruhr.de
www.collective-malouba.de
Mehr zum Collectice Ma'Louba: Im Mai 2017 besprachen wir Deine Liebe ist Feuer im Theater an der Ruhr.
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