Romeo und Julia - Schauspiel Wuppertal
Kugelmenschen kennen kein Corona
von Sarah Heppekausen
Wuppertal, 19. September 2020. Ein Bilderreigen ist das. Zu Beginn Schattenfiguren im Nebel hinterm Gaze-Vorhang. Wie in einer Fotografie frieren sie immer wieder ein, zum Beispiel für die Kuss-Szene, die an Doisneaus "Der Kuss" im Paris der 1950er Jahre erinnern mag. Oder an den "küssenden Matrosen" aus New York, das berühmte Foto zum Ende des Zweiten Weltkriegs.
Dann dient der Vorhang als große Leinwand. Zu sehen sind Ausschnitte von Protesten der französischen Gelbwestenbewegung und dem Eingreifen der CRS-Kräfte. Bilder heutiger Krawalle, während als Untertitel Shakespeares aggressionsgeladene erste Szene (in der Übersetzung von Gesine Danckwart) durchläuft, bis zum: "Ich will Frieden...", das mahnend etwas länger im Bild bleibt.
Verlebt trotz jungen Alters
Nächste Szene: Nahaufnahme Romeo und sein Cousin Benvolio, verzerrte Gesichter unter entstellenden Gipsmasken (die kein Mund-Nasen-Schutz sind, sondern Augen, Nasenlöcher und Unterlippe freilassen). Auch Julia steckt unter solch einer Maske, rauchend, cool, schon verlebt trotz ihres jungen Alters.
In seiner Inszenierung von Shakespeares "Romeo und Julia" am Schauspiel Wuppertal bietet Nicolas Charaux reichlich Bild- und Gedankenmaterial. Die Premiere war bereits für Ende März geplant, jetzt konnte sie unter "Corona-tauglichen" Bedingungen stattfinden.
Was zunächst wild zusammengewürfelt erscheint in dieser assoziationsreichen Vielfalt, bekommt dann doch Halt durch einen philosophischen Überbau. Der Regisseur springt wieder in der Zeit, diesmal in die Antike, Auftritt Sokrates und Aristophanes. In seinem "Symposion" lässt Platon das Thema Liebe diskutieren. Aristophanes erzählt den Mythos unserer ehemaligen Naturgestalt, dem Kugelmenschen: vier Hände, vier Füße, zwei Gesichter auf einem Kopf und drei Geschlechter. Zeus zerteilte diese übermütigen Kugelmenschen in zwei Hälften, die nun ständig danach begehren, wieder zusammenzuwachsen.
Suche nach Vervollkommnung
Der Mensch ist ein Mängelwesen und Liebe die Begierde nach dem Ganzen. So wird das Brautschau-Maskenfest der Capulets zu einem Fest der möglichen Vervollkommnung. Als hätten Romeo und Julia das in ihrem leidenschaftlichen, kosmischen, den Tod nicht scheuenden Lieben nicht längst geahnt. Wer sich wiedergefunden hat, kann die Maske ablegen.
So simpel, so wirkungsvoll ist dieser Akt. Echte Menschen – jetzt in zeitgemäßen Kostümen – spielen echte Gefühle. Julia Meier (schwarze Jeans, schwarzes Shirt und Sneaker) gibt eine selbstbewusste Julia, zumindest vor ihrem auch mal albern-sensiblen Romeo (Konstantin Rickert). Als Tochter ist Julia eine Ausgelieferte, die sich wie eine Schmeißfliege ans übergroße Videogesicht ihres Vaters auf der Leinwand wirft.
Die göttliche Macht schwächelt
Der große Zampano des Spiels aber ist Lorenzo. Luise Kinner verleiht ihm etwas Wahnsinniges, wenn sie ihren Kopf mit den kurzen weißen Haaren hin und her wirft. Ihr Lorenzo steht immer auch distanziert über den Dingen, selbst wenn er mittendrin die Fäden führt. Kein Pater, vielmehr ein Möchtegern-Zeus, dem die göttliche Macht abhanden gekommen ist. Der stattdessen beim Deephouse-Mashup-Hit "In my Mind" zum Tanzen auffordert oder comedyreif die Hygieneschutzverordnung des Theaters vorträgt.
