Kinder der Sonne - Staatsschauspiel Dresden
Schatten auf den Sonnenkindern
von Michael Bartsch
Dresden, 8. Februar 2020. Selten ergibt sich die Gelegenheit, in einer Stadt innerhalb von knapp drei Wochen zwei völlig unterschiedliche Inszenierungen desselben Stückes zu sehen. Beim "Karussell"-Festival zeitgenössischer russischer Kunst im Festspielhaus Hellerau gastierte auch das legendäre "Rote Fackel"-Theater aus Nowosibirsk. Regisseur Timofej Kuljabin zeigte in Maxim Gorkis "Kinder der Sonne" Psychogramme und Gruppendynamik in einem Kammerspiel der Stanislawski-Art, freilich auch mit politischen Bezügen zur beginnenden Putin-Ära.
Grimmiges Lachen
Man mag das für anachronistisch halten, aber ohne diesen Vorlauf hätten sich subtilere Beziehungen innerhalb der handelnden Akademikerclique in der Staatsschauspiel-Inszenierung von Laura Linnenbaum nur mühsam erschlossen. Die junge, erst 33-jährige Regisseurin sorgte vor drei Jahren mit dem hinreißenden Multi-Kulti-Stück "Homohalal" im Kleinen Haus für Furore. Bei ihrer Arbeit am Gorki-Stoff aber kann sie sich nicht recht entscheiden zwischen Komödie, Großfamiliendrama und Gesellschaftskritik.
Maxim Gorki schrieb "Kinder der Sonne" während einer vierwöchigen Haft nach dem Petersburger Blutsonntag 1905. Während dieser Arbeit soll er lauthals gelacht haben, ein grimmiges Lachen offenbar. Denn er beschreibt die bourgeoisen Kreise als Auslaufmodell, als ignorant gegenüber den sich draußen in Gestalt einer Choleraepidemie oder des proletarischen Aufruhrs zusammenbrauenden Gefahren. Sie kreisen um sich selbst, vermögen dabei weder ihre Beziehungskonflikte zu lösen noch einen Weg zu sich selbst zu finden. Ganz zu schweigen von einer aktiven Wahrnehmung der vermeintlich peripheren Außenwelt.
Agile Untergeher
Die mit variablen Geschwindigkeiten kreisende, leuchtende Drehbühne von Valentin Baumeister gibt deshalb das stimmigste Bild dieser Dresdner Fassung. Darüber hinaus genügen einige Stühle als Bühnenobjekte. Schlüssig hält sich die Zentralfigur Pawel Fjodorowitsch Protassow auch meist im Mittelpunkt dieses Kreises auf. Er ist ein besessener Chemiker, ein Workaholic, der für seine Formeln die Welt einschließlich seiner nächsten Umgebung vergessen kann. Auf einem Stuhl stehend, proklamiert er schwärmend seinen Glauben an die heilsbringende Funktion der Wissenschaft, weshalb er und seinesgleichen zu den Kindern der Sonne gezählt werden müssten. Diesen nicht unsympathischen Typ aus dem Elfenbeinturm trifft Oliver Simon recht gut. Er erinnert dabei an den "reinen Toren" und seinen Wiedergänger Peter Holz von Ingo Schulze, der tags zuvor auf die Dresdner Premierenbühne kam.
Pawel versteht man gleich, wie er beständig etwas auf den Drehboden notiert. Aber was um ihn herum passiert, erschließt sich in einem langen und recht flachen Exposé der Figuren nur schwerfällig. Dass Lisa depressiv und weltschmerzkrank ist, muss sie spät erst selbst bekannt geben, so munter springt sie über die Bühne. Ihre tragische Affinität zum Tierarzt Boris kann man lange nicht einmal ahnen, und auch bei dessen Vitalität mag man nicht für möglich halten, dass er sich aus Einsamkeit und Unerfülltheit erhängen wird – das heißt, Jacke und Weste an einen vom Schnürboden herabgelassenen Haken hängen wird. Dass die reiche Jungwitwe Melanija in Pawel Protassow die letzte Hoffnung auf Sinnstiftung in ihrem Leben sieht, wird nie deutlich. Und Maler Dimitrij, der mit Pawels unerfüllter Frau Jelena anbandelt, ist ein nicht ernst zu nehmender Kasper, der zu seiner verstimmten Ukelele dilettantische Sprechgesänge wie einst Kaiser Nero anstimmt.
Slapstick im weiten Nichts
Die Liebesgeständnisse kommen dann ziemlich holterdipolter, viel verändern sie am Beziehungsgefüge nicht. Zweimal gibt es aber eine Art Pas de deux zwischen Liebenden, der jeweils berührt und atmosphärisch gelungen ist. Allzu deutlich hat Laura Linnenbaum über weite Strecken Gorkis Stück als Lustspiel interpretiert – zu Lasten des Tiefgangs. Der Duktus gerät zuweilen amerikanisch, und einige Gags wie der mit der langen Stehleiter erinnern eher an Laurel und Hardy.
