Die Erdfabrik - Ruhrtriennale
Kanarienvogel unter Tage
12. August 2023. Der Komponist Georges Aperghis untersucht in seiner Uraufführung für die Ruhrtriennale die geschundenen Bergbau-Landschaften an der Ruhr.
Von Max Florian Kühlem
12. August 2023. Es ist der zweite Abend der Ruhrtriennale, mit "Die Erdfabrik" steht im Dampfgebläsehaus des Landschaftsparks Duisburg-Nord die erste Premiere in der Sparte Musiktheater an, mit der das Festival sich international einen Namen gemacht hat. Der 77-jährige Komponist Georges Aperghis hat eine Uraufführung verfasst und selbst Regie geführt. In der Ankündigung ist von einer "imaginären Reise hinab durch die geschichtete Zeit" die Rede. "Ständiger Begleiter ist nachtschwarze Dunkelheit, Urmutter der Angst und der Schlaflosigkeit, aber auch der ältesten Spiele und skurrilsten Fantasiegeburten." Die Erwartungen dürfen also zu Recht in die Höhe schießen. Und sie könnten wohl nicht stärker gebrochen werden.
Was hätte man erwarten können: Ein spektakuläres, immersives Ereignis, eine eindrucksvolle Kreation zwischen Musik, Theater und Dichtung – immerhin gibt es auch noch ein "Libretto" des Schriftstellers Jean-Christophe Bailly, der sich mit der existenziellen Dimension der Dunkelheit beschäftigt hat. Vielleicht würde es ja sogar einen neuen Notlicht-Skandal geben, wie damals 1972, als Thomas Bernhard und Claus Peymann in Salzburg eine Szene in absoluter Finsternis spielen wollten.
Zu hoch gegriffen
Nein, nein, nichts dergleichen. Alles viele Nummern zu hoch gegriffen. "Die Erdfabrik" ist kein Musiktheater. Es gibt kein Libretto von Jean-Christophe Bailly, nur zwei Langgedichte. Und es gibt auch keine nachtschwarze Dunkelheit, zumindest nicht im Bühnenraum. Kein immersives Ereignis. Vielmehr eine schnurrige Aufführung zeitgenössischer Kammermusik. Mit zugegebenermaßen hervorragenden Musiker*innen, die ganz offenbar darum gerungen haben, jedes feine Detail der Komposition in größtmöglicher Perfektion hervorzulocken. Die aber leider auch Texte sprechen müssen, weil man aus irgendeinem Grund darauf verzichtet hat, professionelle Sprecher zu engagieren.
So schwirrt einem tatsächlich die Arbeitszeugnis-Formulierung "hat sich stets bemüht" im Kopf herum, wenn die eben noch an Schlagwerk, Bass oder im Sopran-Gesang Brillierenden auf einmal Bailly-Reflektionen über die Dunkelheit verkünden: "wo sind wir? / draußen oder drinnen / in der Nacht, im All oder unter der Erde / da, wo noch nie Licht hingekommen ist / das Dunkel ist diese völlige Abwesenheit von Licht / mehr noch die Abwesenheit von Wänden / stetig arbeitende Materie / wo Menschen nur hingelangen, wenn sie tot sind / wo sich das Leben aber fortwährend erneuert". In diesem Setting klingt das leider ein bisschen nach dem Ergebnisvortrag der Projektwoche im Philosophie-Leistungskurs.
Avantgarde-Nervtötung
Und die Musik. Wenn nun jemand zeigen wollen würde, was an zeitgenössischer Musik beziehungsweise der Avantgarde-Musik der Moderne, die sich in die Gegenwart fortschreibt, schlimm ist, dann könnte er die ersten Minuten von "Die Erdfabrik" heranziehen. Da blasen drei Musiker*innen volles Rohr in Melodicas, also diese Instrumente, die von jeder Jam-Session verbannt werden, weil sie so dominant und nervtötend sind. Eine Trompete kreischt und eine Sängerin artikuliert unverständliche Laute.
Man könnte mit dem Mäkeln noch lange weiter machen. Denn was soll das überhaupt, dass hier zwei Pariser Künstler engagiert werden, die den Menschen im Ruhrgebiet etwas über das Dunkel der Kohlenminen erzählen wollen? Komponist Georges Aperghis führt seine Expertise im Interview so aus: "Als ich ein Kind war, haben wir noch mit Koks geheizt. Ich habe angefangen zu recherchieren, viel über die Minen zu lesen, Fotos von Bergleuten anzuschauen."
Neue Wurzeln in verödetem Grund
Aber trotz allem gewinnt dieser Abend, der im Programm von zum Beispiel den Wittener Tagen für neue Kammermusik oder der Darmstädter Ferienkurse sicher besser aufgehoben gewesen wäre, im Laufe der rund 70 Minuten doch etwas und schleicht sich mit seiner aus der Zeit gefallenen Ästhetik mit Kritzel-Animationen auf drei Videowänden und Musiker*innen an Kinderflöten, Lockvögeln, singenden Sägen, Hämmern, Sirenen, Ketten, Glasflaschen oder auf Gefäße fallenden Tropfen in Kopf und Herz. Ja, alle Bilder sind hier ein bisschen zu eindeutig. Macht die Sängerin da gerade wirklich lautmalerisch den Kanarienvogel der Bergleute unter Tage nach?
