Die Krise der Herrscher

von Rainer Nolden

Trier, 21. Februar 2015. Der Orchestergraben vor der Bühne ist zu einem schmalen Gang geschrumpft. Unentwegt schieben sich Menschen hindurch, in beide Richtungen und dennoch ziel- und orientierungslos. Ein Fluchttunnel für Kriegsgeschädigte oder Terroristen, ein Schützengraben für welche Armee auch immer? Oder nur die Senke vor dem Palast des Agamemnon, dessen Bewohner sich das lästige Volk vom Hals halten wollen? Denn das Haus, bevölkert von einer Familie zum Fürchten, hat bekanntermaßen einiges zu verbergen – Mord und Totschlag, blutige Fehden, Hass, der Hass gebiert, Rache, auf die Rache folgt. Ein Ende ist nicht abzusehen. Die "Orestie" des Aischylos in unseren Tagen – als wär's ein Stück von den Brandherden im Nahen und nicht ganz so nahen Osten, die Tag für Tag einen Gutteil der weltweiten Nachrichtenzeit für sich beanspruchen.

Königspalast in Untergangsgrau

Genau diese Situation war es auch, die Alexander May bewogen hat, dieses 2500 Jahre alte und brandaktuelle Drama in Trier auf die Bühne zu bringen. Als Vorlage hat er mit Peter Oppermann die neunstündige Fassung von Peter Stein genommen und um gut Dreiviertel gekürzt. Was nicht zum Nachteil des Abends ist: In diesen zweieinviertel Stunden Spielzeit ist die Handlung zu einem Höchstmaß an Spannung verdichtet, die nicht zuletzt aus der aggressiv-ungeduldigen Stimmung des "Volkes" entspringt, das nicht nur vom Krieg die Nase voll hat, sondern auch die Herrscher am liebsten in die Wüste schicken würde.

dieorestie2 560 theatertrier uKriegsheimkehrer: Tim Olrik Stöneberg als Agamemnon mit Barbara Ullmann als
Kassandra, beäugt von Sabine Brandauer (Klytämnestra) und Lutz Faupel (Aigisthos)
© Theater Trier

Die Atmosphäre mithin: untergangsgrau wie Gerd Friedrichs Bühnenbild, dessen monumental-wuchtige, an Zementblöcke erinnernden Elemente von rot-weißen Absperrbändern umgeben sind. Hier ist ein Tatort, den man besser nicht betritt. Seit zehn Jahren sinnt Klytämnestra hinter diesen abweisenden Mauern auf Rache für den Tod ihrer Tochter Iphigenie, die der Gatte Agamemnon zwecks Bitte um günstige Winde für die Kriegsfahrt nach Troja geopfert hat. In der Zwischenzeit tröstet sie sich, in sexy Corsage und duftigem Negligé mehr Hure als Herrscherin, mit dem Lover Aigisthos. Dass dieser auch das Zeug zum Luden hätte, zeigt sich bei Agamemnons Rückkehr von der Front mit seiner Beute Kassandra im Schlepptau: Als die Hellseherin vom bevorstehenden Schicksal spricht, traktiert Aigisthos sie auf brutalste Weise – und tritt, im wortwörtlichen Sinne, die Wahrheit mit Füßen. Die stirbt ja auch in jedem Krieg zuerst – in diesem Fall zeitgleich mit Agamemnon, beide gemeuchelt von Klytämnestra.

Rachedurst und demokratisches Recht

Erste Brüche in der familiären Gewaltenfolge zeigen sich allerdings mit dem Auftritt der Geschwister Elektra und Orest. Die rächen zwar den Tod des Vaters, indem sie die ehebrecherische Mutter samt Liebhaber beiseiteschaffen, aber Orest ist dabei bereits von ersten Zweifeln an seinem Tun geplagt. Dennoch muss er seine Sohnes- und Familienpflicht erfüllen: Auge um Auge, Zahn um Zahn. So könnte es endlos weitergehen, denn die Erynnien warten schon auf ihren Auftritt, um Orest zu zerfleischen – doch dann tritt die Göttin der Weisheit auf, Athene, die quasi im Handstreich eine revolutionär moderne Gerichtsbarkeit etabliert und die Bürger über Orests weiteres Schicksal entscheiden lässt. Der Rest ist bekannt – und in Trier doch ganz anders.

Denn die funktionierende Demokratie, die Aischylos als Blaupause im letzten Teil seines Jahrtausenddramas entwirft, entlarvt Regisseur Alexander May als das, was sie – vor allem vor dem Hintergrund unserer blutigen Gegenwart – in Wirklichkeit ist: eine Utopie. Dafür bedient er sich der Mittel aus dem Repertoire der quietschbunten Comics: Apollon und Athene, die aus ihrem Götterhimmel direkt mitten hinein in die Agora schweben, sind gekleidet wie Spiderman und Spiderwoman, in babyblauen beziehungsweise goldglänzenden Ganzkörperanzügen. Nicht vorteilhaft für die Figur, aber eindeutig in der Botschaft: Die beiden vermeintlichen Heilsbringer kann man – leider – nicht ernstnehmen. Mithin sind ihre Bemühungen, das griechische Massaker ein für allemal zu beenden, etwa ebenso von Erfolg gekrönt wie Merkels und Hollandes Gespräche mit Putin.

Welt voll gezeichneter Abenteurer

Und wenn das Volk bei der Abstimmung über Orests Schuld zu einem Unentschieden kommt und Athene mit dem letzten verbliebenen Stimmstein für Orests Freispruch sorgt, so erlaubt sich May eine weitere Freiheit: Orest legt nach der Entscheidung – im Gegensatz zur Vorlage – selbst Hand an sich. Mit einem wackeligen Urteil alt werden mag er nicht.

Jan Brunhoeber spielt diesen Orest in allen Abstufungen vom Rachedürstigen bis zum Zweifler, eine ganzen Körpereinsatz verlangende Leistung – inmitten eines Ensembles ohne Schwachstellen, in dem Sabine Brandauer als Klytämnestra, Alina Wolf als Elektra, Tim Olrik Stöneberg als Frontschwein Agamemnon, Daniel Kröhnert, Christian Miedreich und Marvin Rehbock als Chor der Ältesten sowie Barbara Ullmann und Klaus-Michael Nix als Dea und Deus ex machina brillieren. Eine Welt voll gezeichneter Abenteurer. Für den bemerkenswerten Soundtrack, irisierend zwischen orientalisch und bedrohlich, sorgt Maria Kulowska auf dem E-Cello.


Die Orestie
von Aischylos
Regie: Alexander May, Bühne: Gerd Friedrich, Kostüme: Carola Vollath, E-Cello-Begleitung: Maria Kulowska, Dramaturgie: Peter Oppermann.
Mit: KIaus-Michael Nix, Sabine Brandauer, Marvin Rehbock, Tim Olrik Stöneberg, Barbara Ullmann, Lutz Faupel, Jan Brunhoeber, Alina Wolff, Daniel Kröhnert, Christian Miedreich, Jasaman Roushanei.
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, eine Pause

www.theater-trier.de

 

Kritikenrundschau

Im Trierischen Volksfreund (22.2.2015) schreibt Eva-Maria Reuther, den Regisseur gelinge gerade im ersten Teil "eine ungeheuer dichte Inszenierung. May macht ebenso ergreifend wie beklemmend das Wesen des Tragischen erfahrbar." Er zeige, dass es kein einfaches Gut und Böse gebe. Doch die Beklemmung werde nicht über die Pause gerettet. "Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Mischung aus Theatralik und Komik zu schrill daherkommt und die Verzweiflung zu dick aufträgt."

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