Aus dem Leben eines Taugenichts - In Dresden schlendert Jan Gehler durch Joseph von Eichendorffs Aussteiger-Novelle
Ich bin dann mal harmlos
von Ralph Gambihler
Dresden, 6. Dezember 2012. Romantik! Und dann auch noch Eichendorffs heiter-herziges Erzählmanifest zum Thema Aussteigen! Das sieht erst einmal nach einem eher langen Bart aus. Einerseits. Andererseits könnte das ein voreiliger Schluss sein. Denn ist es wirklich so uninteressant geworden, dieses Nebeneinander eines naiv beschwingten Lebenshungers und der wahrscheinlich friedlichsten Rebellion, die es gibt, nämlich Gehen und Ausbrechen in die Welt? Und ist nicht die lässige Abgeklärtheit, mit der wir Gelegenheits-Globetrotter des 21. Jahrhunderts über eine sechsmonatige Auszeit in Asien oder anderswo liebäugeln, genau genommen eine modische Attitüde, mit der wir uns über das wahre Ausmaß der Träume, Sehnsüchte und Ängste, die mit einem solchen Schritt verbunden sind, hinwegtäuschen? Und die Frage der Freiheit, die sich mit der Figur des Taugenichts unweigerlich stellt, ist die wirklich schon so erledigt?
Dergleichen mag sich Jan Gehler gedacht haben, der junge Regisseur der Dresdner Eichendorff-Erkundung. Und womöglich hat er, 1983 in Gera geboren, darüber hinaus eine Vorliebe für Aussteigerstoffe. Immerhin brachte er im vergangenen Jahr bereits Wolfgang Herrndorfs Ausbüchser-Roman Tschick auf die Bühne, ebenfalls am Staatsschauspiel Dresden, erfolgreich zumal. Die Inszenierung bekam eine Einladung nach München zum Festival "radikal jung" und ihr Regisseur gewann den diesjährigen Günther-Rühle-Preis der Stadt Bensheim.
Soweit der Himmel blau ist
Also aufgebrochen. Die Bühne von Sabrina Rox ist vor allem ein weites Feld. Der Boden im Kleinen Haus 3 wurde mit einladend hellgrünen, Natur andeutenden Decken ausgelegt, die rechts etwas ansteigend und wellig an einem romantischen Landschaftsbild anschlagen. Unübersehbar: Wir sind draußen. Wir sind unterwegs. Und drinnen, das ist auch rechts, hinter Jalousien nämlich, die bisweilen hochgezogen werden und dann einen schummrig beleuchteten Wohnraum mit Klavier mehr erahnen als erkennen lassen.
Davor steht und geht nun unser namenloser Müllersohn. Der junge Mann mit dem Ich-bin-dann-mal-weg-Impuls, eher heutig als gestrig gespielt von Benjamin Pauquet, ist eigentlich sehr verliebt, sah die angebetete Aurelia aber mit einem Anderen. Deshalb und weil ihn der Vater wegen seiner notorischen Faulheit einen Taugenichts nannte, hat er alles hinter sich gelassen. Er ist barfuß und nimmt tiefe Atemzüge. Er will die Welt unter sich und in sich spüren. "Mir ist es nirgends recht“, seufzt er. "Fort muss ich von hier und fort soweit der Himmel blau ist."
