Weißes Rauschen - Daniel Fish zerlegt bei den Ruhrfestspielen Don DeLillos Roman in Wortlisten
Das schwarze Loch spricht
von Gerhard Preußer
Marl, 6. Juni 2018. Wer meint, Romandramatisierungen seien langweilig, weil sie nur im Zeitraffer die Handlung abspulen könnten, findet in Daniel Fishs Version von Don DeLillos "Weißes Rauschen" ein Gegenbeispiel: kein Plot, keine Figuren, kein Erzähler, nur Sprache, nur Reihungen, aneinandergehängte Adjektive, Substantive, Nominalphrasen: die Poetik des Asyndeton.
Eine Eigenart von DeLillos Stil in diesem schon klassischen Roman von 1985 sind diese Reihungen, unverbundene Aufzählungen. Sie zeigen die Vielfalt von Dingen, den materiellen Überfluss. "Decken, Stiefel und Schuhe, Stifte und Bücher, Bettwäsche, Kopfkissen, Decken, zusammengerollte Bettvorleger und Schlafsäcke..." (Das ist eine Beschreibung des Haushalts der Hauptfigur).
Das fleischige Deutsch
Eine Überfülle von Wörtern als Zeichen für eine krankhafte Überfülle von Dingen, von Reizen, von Übersättigung, von Übergewicht. Oder die Umkreisung eines komplexen Eindrucks: "Fleischig, verschroben, spuckesprühend, mit einem Stich ins Violette gehend und grausam". So nimmt die Hauptfigur, ein des Deutschen unkundiger Universitätsdozent, die deutsche Sprache wahr. Oder: "Kriege, Hungersnöte, Erdbeben, Vulkanausbrüche, Überschwemmungen, Tornados, Epidemien seltsamer Krankheiten" – eine Liste aller aktuellen apokalyptischen Ängste.
Der amerikanische Schauspieler Bruce McKenzie spricht diese Wortkaskaden in der Koproduktion des Freiburger Theaters mit den Ruhrfestspielen auf Englisch in einem kreisrunden Ausschnitt einer bühnenfüllenden weißen Wand sitzend, stehend oder liegend. Auf zwei Monitoren sieht man am Rande der Bühne die deutsche Übersetzung. Auf die weiße Wand werden Videos projiziert: Kinder in Großaufnahme stellen sich mit ihren Namen vor, eine Frau liegt in einem Bett. Alle sehen uns mit festem Blick an.
Vokabeltest bestanden
Aber worin besteht die Beziehung zwischen Wort und Bild? Es gibt einen Satz im Roman: "It is all there, in full force, charged waves of identity and being. There are no amateurs in the world of children." Wer ihn kennt, kann sich etwas bei den Kinderblicken denken. Einmal wird eine Hitler-Rede auf dem Reichsparteitag gleichzeitig neben einem Elvis-Presley-Song gezeigt. Wer den Roman kennt, kann sich einen Reim darauf machen: Jack, der Ich-Erzähler des Romans, hat seine akademische Karriere seinem Spezialgebiet "Hitler" zu verdanken, ein Fakultätskollege will das Gleiche mit "Elvis" versuchen. In einer Phase der Inszenierung geben die Video-Kinder die deutschen Wörter vor, der Schauspieler antwortet mit dem englischen Original. Eine Art Vokabeltest, fehlerfrei. Dazwischen immer mal wieder weißes Rauschen: helles Geflimmer auf der Projektionswand und ein nervtötendes Störgeräusch.
In dem Sturzbach von wunderschönen englischen Wörtern, der sich über das Publikum ergießt, kann man aber die Handlung des Romans nicht erkennen. Höchstens am Ende erahnen. Dann werden die Nominalphrasenreihen doch noch zu Satzreihen. Die Kinder werden erst als Verwundete gezeigt, dann wie sie zu Verwundeten geschminkt werden. Im Video verbreitet ein Kind mit einer Nebelmaschine eine weiße Wolke, die dann auch tatsächlich aus der Öffnung auf der Bühne in den Zuschauerraum quillt. Das ist nun doch etwas Illustration des "Airborn toxic event", der Giftgaswolke, in die Jack und seine Familie hineingeraten. Schließlich hört man mehrfach den vollständigen Mordplan, mit dem Jack den Liebhaber seiner medikamentensüchtigen Frau ermorden will. Aber das sind nur Ahnungen der Romanhandlung.
Rauschende Wortkaskaden
Ohne Kenntnis des Romans kommt man wohl nicht mal zu freien Phantasien über den Zusammenhang von Wort und Bild. Die Worte rauschen zu schnell vorüber. Zuletzt spricht ein Kind in einer Videoaufnahme die "Pledge of Allegiance", den Fahneneid, den amerikanische Schülerinnen und Schüler morgens ablegen müssen, auf Deutsch. So viel versteht jeder: es geht um die Krise der amerikanischen Gesellschaft.
Optimisten meinen, Romandramatisierungen würden dazu anregen, Romane zu lesen. Pessimisten meinen, Romandramatisierungen seien gedacht für Leute, die wissen, dass man den Roman gelesen haben sollte, aber keine Lust haben, ihn zu lesen. Diese Feier von Don DeLillos Sprache ist für diejenigen, die den Roman gelesen haben, ein Genuss. Für die, die ihn nicht kennen, eine Aufforderung zu höchster Konzentration, um noch einen Sinnzipfel zu erhaschen oder ihn sich selbst zu häkeln. Sonst bleibt nur weißes Wortrauschen oder Frustration.
Weißes Rauschen
von Daniel Fish und Bruce McKenzie nach dem Roman von Don DeLillo
Koproduktion des Theaters Freiburg mit den Ruhrfestspielen
Regie: Daniel Fish, Bühne: Andrew Lieberman, Kostüme: Doey Lühti, Video, Licht, Soundregie: Jim Findlay, Dramaturgie: Michael Billenkamp.
Mit: Bruce McKenzie, im Video: Stefanie Mrachacz.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause
www.theater.freiburg.de
www.ruhrfestspiele.de
"Was Daniel Fish hier macht, ist auf eine derartige Weise abgehoben, dass es extrem auf die Nerven geht", so Stefan Keim auf WDR 3 (7.6.2018). Es sei ein elitäres Theater, das allen den Stinkefinger zeige, die den Roman nicht vorher gelesen hätten. "Man kommt nicht mal in die Nähe einer Erzählung."
Das Bühnenbild sei großartig, schreibt Martina Möller in der Recklinghäuser Zeitung (8.6.2018). Als Zuschauer fühle man sich angesichts dieser Stück-Zertrümmerung hilflos. Es gelinge nicht, Zusammenhänge zu erkennen. Das "spannende Theaterexperiment“ koste Kraft und berühre nicht. "Gemütlich muss Theater mit so viel Zivilisationskritik aber auch nicht sein."
Fishs Fassung klinge nach assoziativem Schreiben und erinnere streckenweise an die Brachialpoesie eines Charles Bukowski, schreibt Michael S. Zerban auf o-ton.online. Bruce McKenzie trage den Text gewollt monoton vor, "aber mit kleinen Abstufungen, die sehr gekonnt den trockenen Text noch vertrockneter erscheinen lassen". Nur an ganz wenigen Stellen komme so etwas wie Fröhlichkeit im Publikum auf.
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