Aber wenn dann am Ende die langen, leere Räume visualisiert und akustisch ausgelautmalt werden, die der Bergbau zurücklässt, und wie die Natur sie sich wieder zurückerobert mit ihren in der Dunkelheit tastenden Wurzeln, dann ergibt dieser Hoffnungsschimmer auch inszenierungsübergreifend Sinn. Ruhrtriennale-Intendantin Barbara Frey hat in ihrem "Sommernachtstraum" nebenan in der Kraftzentrale des Landschaftsparks Duisburg-Nord nämlich ein paar Bäumchen ins Bühnenbild setzen lassen, die vielleicht genau diese Arbeit gerade machen: die vom industrialisierten Leben der Menschen vergifteten Böden zurück zu verwandeln in lebenswerten Grund.
Die Erdfabrik
von Georges Aperghis mit Text von Jean-Christophe Bailly
Uraufführung
Komposition, Regie: Georges Aperghis, Text: Jean-Christophe Bailly, Künstlerische Mitarbeit: Emilie Morin, Bühne, Requisite: Nina Bonardi, Kostüme: Julie Scobeltzine, Licht Design: Daniel Lévy, Sound Design: Thomas Wegner, Co-Sounddesign: Sebastian Schottke, Video Design, Animation: Jeanne Apergis, Video Installation, Technik: Jérome Tuncer, Musikalische Studienleitung: Uli Fussenegger.
Stimme: Donatienne Michel-Dansac, Perkussion: Christian Dierstein, Dirk Rothbrust,Trompete: Marco Blaauw, Kontrabass: Sophie Lücke, Künstlerische Produktionsleitung: Stefanie Hiltl, Technische Projektleitung: Darko Šošić.
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause
Premiere am 11. August 2023
www.ruhrtriennale.de
Kritikenrundschau
"Vielschichtigkeit" und "Komplexität" bescheinigt Christoph Ohrem dieser Uraufführung in der Sendung "Fazit" auf Deutschlandfunk Kultur (11.8.2023). "Anspielungsreich" und "originell" werde hier ein "Assoziationsraum“ eröffnet, und "wenn man nicht aufpasst, verliert man sich auch darin". Die Texte von Bailly verleihen dem Abend "poetische Wucht", "segeln manchmal auch bisweilen am Kitsch", bieten den Klängen aber zugleich ein "ätherisches Gegengewicht". Die Fragmente dieses Abends fügten sich zu "einem großartigen Ganzen zusammen".
"Die Bildgewalt des Gedichts [Die Erzstufe von Annette von Droste-Hülshoff; d.Red.] nahm Jean-Christophe Bailly auf und setzte sie in eigenen Poemen fort, verblasene, von einem aussagelosen Kunstwillen determinierte Verstiegenheiten, eitel und gespreizt", so Egbert Tholl von der Süddeutschen Zeitung (14.8.2023). Zum Glück habe Asperghis Musik mit diesem mythisierenden Romantizismus nichts am Hut, l'art pour l'art bleibe sie bis auf wenige Momente hier aber dennoch. Viel Lob ernten die Instrumentalist*innen. "Dieses Quintett ist die Aufführung, es macht instrumentales Theater, das auch den Gesang als oft geräuschhaftes Ereignis inkludiert, daneben klingen die Instrumente, als sprächen sie miteinander, mal zärtlich, mal aufgeregt."
Dem Stück fehle eine nachvollziehbare Zuspitzung, bemängelt Pedro Obiera in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (14.8.2023). "Man spürt nicht den Abstieg in tiefere Erdschichten. Nichts wird dunkler, enger, beklemmender oder einsamer. Selbst die Klangkulisse des prominenten Komponisten ist zwar äußerst filigran und detailreich, weist aber nur wenige Kontraste und erst recht keine kontinuierlichen Entwicklungen auf." Mit der diffizilen Komposition bestätige Aperghis seine Könnerschaft, sie überflute jedoch in ihrer rastlosen Hyperaktivität mögliche Assoziationen zum Reich der Dunkelheit.
"Asperghis und Bailly interessieren sich nicht für reale Maloche unter Tage, sondern flüchten sich in eine romantisierende Märchenwelt", so Klaus Stübler von den Ruhr Nachrichten (14.8.2023). "Was 'Die Erdfabrik' konkret erzählen und aussagen will oder soll, bleibt letztlich der Fantasie des einzelnen Zuhörers / Zuschauers überlassen." Der Kritiker schließt: "Besonders fantasiebegabte Theaterbesucher, die zusätzlich Aufgeschlossenheit gegenüber nicht gerade eingängiger neuer Musik mitbringen, mögen sich daran erfreuen."
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