Beim Betrachter grummelt ständig der empfundene Widerspruch zwischen einer kammerspielartigen, ja hermetischen Anlage des Stücks und der Weite, ja Leere der Bühne. Man mag das als Verlorenheit deuten. Die Außenwelt bricht jedenfalls auch in dieser Inszenierung nur in Gestalt des Schlossers Jegor herein. Nur für Kenner ärgerlich ist die teils falsche Betonung der russischen Namen. Kaum zu deuten ist der Stilmix der Kostüme, der von Anklängen an eine Adelsgouvernante bis zum eng sitzenden Manager-Maßanzug reicht.
Die Inszenierung erscheint insgesamt ort- und zeitlos – mit einer Ausnahme. Gegen Ende schleichen sich schwarz gekleidete Kinder in die Szene ein. Nach dem Schlussknall, als der rebellierende Jegor erschossen daliegt, sammeln sie sich an der Rampe für den einen pathetischen Satz: "Hört auf, über die Zukunft zu reden, wenn es um unsere Gegenwart geht!" Komparserie aus der "Fridays for present" – Bewegung also.
Kinder der Sonne
von Maxim Gorki
Regie: Laura Linnenbaum, Bühne Valentin Baumeister, Kostüme: David Gonter, Musik: Lothar Müller, Dramaturgie: Katrin Breschke.
Mit: Oliver Simon, Birte Leest, Karina Plachetka, Raiko Küster, Viktor Tremmel, Anna-Katharina Muck, Philipp Grimm, Yassin Trabelsi, Helga Werner, Fanny Staffa.
Premiere am 8.Februar 2020
Dauer 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause
Staatsschauspiel Dresden
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Laura Linnenbaums beste Idee ist tatsächlich das großartige Bühnenbild von Valentin Baumeister. Die von unten beleuchtete Drehbühne ist ein Auge aus Licht, und wenn Protassow zu Beginn mit erhobenen Händen in den Schnürboden fleht und von dort inspiriert eine Zahlenfolge von Nullen und Einsen auf den leuchtenden Boden kritzelt, so denkt man neben Platons Höhlengleichnis auch unwillkürlich an "1984". Forscht da einer an der "schönen neuen Welt" künstlicher Intelligenz? Sucht er nach dem Ursprung des Menschseins, weil er durch Mikroskop und Reagenzglas den "neuen Menschen" formen will? Das wäre konsequent, denn 1905 galt die Chemie als Leitwissenschaft, während es heute die Informatik ist. Leider verschwindet dieser eigenständige und interessante Ansatz im inszenatorischen Nichts. Laura Linnenbaum belässt die "Kinder des Lichts" im bürgerlichen Milieu der Künstler, Wissenschaftler, Privatiers und Geschäftsleute - mithin: uns, dem Theaterpublikum - und identifiziert die harte, unbarmherzige Lebenswirklichkeit des Schlossers Jegor - in ungezügeltem Furor und von inneren Zwängen getrieben sehr eindrücklich gespielt von Yassin Trabelsi - mit den nach und nach hinzutretenden Kinderstatisten von "Fridays for future". Und auch hier verpasst Laura Linnenbaum die Möglichkeiten ihrer eigenen Inszenierung, wenn sie das Allernaheliegendste unterlässt, Gor'kijs Aufstand der proletarischen Massen gegen das bräsige Establishment mit der revolutionären Jugend von "Extinction Rebellion" zu vergleichen. Das einzige, was ihr einfällt, ist, vom Ausbruch der Cholera an Kohlestaub als Ascheregen auf die Bühne fallen zu lassen. Cholera = Kohle, das ist der intellektuelle Höhepunkt der Inszenierung. Frau Linnenbaum scheint ihre eigenen Ideen nicht zu Ende gedacht zu haben und so verheddert sich die Inszenierung in lauter losen Enden. Dies spiegelt sich auch in der unverständlichen Szenenfolge und in der fehlenden Entwicklung der Charaktere, zu denen sich weder ein emotional-berührtes noch ein kritisch-distanziertes Verhältnis einstellen will. In dieser Indifferenz verhallt der oben zitierte Schlusssatz der Kinderstatisten im Zuschauerraum ohne jede Gemütsregung. Laura Linnenbaum bewirkt mit ihrer Inszenierung leider genau das, was Gor'kij gerade nicht wollte: dass der Zuschauer sich in seinem Sessel wohl fühlt.
Der Kritik Michael Bartschs an der schauspielerischen Leistung der Darsteller kann ich mich aus vorgenannten Gründen nur bedingt anschließen, da ich den Geburtsfehler in der undurchdaten Regie sehe.
Davor fühlte ich mich in der leicht schwülen Szene, in der ein Knabe einem Mann die zwei Hemden aufknöpft, um dann seine Zärtlichkeiten weiter am roten Tier zu vollziehen, sehr unwohl. Ansonsten Moliere pur, aber langweilig. Schade, da ich wegen Gorkis Sprache das Theater aufgesucht hatte.