Menetekel der Empathielosigkeit

14. April 2024. Das berühmte Buch von Ágota Kristof erzählt in karger und minimalistischer Sprache von zwei Kindern im Krieg, die sich ihre eigene, schonungslose Wertewelt errichten. Johanna Schall bringt den Stoff jetzt als dramatische Reportage über Entmenschlichung und Empathieverlust atmosphärisch stark auf die Bühne.

Von Michael Bartsch

"Das große Heft" nach dem Roman von Ágota Kristóf am Theater in der Altmark, Stendal © Nilz Böhme

14. April 2024. Wann und wo erlebt man schon, dass eine Intendantin nach der Premiere auf die Bühne tritt und die Inszenierung als "einzigartig" und als eine lobt, "die Theatergeschichte schreiben wird"? Dorotty Szalma, vor zwei Jahren von Zittau nach Stendal gewechselt, verknüpfte damit Eigenlob mit innigem Dank an das Ensemble und an den Geist des Zusammenhalts am Theater der Altmark.

Denn diese Premiere "Das große Heft" nach dem Roman von Agota Kristof löste am Haus schon deshalb Genugtuung aus, weil ihr zweiter Anlauf endlich glückte. Am 27. Januar musste die Premiere abgebrochen werden, weil drei Schauspieler im ersten Teil durch einen Unfall im Gesicht verletzt und im Krankenhaus behandelt wurden. Die Ermittlungen dazu dauern noch an.

Dramatische Reportage

Wüsste man nichts von dieser Zäsur, wäre der Inszenierung von Johanna Schall keine Belastung anzumerken. Den Rezensenten belastet eher der sich permanent aufdrängende Vergleich dieser Stendaler Bühnenfassung mit der von Ulrich Rasche am Dresdner Staatsschauspiel 2018. Im Folgejahr gehörte dessen Inszenierung sogar zu den zehn für das Berliner Theatertreffen nominierten. Symbolisch und metaphorisch aufgeladen, ja überfrachtet, im permanenten Stampfen und Dröhnen strapaziös für Akteure und Zuschauer, physisch ebenso wie mental.

Johanna Schall, die den teils manierierten Theaterbetrieb in Berlin und anderswo wahrlich kennt, präsentiert in ihrer ersten Arbeit am Theater der Altmark eine völlig andere Annäherung an den Romanstoff. Beide Fassungen veranschaulichen aber gemeinsam, wie heikel Verstückungen literarischer Vorlagen nach wie vor bleiben, welche dramaturgischen Seiltanzkünste nicht genuin dramatisch angelegte Stoffe herausfordern.

Tanzen in einer heillosen Welt: Auf der Bühne von Mark Späth © Nilz Böhme

Überhöhungen, Forcierungen, Transformationen in Meta-Ebenen liegen diesem Konzept fern. Dicht an der Romanvorlage entlang erlebt man eine Art dramatischer Reportage über die Entmenschlichung von Menschen im Krieg, überwiegend nüchtern und faktisch berichtet, nur gelegentlich auf eine emotional reflektierende und damit zugleich bewältigende Ebene wechselnd. Eine Bühnenerzählung, auf die die Redewendung "schlicht und ergreifend" passt.

Strickleitern ins Nichts

Das Bühnenbild, das nicht wechselt, zeigt in dieser Konstanz dennoch einen provisorischen, heillosen Ort, halbleer und disfunktional. Das Haus der Großmutter gleicht einem Bretterverschlag aus den herumliegenden Fragmenten von Holzpaletten. Aus Stahlrohrgestellen streben unbenutzte Strickleitern irgendwohin nach oben ins Nichts des Schnürbodens. Hinten warten einige Theatersessel auf die Stunde ihres Vorrückens ins Bühnenzentrum.

In die vermeintliche Obhut dieses Milieus liefert die Mutter ihre beiden Zwillingssöhne bei der Großmutter ab, um sie vor den Schrecken des Zweiten Weltkrieges zu retten. Doch Grenze und Front liegen auch hier nicht fern. Das Klima ist rau und brutal. Die Oma nennt ihre Enkel Hundesöhne, aber Katrin Steinke spielt sie so, dass man ihre Härte und Schroffheit als ein Resultat eigener Schmerzen und Demütigungen begreift.

