Fast Forward - Staatsschauspiel Dresden
Entschleunigung nach vorn
von Michael Bartsch
Dresden, 19. November 2019. Der Festivaltitel "Fast Forward" suggeriert Sturm und Drang. Aber zumindest dieser neunte Jahrgang war doch überwiegend von Entschleunigung geprägt. Ein bemerkenswerter Kontrast zur Teilrebellion des klima-, ja zukunftsverängstigten Nachwuchses gerade in diesem Jahr 2019. Jugend an sich ist noch kein Synonym für Ungestüm und schon gar nicht gleichbedeutend mit Avantgarde. Das lehrt auch dieses Theaterfestival.
Seit 2011 hat "Fast Forward" erklärtermaßen die junge Regie, das junge Theater im Fokus. Intendant Joachim Klement brachte das Festival 2017 bei seinem Wechsel an das Dresdner Staatsschauspiel von Braunschweig mit. Die Absicht ist nur zu loben, als subventioniertes Staatstheater auch der freien und Off-Szene ein größeres Podium und Talenten eine Chance zur Entdeckung zu geben. Um Resonanz muss Klement auch im vergangenheitstrunkenen Dresden nicht fürchten. Die acht Festivalbeiträge – an vier Spielstätten jeweils zweimal präsentiert – waren überwiegend ausverkauft. Das Publikum entspricht genau der Zielgruppe, gefühlt im Durchschnitt unter 30 und damit manchmal noch jünger als die Akteure, eine Mischung von Insidern und Interessenten, europäisch, aufgeschlossen und durchaus amüsierfreudig. Ja, auch ambitioniertes Theater darf Freude machen.
Von Beginn an fungiert Charlotte Orti von Havranek als Kuratorin. Sie reist durch Europa, schaut und wählt aus. Nicht nach vorgefassten Kriterien, wie sie erklärt, eher mit Blick auf unterschiedliche Arbeitsweisen und Adressierungen, besonders die Kollektivität der Produzenten betreffend. Vielfalt ist gewünscht, und so kommt in dreieinhalb Festivaltagen eben ein wenig aufgeräumter Gemischtwarenladen heraus. Als Hauptpreis winkt eine Inszenierung am Dresdner Staatsschauspiel. Es ist noch keine zwei Wochen her, dass der Preisträger von 2016, der Georgier Data Tavadze, am Kleinen Haus eine beeindruckende Fassung von Anna Segher's Roman “Transit“ vorstellte.
Theatrum mundi oder Selbstbespiegelung?
Nach den Erfahrungen der ersten beiden Dresdner Festivaljahrgänge drängte sich eine Zweiteilung der gesehenen Arbeiten auf. Solche, die am Großen und Ganzen leiden, beinahe wie in einem Theatrum mundi den tiefen Zusammenhängen nachgehen. Und solche meist Ein- oder Zweipersonenstücke, die um sich selbst kreisen und über den Mikrokosmos hinaus kaum assoziative Wirkung entfalten. Kuratorin Orti mag eine solche Teilung nicht gelten lassen, sieht auch in den Selbstbespiegelungen den Einfluss des gesellschaftlichen Umfeldes. "Das ist eigentlich eine Generation, die dieses 1968er Thema, dass das Private das Politische sei und umgekehrt, neu bearbeitet“, gibt sie zu bedenken.
Als dritte Kategorie müsste eigentlich das im Vorjahr noch eindrucksvoll präsente dokumentarische Theater benannt werden. Aber 2019 ging nur der slowenische Beitrag von Ziga Divjak in diese Richtung. 70 Minuten lang trotteten drei Vertreter des Prekariats, drei moderne Leiharbeiter-Sklaven, in einem Göpel im Kreis, eine unerbittliche Maschine bis zur Erschöpfung antreibend. Sie berichteten dabei eindringlich von unmenschlichen Arbeitsbedingungen wie in der Frühzeit des Kapitalismus bei Stundenlöhnen von 3,80 Euro und 300 Arbeitsstunden im Monat.
Herrschaftsallüren aus Prag
Großes und zupackendes Theater bot eigentlich nur der tschechische Eröffnungsbeitrag "Vladar", deutsch "Herrscher". Fünf junge, vitale, auch sängerisch begabte und äußerst bewegliche Männer machen sich ihren Reim auf Machiavellis berüchtigtes Werk "Il Principe", die zynische Anleitung für absolutistische Herrscher aus dem Jahr 1513. Angeleitet hat die Stückentwicklung eine Frau, die gerade erst ihren Master als Regiestudentin abschließende Anna Klimesova.
Mit dem an unseren tschechischen Nachbarn so schätzenswerten hintersinnigen Humor werden die immergleichen Herrschaftsallüren, die Königsmorde und der anscheinend ewige Zyklus des Scheiterns ihrer jeweiligen Nachfolger aufs Korn genommen. Eben noch verehrt, sind ihre Abbilder im nächsten Moment schon Zielscheibe für Tomatenwürfe. Schwanenengesänge werden intoniert, wie überhaupt häufig satzsicher und gekonnt gesungen wird, darunter einige vertonte Thesen Machiavellis. "Mein Blut soll Euer Glück festigen", verklärt sich einer zum Märtyrer.