Zwischen Commedia delle Arte und Literaturtheater-Étude
Des Weiteren treten auf: ein Portier, ein Wirt, Musikanten, Studenten, schöne Mädchen, alte Frauen, ein heimliches
Liebespaar, das verkleidet als Maler-Duo reist, und manche wunderliche Gestalt. Die Figuren werden im fliegenden Wechsel von Karina Plachetka, Antje Trautmann, Benjamin Höppner und Stefko Hanushevsky verkörpert. Sie stammen allesamt aus der 1826 erstveröffentlichten Novelle, die Gehler gerafft, aber völlig bruchlos als eine Art Stationendrama von Eichendorff übernimmt. Dialogische Spielszenen, die Handlung nachvollziehen und ausmalen, wechseln mit kurzen Erzählsequenzen, die alles der Imagination der Zuschauer überlassen. Die Übergänge sind fließend, die Tempi mäßig. Fremde Kontexte bleiben komplett außen vor. Die Regie bewegt sich ausschließlich in den Fußstapfen des Autors.Ja: Man braucht wohl Mut und Demut für eine derart spektakelbefreite und kommentarlose Annäherung. Leider ist nun aber alles etwas klein und harmlos geraten. Gehler will Eichendorff unplugged. Er sucht die umstandlose, minimalistische Konzentrationen auf den Stoff, verpasst dabei aber das revolutionäre Format der Hauptfigur. Der Abend plätschert deshalb über weite Strecken dahin und erschöpft sich in Regieeinfällen, die für sich genommen liebenswert sind, aber nichts retten: ein langes weißes Tischtuch etwa, das zur Serviette umfunktioniert wird – als Zeichen übergroßer Fürsorge; oder ein Medley aus garantiert roadmovietauglichen Pop-Ohrwürmern, das sie ohne Worte und Instrumente hinzaubern; oder die griechisch-römische Posen-Parodie auf Tischbeins "Goethe in Campagna". So geht es einmal nach Rom und zurück, bisweilen augenzwinkernd, irgendwo zwischen einer Andeutung von Commedia dell' Arte und einer Literaturtheater-Étude, der eine Idee und mehr Biss nicht geschadet hätte.
Aus dem Leben eines Taugenichts
nach der Novelle von Joseph von Eichendorff
Regie: Jan Gehler, Bühne: Sabrina Rox, Kostüm: Cornelia Kahlert, Musik: Johannes Birlinger, Dramaturgie: Luise Mundhenke, Licht: Andreas Rösler.
Mit: Stefko Hanushevsky, Benjamin Höppner, Benjamin Pauquet, Karina Plachetka, Antje Trautmann.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.staatsschauspiel-dresden.de
Offenlegungstatbestand: Die Übernachtungskosten für den Autor wurden vom Staatsschauspiel Dresden übernommen.
Die Regie setze auf das Konzept Nacherzählung, schreibt Sebastian Thiele in der Sächsischen Zeitung (8./9.12.2012). Was dabei fehle, sei eine Inszenierungsaussage. "Was kann uns der Eichendorff-Text heute bieten, außer Vorlage für ein romantisches Märchen zu sein?" Die weiten Assoziationsräume des Textes blieben dem Publikum verschlossen. "Passable Unterhaltung, nicht mehr."
In der Dresdner Morgenpost (8.12.2012) stellt Guido Glaner zunächst eine theaterstoffliche Verwandtschaft zwischen "Tschick" und Eichendorffs "Taugenichts" fest - und mutmaßt, dass diese Verwandtschaft der Grund sei, warum das Spiel – anders als bei "Tschick" – nicht so recht zünde. "Als habe er Furcht, sich zu wiederholen, versagt sich Gehler nahezu jeden originellen Einfall." Das Ensemble spiele gut, könne aber der "Genügsamkeit der dramaturgischen Vorgabe" nicht entkommen. "So ist diese Inszenierung nicht mehr geworden als ein Stück bewegliche Literatur."
Ein "spielerischer, witziger und klangvoller Spaziergang mit einem Helden, der behauptet, den Sonntag im Gemüt zu haben", ist dieser Abend für Bistra Klunker von den Dresdner Neuesten Nachrichten (8./9.12.2012). Benjamin Pauquet sei als Taugenichts "in seiner Unbekümmertheit einfach nur sympathisch". Der "episodenhafte Charakter der Novelle" werde von der Regie "gekonnt in übergreifende Szenen umgesetzt und mit spaßigem Beiwerk gespickt". Das Happy End, das "aus heutiger Sicht, milde gesagt, haarsträubend naiv und plakativ" wirke, sei "durch Situationskomik erträglich gemacht".
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setze ich Thomas Mann hinzu:
...ich meine den "Taugenichts", Joseph von Eichendorffs wundersam hoch und frei und lieblich erträumte Novelle, die wir alle in unserer Jugend gelesen haben und von der uns all die Zeit her ein feiner Saitenklang im Herzen nachgeschwungen hat.