"Man muss töten können"

Die Zwillinge entwickeln als Kinder und Jugendliche hier Eigenschaften, die wir heute positiv besetzen: Renitenz und Resilienz. Unter den Kriegsbedingungen bedeutet das Flagellantentum, Selbstkasteiung und Selbsterziehung zu größtmöglicher Teilnahmslosigkeit. Viel zu erwachsen im schlechten Sinn wirken Susan Ihlenfeld und Lukas Franke, wobei die weibliche Besetzung keinerlei verkrampften Genderansatz erkennen lässt. "Wir spielen nie", lautet einer ihrer Schlüsselsätze. "Man muss töten können, wenn es nötigt ist", postuliert ihre Oma.

Das grosse Heft 4 NilzBoehmeAtmosphärische Aufladung, bedrohtes Leben: daa intensiv aufspielende Ensemble © Nilz Boehme

Assoziationen zu den traumatischen Folgen des russischen Überfalls auf die Ukraine oder zur Eskalation des Hasses im Nahen Osten liegen nahe. Johanna Schall stellt aber auch heraus, dass die Szene am neuen Aufenthaltsort der Zwillinge unabhängig vom Krieg eine latent menschenverachtende ist. Die "gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit", wie die Soziologen sagen, kippt plötzlich in die Gegenwart. "Fidschis", "Ossis" oder "Kameltreiber" sind die Gehassten. Der hereingebrochene Weltkrieg erklärt sich so auch aus allgemein(un)menschlichen Grundanlagen, ein Menetekel.

Entsetzlichste Todearten

Nur selten bricht sich ursprüngliche Lebenslust ihre wilde Bahn. Von sexuellen Kompensationen wird nur beschreibend berichtet, wie die Inszenierung überhaupt jede Drastik vermeidet und nur auf das Wecken von Assoziationen beim Publikum setzt. Fast nachrichtlich ereignen sich die entsetzlichsten Todesarten, verbrochen auch von sowjetischen angeblichen "Befreiern". Manche Lieder passen, etwa "Ja Soldat", bei anderen wie bei "My Generation" von The Who fragt man sich, was es soll.

Solch ein Episodenfilm auf der Bühne verlangt selbstredend häufige Kostüm- und Rollenwechsel, entsprechend der Serie der von den Zwillingen verfassten Aufsätze im Tagebuch-Heft. Diese Übergänge haben Regie und Dramaturgie organisch gelöst. Nicht nur wegen des überstandenen Malheurs applaudierten die rund 500 Zuschauer intensiv.

 

Das große Heft
nach dem Roman von Ágota Kristóf
Bühnenfassung und Regie: Johanna Schall, Ausstattung: Mark Späth, Musik und an der Gitarre: Elias Weber, Dramaturgie: Roman Kupisch
Mit: Susan Ihlenfeld, Lukas Franke, Katrin Steinke, Jules Armana, Hannes Liebmann, Alexandra Sagurna, Kerstin Slawek, Siri Wiedenbusch, Paul Worms.
Premiere wg Unfall abgebrochen am 27.1.2024, nachgeholt am 13.4.2024
Dauer 2 Stunden 10 Minuten, eine Pause

www.tda-stendal.de

 

Kritikenrundschau

"Johanna Schall vermittelt dem Zuschauer das Gefühl, dass die Aussagen dieses Antikriegsromans nur mit dem 'Holzhammer' vermittelt werden können", schreibt Thomas Pfundtner in der Altmark Zeitung (16.4.2024) und fragt: "Muss Gewalt in aller Exzessivität – sprachlich und spielerisch – ausgelebt werden?" Dem hervorragenden Schauspieler-Team wäre es auch ohne die drastischen Elemente gelungen, das Thema über den Bühnenrand hinaus zu transportieren, so Pfundtner. Sehenswert sei die Inszenierung, weil Johanna Schall von der Ausstattung bis zur Beleuchtung alle Möglichkeiten des Theaters an der Altmark genutzt habe. Ob "Das große Heft" ein großer Wurf sei und auch beim Publikum ankomme, werde sich ind er nächsten Spielzeit zeigen, wenn die Inszenierung wieder aufgenommen werde.

 

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