Eine parallele Ebene spielt mit dem Theater auf dem Theater und mit dessen herrschaftlicher Inbesitznahme durch die fünf Prager Gäste, konkret und geistreich mit der Übernahme des Dresdner Kleinen Hauses. Am Ende setzt sich nach dem Spott über versuchte Weltfriedensverträge doch noch eine dicke Moral durch, wieder konkret an das Jahr 1989 in eben diesem Kleinen Schauspielhaus anknüpfend. Fast eine Publikumsbeschimpfung, denn "überall seht ihr Feinde", und "die eigenen demokratischen Errungenschaften habt ihr mit Füßen getreten". Fassungslosigkeit darüber, dass die, die sich vom Kommunismus befreit haben, zu Feinden der offenen Gesellschaft geworden sind. Leider erhielt diese brillante Inszenierung "nur" den Preis des Dresdner Kulturhauptstadtbüros, ein vierwöchiger kreativer Aufenthalt in der Gastgeberstadt.
Bei der Vergabe des Hauptpreises erlag die vierköpfige Jury wohl der Vehemenz, der Authentizität und dem Charme der begnadeten französischen Rap-Sängerin Laetitia Kerfa. Gemeinsam mit der ebenbürtigen Litefeet-Tänzerin Janice Bieleu performte sie "Du Sale!", im englischen Untertitel "Real Shit". Letztlich auch wieder biografisch von Erfahrungen in den Pariser Banlieus inspiriert, war hier doch Rebellion gegen ein destruktives Umfeld, gegen Verlogenheit und Spießigkeit zu spüren. "Normalität tötet mich", verkündete sie. Worin der besondere Einfluss von Regisseurin Marion Siéfert auf diese für sich selbst sprechende Doppelperformance bestand, wird nicht deutlich. Mit Deutschland durch ihr Studium vertraut, wird die Preisträgerin jedenfalls in Dresden inszenieren dürfen.
Neandertaler-Psychosen
Sonst aber dominierte eher narzisstische Nabelschau. Auch beim Publikumspreisträger Louis Vanhaverbeke mit der One-Man-Show "Mikado Remix". Sie beginnt interessant mit Selbstwahrnehmungstests in der Hermetik einer nur von der Videokamera erfassten Zelle, verflacht dann aber. Der Belgier ist zweifellos ein guter Rapper, aber auch ein selbstverliebter Bastler. Seine Spielchen mit rotierenden Leinwänden, soundtriefenden Plastikkästen, einem monstranzartig erhöhten Waffeleisen oder die per Video übertragenen Radfahrten vor dem Festspielhaus Hellerau gefielen offenbar dem Publikum.
Das spendete wiederum beim deutschen "Medea"-Beitrag nur Pflichtbeifall. Die wortlose pantomimische Reduktion des antiken Stoffes auf üblichen modernen Familienknatsch in einem transparenten Eigenheim ist zwar ein ästhetisches Experiment, eröffnet aber keine neue Dimension. Etwas mehr "Fast Forward"-Tempo und humorvollen Hintersinn bot der britische Beitrag "One". Er beschreibt einen subtilen Machtkampf zwischen zwei Männern. Sie brauchen, ja sie lieben sich und ziehen einander doch im Wortsinn über den Tisch, suchen sich im Publikum Verbündete für ihre Durchsetzungsabsichten.
Die größte Verwirrung lauerte schließlich auf der Hinterbühne in Hellerau. Man traut seinen Augen kaum, aber wie zu Hochzeiten naturalistischer Kulissen ist eine aufwändige Neandertalerhöhle mit richtigem Feuer aufgebaut. Im magischen Raum dahinter erscheint noch naturalistischer ein orgelspielendes und mit einer nicht ganz intonationssicheren Countertenorstimme singendes Mammut. Das Publikum glaubte zunächst an einen Gag, als der in Felle gehüllte, aber mit Armbanduhr ausgestattete Malte Scholz dann auch noch von seinen "Great Depressions" zu erzählen begann. Irrtum, gemeint war tatsächlich die öffentliche Selbsttherapie einer gespaltenen Persönlichkeit. Solcher Kitsch fällt also auch unter "Junge Regie"? "Fast Forward" ist eben auch dank seiner Entschleunigungen ein denkbar vielseitiges Festival.
Fast Forward
Europäisches Festival für junge Regie
14. bis 17. November 2019
www.staatsschauspiel-dresden.de
Mehr dazu: die Fast-Forward-Preise 2019.
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Ich bemerke wohl, daß sich Herr Bartsch bemüht, gegenüber den Regiezugriffen wenigstens freundlich zu bleiben, lese aber auch eine gewisse Hilflosigkeit, angesichts der gezeigten Arbeiten, aus dem hier veröffentlichten Text heraus. Ob diese nun ausschließlich Aufforderung an die junge Regie sein muß, sich lesbarer zu machen in ihren Produktionen, oder nicht auch ein Auftrag an die Kulturkritik im allgemeinen sein muß, nicht mit dem lesen lernen aufzuhören, ist doch mindestens fraglich. Dem Festival für junge Regie jedenfalls wäre mit einem stetigen Workshop zur jungen/zeitgenössischen Kritik jedenfalls durchaus geholfen und mir als Leserin sowieso.
"Knecht Jernej" ebenfalls sehr beeindruckend, ein großer Sog mit einem sorgfältigen Text und mehr Authentizität, Schweiß und Arbeit, als bei anderem "Maschinen/Fließbandtheater" entsteht.
Die Einschätzung zu "Great Depressions" kann ich teilen, stark war vor allem der Umgang mit Zeit und Raum, mit dem Skurilen: Höhle, Mammut, Orgel, Steinzeitband. Der Zusammenhang hat sich leider nie hergestellt und insofern wird dieses Stück vermutlich mir vor allem wegen seiner vielen Fragezeichen in Erinnerung bleiben.
Die Fahrt nach Dresden hat sich gelohnt.