Apropos Hygieneschutz. Shakespeares Hohes Lied der Liebe auf Abstand, so ganz ohne Berührung, Balkongeflüster ohne jeden Kuss und Körperkontakt? Weil Regie und Ensemble sich lange daran halten, knallt das Ende umso überraschender. Romeo und Julia nähern sich an, nicht nur seelisch, auch physisch. Millimeter für Millimeter. In Zeiten von Corona ist diese Handreichung ein knisternder Funkenschlag, diese Umarmung ein emotionales Feuerwerk.
Zum Finale sprühen und schäumen die anderen mit Visier und in Schutzanzügen die beiden innig Vereinten ein – der Liebestod als Statue. Oder wurden die Regelbrecher etwa zu Tode desinfiziert? Nein, da geht's wohl eher zurück zum vollkommenen Kugelmenschen. Das stimmige Bild einer normgelösten Liebesutopie, vollendet im erzwungenen Liebestod.
Aber an Komik – die bei Shakespeare und in Gesine Danckwarts klarer, lebendiger Übersetzung natürlich immer auch vorhanden ist – spart auch Charaux nicht. Das gelingt mal besser (Paris als verirrter Elfe wie aus dem "Sommernachtstraum" gesprungen), mal schlechter. Nebenfiguren wie Tybalt oder Mercutio bleiben gesichts- und damit charakterlose Perückenträger, die effektvoll schreiend sterben dürfen. Charaux feiert die Liebe als Ereignis, das erscheint an mancher Stelle dann auch mal willkürlich.
Romeo und Julia
von William Shakespeare
Deutsch von Gesine Danckwart
Regie: Nicolas Charaux, Bühne und Kostüme: Dominik Freynschlag, Dramaturgie: Barbara Noth.
Mit: Stefan Walz, Julia Meier, Konstantin Rickert, Alexander Peiler, Luise Kinner, Martin Petschan, Kevin Wilke.
Premiere am 19. September 2020
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause
www.schauspiel-wuppertal.de
Überzeugende Bilder liefere der Regisseur, so Monika Werner-Staude in der Westdeutschen Zeitung (21.9.2020). Mit viel Fantasie und Unterhaltungsknowhow werde der Klassiker entrümpelt, so dass er kaum wiederzuerkennen sei, "präsentieren ihn als teilweise lose anmutende Aneinanderreihung skuriler, abstoßender, hysterisch-absurder, aber auch kitschig-schöner Szenen."
Eine Aufführung mit Fantasie, Witz und großen Bildern, so Stefan Keim in Mosaik auf WDR 3 (21.9.2020). Gesine Danckwarts Neuübersetzugn wechsle mit viel Sprachgefühl und Lust an der Pointierung zwischen griffigen Fomulierungen und poetischen Momenten. Die Inszenierung werde auch zu einer Reflexion über Theatermachen in Zeiten der Pandemie, aber da bleibe sie nicht stehen, die Liebenden spielen sich frei und werden immer leidenschaftlicher.
"Was das siebenköpfige Ensemble und sein wagemutiger Regisseur in einem extrem puristischen Bühnenbild (Dominik Freynschlag) aus dieser 'uralten' Geschichte machen – das ist zutiefst beeindruckend“, schreibt Stefan Seitz von der Wuppertaler Rundschau (23.9.2020). "Nicht nur, dass sich die Musik, die den Bogen von Klassik bis zu treibenden Beats aus dem Power-Aerobic-Studio spannt, wunderbar einfügt. Nein – hier entsteht eine Shakespeare-Interpretation, die die Mittel moderner Schwarz-Weiß-Videotechnik genauso konsequent nutzt, wie die schauspielerische Reduktion auf die unsterbliche Sprache der Liebenden."
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